Potenz – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“
Aus der Schule kennst du Potenzen wie als Abkürzungen für Produkte mit immer demselben Faktor. So ist die abkürzende Schreibweise für . Um die Theorie der Analysis sauber aufzubauen, dürfen wir keine bekannten Sachverhalte der Schule übernehmen und müssen so auch den Begriff der Potenz neu (und sauber) einführen. Hier werden wir das Hilfsmittel der Rekursion kennen lernen, welches dir noch oft im Studium der Mathematik begegnen wird.
Intuitive Definition der Potenz
Intuitiv können wir die Potenz mit natürlichem Exponenten folgendermaßen definieren:
Definition (intuitive Definition der Potenz)
Die Potenz ist definiert über
Dies entspricht der Vorstellung der Potenz, welche wir aus der Schule haben. Doch diese Definition birgt folgende Nachteile:
- Wir wissen nicht, was sein soll. Generell überträgt sich obige Gleichung nicht auf solche , für die keine natürliche Zahl ist. So sind die Ausdrücke oder nicht sinnvoll.
- Der Ausdruck ist zwar intuitiv verständlich, er ist aber nicht mathematisch definiert. Wenn man also die Theorie der Analysis exakt aufbauen möchte, dann kann man die obige Definition nicht verwenden.
Formale Definition der Potenz mit natürlichem Exponenten
Mathematisch exakt wird die Potenz rekursiv definiert:
Definition (rekursive Definition der Potenz mit natürlichem Koeffizienten)
Die Potenz ist rekursiv über die folgenden beiden Formeln für alle und definiert:
Insbesondere definieren wir .
Hier werden zwei Eigenschaften der Potenz angegeben, die zusammen bereits den Wert jeder Potenz eindeutig festlegen. Die Formel
wird Rekursionsschritt genannt. Durch sie lässt sich jede Potenz auf eine Potenz mit einem um eins verringerten Exponenten zurückführen. So ist nach dem Rekursionsschritt
Wenn wir ausgerechnet haben, können wir nach obiger Gleichung ausrechnen. selbst kann durch weitere Anwendung des Rekursionsschritts aus berechnet werden und so weiter. Irgendwann landet man so bei der Potenz , die man wegen der Formel
gleich eins setzen kann. Die Formel wird Rekursionsanfang genannt und beendet die Rekursion. Insgesamt erhält man so
Man sieht hier exemplarisch, wie durch Angabe von zwei Eigenschaften der Wert jeder Potenz eindeutig festgelegt ist. Diese Vorgehensweise hat folgende Vorteile:
- Wir wissen, was ist.
- Wir haben sowohl in der Angabe des Rekursionsschritts als auch bei der Angabe des Rekursionsanfangs keine Ausdrücke verwendet, die wir nicht vorher schon definiert haben.
- Die beiden Eigenschaften der Rekursion sind auch dann gültig, wenn keine natürliche Zahl ist. Diese Eigenschaften sind also insofern charakteristisch für die Potenz, als dass sie auch für den verallgemeinerten Potenzbegriff mit beliebigen Exponenten gelten.
- Die rekursive Definition zeigt einen Weg, wie Sätze über Potenzen mit Hilfe von vollständiger Induktion bewiesen werden können.
Warum ist definiert?
Diese Frage ist berechtigt. Schließlich hätten wir ja auch als Rekursionsanfang definieren können. Zwar wäre dann undefiniert gewesen, aber die Gleichung lässt sich mit der Intuition der Potenz als k-fache Multiplikation leicht erklären. Auch die Potenz könnten wir ohne Probleme mit dem Rekursionsanfang berechnen.
Der Grund liegt darin, dass für die allgemeine Potenz die Gleichung
erfüllt sein soll. Obige Gleichung soll für alle und insbesondere auch für erfüllt sein. Es soll also gelten:
Gleichzeitig ist und deswegen
Damit diese Gleichung für alle und gelten kann, muss sein. Die Tatsache folgt also aus der Gleichung
welche man als die charakteristische Gleichung der Potenz ansehen kann. Auch der Rekursionsschritt folgt aus obiger Gleichung. Damit hat die rekursive Definition den Vorteil, dass sie auf der charakteristischen Gleichung der allgemeinen Potenz beruht und mit ihr begründet werden kann.
Hinweis
Es gibt in der Literatur keine eindeutige Definition für . In Analysis-Lehrbüchern wird normalerweise (wie bei uns) gesetzt. Dadurch bleiben so wichtige Ergebnisse wie der binomische Lehrsatz und die Geometrische Summenformel für den jeweiligen Spezialfall gültig. Manche Autoren setzen hingegen , da für alle ist. Manchmal wird dieser Ausdruck in der Literatur auch je nach Kontext anders definiert, und gelegentlich bleibt auch undefiniert. Genauere Erklärungen findet man im Wikipedia-Artikel „Null hoch null“.
Das Prinzip der Rekursion
Im obigen Abschnitt hast du das Definitionsschema der Rekursion kennen gelernt. Hierfür ist die Angabe des Rekursionsanfangs und des Rekursionsschritts notwendig:
- Rekursionsschritt: Durch den Rekursionsschritt kann ein Ausdruck auf einen Ausdruck „mit geringerer Ordnung“ reduziert werden. Dieser Schritt wird so lange angewandt, bis man den Rekursionsanfang verwenden kann.
- Rekursionsanfang: Beendet die Rekursion, indem definiert wird, was der Ausdruck mit der „geringsten Ordnung“ sein soll.
Durch diese beiden Angaben wird eine Art Algorithmus definiert, wie Ausdrücke ausgerechnet werden können (siehe obiges Beispiel mit der Potenz). Solltest du programmieren können, wirst du dieses Prinzip vielleicht schon von deinen Programmiertätigkeiten her kennen.
Verständnisfrage: Definiere das Produkt mit und rekursiv.
Folgende zwei Formeln definieren das Produkt rekursiv:
Rechenregeln für Potenzen
Übersicht
Um uns zu überlegen, warum unsere formale Definition der Potenz Sinn ergibt, haben wir auf folgende Rechenregel für und zurückgegriffen:
Diese war aber nur eine Motivation für uns, wie wir die Potenz definieren wollen. Dass unsere formale Definition einer Potenz tatsächlich diese Rechenregel erfüllt, müssen wir erst noch beweisen. Dies werden wir im Folgenden nachholen. Auch werden wir folgende Rechenregeln beweisen, die aus der Schule bekannt sind:
- für alle und
- für alle und
Produkt von Potenzen mit gleicher Basis
Satz (Produkt von Potenzen mit gleicher Basis)
Sei und seien . Dann gilt
Wir betrachten das Produkt zweier Potenzen und zur selben Basis mit irgendwelchen Exponenten . Anschaulich ist
und
Also ist
Wir multiplizieren das Produkt von vielen mit dem Produkt von vielen . Das können wir zusammenfassen zu einem Produkt von insgesamt vielen :
Das Produkt von vielen ist genau die Potenz :
So haben wir einen anschauliche Argumentation dafür gefunden, dass folgende zu zeigende Rechenregel gilt.
Jedoch haben wir die unsaubere Notation mit verwendet. Es ist auch nicht klar, was in diesem „Beweis“ passiert, wenn oder ist. Wie können wir diese Regel sauber mithilfe unserer rekursiven Definition der Potenz beweisen?
Zusammenfassung des Beweises (Produkt von Potenzen mit gleicher Basis)
Um die rekursive Definition der Potenz verwenden zu können, bietet sich ein Beweis mittels Vollständiger Induktion an. Allerdings kommen in der zu zeigenden Aussage zwei Variablen vor, über die eine vollständige Induktion gemacht werden kann. Wir suchen uns einfach eine davon aus, sagen wir , und lassen die andere Variable, also , fest.
Beweis (Produkt von Potenzen mit gleicher Basis)
Sei fest. Wir beweisen die Aussage mittels vollständiger Induktion über :
Aussageform, deren Allgemeingültigkeit für bewiesen werden soll:
1. Induktionsanfang:
2. Induktionsschritt:
2a. Induktionsvoraussetzung:
2b. Induktionsbehauptung:
2c. Beweis des Induktionsschritts:
Zusammenfassen von mehrmaligem Potenzieren
Satz (Zusammenfassen von mehrmaligem Potenzieren)
Sei und seien . Dann gilt
Beweis (Zusammenfassen von mehrmaligem Potenzieren)
Sei fest. Wir beweisen die Aussage mittels vollständiger Induktion über :
Aussageform, deren Allgemeingültigkeit für bewiesen werden soll:
1. Induktionsanfang:
2. Induktionsschritt:
2a. Induktionsvoraussetzung:
2b. Induktionsbehauptung:
2c. Beweis des Induktionsschritts:
Produkt von Potenzen mit gleichem Exponenten
Satz (Produkt von Potenzen mit gleichem Exponenten)
Seien und sei . Dann gilt
Beweis (Produkt von Potenzen mit gleichem Exponenten)
Wir beweisen die Aussage mittels vollständiger Induktion über :
Aussageform, deren Allgemeingültigkeit für bewiesen werden soll:
1. Induktionsanfang:
2. Induktionsschritt:
2a. Induktionsvoraussetzung:
2b. Induktionsbehauptung:
2c. Beweis des Induktionsschritts:
Potenzen mit negativen Exponenten
Für eine reelle Zahl wollen wir die Definition der Potenz auf ganzzahlige Exponenten erweitern. Die Potenz soll also auch für negative Exponenten definiert werden. Dies wird sich nämlich als praktisch erweisen.
Auf den ersten Blick macht es nicht so viel Sinn. Nach unserer intuitiven Vorstellung wäre zum Beispiel das Produkt von „ vielen“ en. Was soll das bitteschön sein? Vielleicht ? Wenn wir so tun, als ob alle Rechenregeln für Potenzen weiterhin gelten, wäre aber . Es macht also keinen Sinn, zu definieren. Wir sollten uns erst einmal überlegen, wie eine sinnvolle Definition aussehen könnte. Im Wesentlichen gibt es zwei Anforderungen:
- Die Definition sollte anschaulich erklärbar sein.
- Alle bisherigen Rechenregeln für Potenzen sollten weiterhin gelten.
Um diesen Anforderungen gerecht zu werden betrachten wir ein einfaches Beispiel: Wir wissen, dass für jede reelle Zahl gilt und dass für . Zur Verallgemeinerung auf betrachten wir zunächst , und . Wir erhalten . Da wir fordern können wir die Gleichung umstellen zu . Intuitiv ist klar, dass wir um zu erhalten durch teilen müssen. Den gleichen Trick können wir auch für ein allgemeines anwenden. Mit der Forderung ergibt sich aus die folgende sinnvolle Definition:
Definition (Potenz mit ganzzahligem Exponenten)
Sei und . Für ist bereits definiert. Für legen wir fest:
Beachte, dass in dieser Definition bereits definiert ist, da für gilt. Und wegen ist auch . Wir teilen also nicht durch .
Hinweis
Man könnte sich fragen, ob eine sinnvolle Definition für "" möglich ist. Da wir in der Herleitung obiger Definition sowohl durch teilen als auch fordern, ist dieser Weg ausgeschlossen. Außerdem ist dieser Fall von geringem praktischen Interesse, da wir ja über für alle verfügen. Somit kann "" in getrost undefiniert bleiben. Im erweiterten Zahlenraum wäre für alle sinnvoll.
Übertragung der Rechenregeln auf den ganzen Zahlen
Produkt von Potenzen mit gleicher Basis
Satz (Produkt von Potenzen mit gleicher Basis)
Sei und seien . Dann gilt
Beweis (Produkt von Potenzen mit gleicher Basis)
Unsere Definition von , und hängt davon ab, ob die Exponenten , und negativ sind oder nicht. Wir führen also eine Fallunterscheidung durch. In den einzelnen Fällen führen wir die Rechenregel jeweils auf die bereits bewiesene Regel für nichtnegative Exponenten zurück.
Fall 1: und
Für wurde die Rechenregel bereits bewiesen, sodass in diesem Fall nichts mehr zu tun ist.
Fall 2: , und
Sei und mit . Somit ist . Nach Definition ist . Für haben wir bereits gezeigt, dass
gilt. Es folgt
Multiplizieren wir beide Seiten der Gleichung mit , so erhalten wir die Behauptung.
Fall 3: , und
Sei und mit . Somit ist . Nach Definition ist und . Für haben wir bereits gezeigt, dass
gilt. Es folgt
Multiplizieren wir beide Seiten der Gleichung mit , so erhalten wir die Behauptung.
Fall 4: , und
Da Addition in und Multiplikation in kommutativ sind, gilt sowie . Indem wir die Variablen und vertauschen, lässt sich dieser Fall also auf Fall 2 zurückführen.
Fall 5: , und
Da Addition in und Multiplikation in kommutativ sind, gilt sowie . Indem wir die Variablen und vertauschen, lässt sich dieser Fall also auf Fall 3 zurückführen.
Fall 6: und
Sei und mit . Somit ist . Nach Definition ist , und . Für haben wir bereits gezeigt, dass
gilt. Es folgt
Multiplizieren wir beide Seiten der Gleichung mit , so erhalten wir die Behauptung.
Zusammenfassen von mehrmaligem Potenzieren
Satz (Zusammenfassen von mehrmaligem Potenzieren)
Sei und seien . Dann gilt
Beweis (Zusammenfassen von mehrmaligem Potenzieren)
Wir führen eine Fallunterscheidung durch, ob und jeweils negativ sind oder nicht. In den einzelnen Fällen führen wir die Rechenregel jeweils auf die bereits bewiesene Regel für nichtnegative Exponenten zurück.
Fall 1: und
Für wurde die Rechenregel bereits bewiesen, sodass in diesem Fall nichts mehr zu tun ist.
Fall 2: und
Sei mit . Nach Definition ist und . Wir wissen bereits, dass gilt. Somit folgt
Also gilt wie gewünscht .
Fall 3: und
Sei mit . Nach Definition ist und . Wir wissen bereits, dass gilt. Somit folgt wie gewünscht
Fall 4: und
Seien und mit . Nach Definition ist und . Wir wissen bereits, dass gilt. Somit folgt
Also gilt wie gewünscht .
Produkt von Potenzen mit gleichem Exponenten
Satz (Produkt von Potenzen mit gleichem Exponenten)
Seien und sei . Dann gilt
Beweis (Produkt von Potenzen mit gleichem Exponenten)
Unsere Definition der -ten Potenz hängt davon ab, ob negativ ist oder nicht. Für wurde der Beweis der Gleichung bereits durchgeführt. Damit fehlt nur noch der Beweis für .
Sei also mit . Nach Definition ist sowie und . Für haben wir bereits gezeigt, dass gilt:
Es folgt
Multiplizieren wir beide Seiten der Gleichung mit , so erhalten wir die Behauptung.