Stationäre Wirtschaft
In der Wirtschafts- und Sozialgeschichte wird von statischer Wirtschaft oder stationärer Wirtschaft gesprochen, wenn über längere Zeiträume kein Wirtschaftswachstum eingeplant wurde oder nicht zu spüren war.[1][2] Während für die meisten Volkswirte eine stationäre Wirtschaft als unerwünschte Stagnation wahrgenommen wird, wird sie von Vertretern der Wachstumskritik und der wachstumskritischen Bewegung eingefordert. Im deutschsprachigen Raum werden die Begriffe Postwachstumsökonomie (ab 2006 von Niko Paech etabliert),[3][4] Postwachstumsgesellschaft (seit 2009)[5][6][7] oder kurz Postwachstum[8][9] verwendet.
Zugleich dient das theoretische Konzept einer stationären Wirtschaft als Modell, bei dem alle gesamtwirtschaftlichen Faktoren in einem langfristigen Gleichgewicht sind und sich nur noch selbst reproduzieren, also weder Bevölkerungswachstum, Kapitalakkumulation noch technischer Fortschritt vorliegt.
Geschichte
Langzeitperspektive der klassischen Ökonomen
Der Begriff des stationary state wurde zuerst von Adam Smith genannt.[10][11] Er und andere Vertreter der Klassischen Nationalökonomie fürchteten die Stationarität als unausweichlicher Endpunkt von Wirtschaftswachstum und Entwicklung, ausgelöst von Bevölkerungswachstum und abnehmenden Erträgen.[11][12] Thomas Robert Malthus beschrieb die Bevölkerungsfalle als unvermeidbare Dystopie einer Gesellschaft, in der wegen stark steigender Population die Kapitalakkumulation beendet war, aber die Bevölkerung arm sei und Schwierigkeiten hätte, die eigene Versorgung sicherzustellen.[13][14] Er begründete dies mit dem exponentiellen Wachstum der Bevölkerung bei linear wachsender Lebensmittelversorgung, so dass die ökologische Tragfähigkeit des Lebensraums überschritten würde.[11] David Ricardo hingegen problematisierte das mit dem Ende des Wirtschaftswachstums verbundene Ende der Steigerung von Wohlstand und Ressourcen einer Gemeinschaft, das er allerdings als „weit entfernt“ charakterisierte.[15][16] Sowohl Ricardo als auch Adam Smith empfahlen den Handel als Ausweg aus dem Dilemma.[1] John Stuart Mill hingegen sah im stationären Zustand einen wünschenswerten Endzustand: Er ging davon aus, dass die Menschen „im stationären Zustand zufrieden wären, lange bevor die Notwendigkeit sie dazu zwingen würde“.[17][11]
Nullwachstum als vermeidbares Problem
Der technische Fortschritt der Industrialisierung und die Nutzung von fossiler Energie zur Steigerung der Arbeitsproduktivität veränderte die Wahrnehmung des stationären Zustands der Ökonomen.[11][18][19] Die Sorgen wegen sinkender landwirtschaftlicher Erträge und der Erschöpfung nicht-erneuerbarer Ressourcen wurden beiseite gewischt, wirtschaftliches Wachstum erschien unbegrenzt.[11][12] Die Versorgung mit Nahrungsmitteln wurde insbesondere ermöglicht durch die Nutzung von Mineraldünger und Treibstoffen.[20] Diese wirtschaftliche Entwicklung wurde begleitet durch Theorien der Philosophen der Aufklärung, die Entgrenzung und Überwindung natürlicher Grenzen zu einem Wachstums- und Fortschrittsdenken verbanden.[21] Für Ökonomen ergab sich die Stagnation als unerwünscht und vermeidbar und nur noch als analytischer Spezialfall relevant.[11]
Keynes und Schumpeter
Für John Maynard Keynes[22][23] und Joseph Schumpeter[24] war der stationäre Zustand jedoch weiterhin eine wichtige Langfristperspektive.[20] Keynes sagte um 1930 voraus, dass seine Enkelkinder innerhalb der nächsten 100 Jahre das ökonomische Problem der Knappheit lösen könnten, wodurch ein „goldenes Zeitalter“ einer dauerhaften Wachstumsabschwächung eintreten würde. Für diesen Fall empfiehlt Keynes folgende wirtschaftspolitische Maßnahmen:[22][25][26][27][28][29]
- Gleiche Kaufkraftverteilung zwischen den Menschen. Ein gleiches Einkommen führt zu einer Anhebung des Massenkonsums.
- Verkürzung der Arbeitszeiten zu 15 Stunden pro Woche
- Eine höhere Steuerquote um die Infrastruktur und die öffentliche Leistungen zu unterstützen.
Schumpeter ging in seinem 1942 veröffentlichten Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie davon aus, dass bei ausbleibendem Wirtschaftswachstum der Kapitalismus durch eine sozialistische Wirtschaftsordnung abgelöst wird.
Wachstumskritik und Steady-State Economy
Mit dem Aufkommen der Wachstumskritik und der Veröffentlichung der „Grenzen des Wachstums“[30] wurde das Konzept einer stationären Ökonomie wieder verstärkt diskutiert. Die bisherige Wachstumstheorie wurde kontrastiert mit Argumenten aus der Thermodynamik wie durch Nicholas Georgescu-Roegen, der beliebiges Wachstum und dessen Entkopplung vom Ressourcenverbrauch als unmöglich erachtete.[31][32][18] Dies wird von Ökonomen kritisiert, die eine Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum für möglich halten.[20][33][34][35][36][37][38] Herman Daly entwickelte aus den Ideen seines Mentors Georgescu-Roegen das Konzept der steady-state economy, das eine konstante Bevölkerung und einen nicht mehr wachsenden Bestand an Gegenständen vorsieht, die vom geringstmöglichen Durchsatz an Materie und Energie aufrechterhalten werden.[39] Wie Mill sieht er einen großen Nutzen darin, würde die Gesellschaft das Konzept umsetzen, bevor es unausweichlich würde.[20]
Postwachstumsökonomie und -gesellschaft
Ab 2006 entwickelte Niko Paech in Deutschland unter dem Begriff der Postwachstumsökonomie ein Konzept einer nicht-wachsenden Wirtschaft. Der Kerngedanke seines Vorschlags besteht in der Aufhebung struktureller sowie kultureller Wachstumstreiber und Wachstumszwänge mittels fünf Prinzipien: institutionelle Innovationen, stoffliche Nullsummenspiele, Regionalökonomie, Subsistenz und Suffizienz.[40][3]
Ab 2009 haben Barbara Muraca[5], Irmi Seidl und Angelika Zahrnt den Begriff der Postwachstumsgesellschaft genutzt;[6][7] auch die Kurzform Postwachstum[8][9] ist gebräuchlich, um die Auswirkungen von Nullwachstum zu diskutieren. Eine nicht-wachsende Ökonomie wurde auch von Wissenschaftlern wie Tim Jackson in seinem Buch Wohlstand ohne Wachstum[41] oder Peter Victor[42] vorgeschlagen.[43]
Neben der Notwendigkeit, die politische Zielvorstellung von Wirtschaftswachstum zu überwinden, wird untersucht, in wie weit eine stationäre Wirtschaft mit den heutigen Institutionen kompatibel ist. Unter dem Begriff des Wachstumszwangs wird diskutiert, in wie weit die Geldwirtschaft[44][45][46][47] die Sozialsysteme,[6][48] die Börse,[49] die Profitorientierung der Unternehmen[7][50] oder die durch technischen Fortschritt am Arbeitsmarkt drohende Arbeitslosigkeit[48] eine Abhängigkeit von Wachstum begründen, wenn die ökonomische oder soziale Stabilität nicht gefährden werden soll. Es ist eine zentrale, umstrittene[51] Frage der wachstumskritischen Bewegung, wie diese Wachstumszwänge überwunden werden können.
Volkswirtschaftliches Modell
Paul A. Samuelson unterscheidet die Begriffe stationär als Term, der die Konstanz einer ökonomischen Variable über die Zeit beschreibt, und statisch zur Klassifizierung der Gesetze, die das Systemverhalten zeitlos beschreiben im Gegensatz zu dynamisch.[53]
Im theoretischen volkswirtschaftlichen Modell einer stationären Wirtschaft sind alle gesamtwirtschaftlichen Faktoren in einem langfristigen Gleichgewicht und reproduzieren sich nur noch selbst. Etwaige Schwankungen orientieren sich um eine Konstante, ein Trend ist nicht erkennbar. Auch wenn der Zustand der statischen Wirtschaft in der Praxis nicht auftritt, ist diese Fiktion bei der ökonomischen Diskussion des Marktgleichgewichtes, also des Gleichgewicht bei der Preisbildung insbesondere in der Neoklassischen Theorie und der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie wichtig.[54] Hier wird der Einfachheit halber angenommen, dass sich die Wirtschaft für einen kurzen Moment in einem stationären Zustand befindet, insbesondere keine technologischen Veränderungen und keine Investitionen stattfinden. Dann können für die Allokation und Verteilung die bekannten mathematischen Gleichgewichtsmodelle angewendet werden. Um Wachstums- oder Veränderungsprozesse zu beschreiben, werden dann mehrere aufeinanderfolgende Gleichgewichtszustände betrachtet und auf diese Weise das Grundmodell auch zur Beschreibung der realen, sich verändernden Wirtschaft genutzt.[55]
Konzeptionelle Gegenmodelle entstammen beispielsweise der Evolutionsökonomik, in der die Veränderungen des technischen Fortschritts betrachtet werden[56], wobei es in den meisten Volkswirtschaften allein durch eine Optimierung des Einsatzes der Produktionsfaktoren, meist einer Steigerung des Kapitalstocks und folgender Skaleneffekte, zu Wirtschaftswachstum kommt.
In einer realen, nicht-wachsenden Wirtschaft können weiterhin Wettbewerb, Innovationen oder sektoraler Wandel stattfinden, die jedoch langfristig nicht zu Wachstum führen.[57] Dies kann in den einfachen statischen Modellen allerdings nicht abgebildet werden.
Literatur
- Murray Milgate, Shannon C. Stimson: After Adam Smith. A Century of Transformation in Politics and Political Economy. Princeton University Press, ISBN 978-0-691-14037-7, S. 186–216.
- Christian Kerschner: Economic de-growth vs. steady-state economy. In: Journal of Cleaner Production. 18, (2010), S. 544–551, doi:10.1016/j.jclepro.2009.10.019.
Einzelnachweise
- ↑ a b Murray Milgate, Shannon C. Stimson: After Adam Smith. A Century of Transformation in Politics and Political Economy. Princeton University Press, ISBN 978-0-691-14037-7. Seiten 186–216.
- ↑ z. B. „Sein Ideal ist statische Gesellschaft und statische Wirtschaft.“ in: Richard Newald: Nachleben des antiken Geistes im Abendland bis zum Beginn des Humanismus: eine Überschau. 1960, S. 389 oder „Angesichts einer meist statischen Wirtschaft ist auch nach oben gerichtete strukturelle Mobilität nie beobachtet worden.“ in: Sozialgeschichte der frühen Neuzeit im Überblick, Prof. Dr. Ulrich Pfister, Wintersemester 1999/2000, 3. Mobilität und Statuserwerb, online ( des vom 4. März 2014 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ a b Niko Paech: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. oekom verlag, München 2012, ISBN 978-3-86581-181-3.
- ↑ André Reichel: Strategische Handlungsoptionen für Unternehmen in der Postwachstumsökonomie. In: Hans Christoph Binswanger u. a. (Hrsg.): Jahrbuch Nachhaltige Ökonomie 2013/2014. Im Brennpunkt: Nachhaltigkeitsmanagement. Metropolis, Marburg 2013, ISBN 978-3-7316-1043-4.
- ↑ a b Barbara Muraca: Nachhaltigkeit ohne Wachstum? Auf dem Weg zur Décroissance. Theoretische Ansätze für eine konviviale Post-Wachstum-Gesellschaft. In: Tanja von Egan-Krieger, Julia Schultz, Philipp Pratap Thapa, Lieske Voget (Hrsg.): Die Greifswalder Theorie starker Nachhaltigkeit – Ausbau, Anwendung und Kritik. Metropolis, Marburg 2009, ISBN 978-3-89518-750-6, S. 241-161.
- ↑ a b c Irmi Seidl, Angelika Zahrnt (Hrsg.): Postwachstumsgesellschaft – Konzepte für die Zukunft. Metropolis, Marburg 2010. ISBN 978-3-89518-811-4.
- ↑ a b c Dirk Posse: Zukunftsfähige Unternehmen in einer Postwachstumsgesellschaft. Eine theoretische und empirische Untersuchung. Vereinigung für Ökologische Ökonomie, Heidelberg 2015, ISBN 978-3-9811006-2-4 (hdl:10419/110257).
- ↑ a b Jana Gebauer, Steffen Lange, Dirk Posse: Wirtschaftspolitik für Postwachstum auf Unternehmensebene. Drei Ansätze zur Gestaltung. In: Frank Adler, Ulrich Schachtschneider (Hrsg.): Postwachstumspolitiken: Wege zur wachstumsunabhängigen Gesellschaft. Oekom, München 2017, ISBN 978-3-86581-823-2, S. 239–253.
- ↑ a b Matthias Schmelzer, Alexis Passadakis: Postwachstum: Krise, ökologische Grenzen und soziale Rechte. AttacBasisTexte 36, VSA-Verlag, 2011, ISBN 978-3-89965-429-5.
- ↑ Adam Smith: An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations. T. Nelson and Sons, London: 1852 [1776], S. 34.
- ↑ a b c d e f g Christian Kerschner: Economic de-growth vs. steady-state economy. In: Journal of Cleaner Production. 18 (2010) S. 545.
- ↑ a b Fred Luks: Die Zukunft des Wachstums. Marburg: Metropolis Verlag. 2001.
- ↑ Thomas Robert Malthus: Principles of Political Economy. 1820, Cambridge University Press, S. 371.
- ↑ Murray Milgate, Shannon C. Stimson: After Adam Smith. A Century of Transformation in Politics and Political Economy. Princeton University Press, ISBN 978-0-691-14037-7, S. 193.
- ↑ David Ricardo: On Protection to Agriculture. In: The Works and Correspondence of David Ricardo, 4:202–270. 1822. Seite 234.
- ↑ Murray Milgate, Shannon C. Stimson: After Adam Smith. A Century of Transformation in Politics and Political Economy. Princeton University Press, ISBN 978-0-691-14037-7. : „the wealth and resources of a community will not admit of an increase“ [...] „such a state of society was ‚yet far distant‘“ (Seite 198)
- ↑ John Stuart Mill. 1848. "Of the Stationary State," Book IV, Chapter VI in Principles of Political Economy: With Some of Their Applications to Social Philosophy, J.W. Parker, London, England. S. 454: „[...] be content to be stationary, long before necessity compels them to it“.
- ↑ a b Reiner Kümmel: The Second Law of Economics: Energy, Entropy, and the Origins of Wealth. Springer, Berlin 2011, ISBN 978-1-4419-9364-9.
- ↑ Kander, A., Malanima, P., Warde, P. (2014): Power to the People: Energy in Europe over the Last Five Centuries. Princeton University Press.
- ↑ a b c d Christian Kerschner: Economic de-growth vs. steady-state economy. In: Journal of Cleaner Production. 18 (2010) S. 546.
- ↑ Gerolf Hanke: Regionalisierung als Abkehr vom Fortschrittsdenken. Zur Unvereinbarkeit von starker Nachhaltigkeit und klassischer Modernisierung. Marburg: Metropolis, 2014. S. 18–22.
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- ↑ Alfred Eugen Ott: Einführung in die dynamische Wirtschaftstheorie. Band 1 von Grundriss der Sozialwissenschaft: Ergänzungsband, 1970, ISBN 978-3-525-10550-4, S. 12–13, online
- ↑ Willi Albers (Hrsg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft. Band 2, 1980, ISBN 978-3-525-10257-2, S. 475, online
- ↑ Jan Priewe: Beschäftigungsprobleme in einer stationären Volkswirtschaft. In: Zukunftsgestaltung ohne Wirtschaftswachstum: Ergebnisse eines Workshops des DIW im Auftrag von Greenpeace Deutschland. S. 11.