Latinxua Sin Wenz
Latinxua Sin Wenz (拉丁化新文字) ist eine lateinische Umschrift für das Chinesische, die in den 1920er Jahren in der Sowjetunion entwickelt und bis Anfang der 1950er Jahre teilweise auch in China verwendet wurde.[1] Die derzeit offizielle Umschrift Hanyu Pinyin ist an Sin Wenz angelehnt.[2]
Geschichte
In den 1920er Jahren lebten im Fernen Osten der Sowjetunion etwa 100 000 Chinesen. 1929/1930 entwickelten Qu Qiubai, Wsewolod S. Kolokolow und Alexander A. Dragunow in Moskau gemeinsam eine Lateinschrift für das Chinesische, um die Chinesen in der Sowjetunion, von denen die meisten bis dahin Analphabeten waren, zu alphabetisieren. Der Entwurf wurde 1930 unter dem Titel Zhonguo Latinhuadi zemu / Китайская латинизированная азбука veröffentlicht. Qu Qiubai kehrte 1931 nach China zurück. Kolokolow und Dragunow sowie Wu Yuzhang, Wassili M. Alexejew, Alexander G. Schprinzin, I. G. Lajchter, Naum I. Ljubin und andere setzten seine Arbeit an der Lateinschrift an der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Leningrad fort. Der Entwurf dieser Gruppe wurde der Ersten Delegiertenkonferenz für eine Neue Chinesische Schrift, die vom 26. bis 29. September 1931 mit mehr als zweitausend Teilnehmern in Wladiwostok tagte vorgelegt und von dieser angenommen. Er erhielt die Bezeichnung Zhongguo Latinxua Sin Wenz, kurz Sin Wenz. Die Schrift war für Sprecher nordchinesischer Dialekte konzipiert und wurde deshalb auch Beifangxua Latinxua Sin Wenz genannt. In der Folge wurden ähnliche Alphabete auch für andere chinesische Dialekte entwickelt.[1]
Sin Wenz verbreitete sich schnell und in der Sowjetunion wurden zahlreiche Bücher in dieser Schrift veröffentlicht. In Chabarowsk erschien eine Wochenzeitschrift in Sin Wenz.[1] Ab 1929 verbreitete sich Sin Wenz auch in China[3] und wurde dort u.a. von Lu Xun, Cai Yuanpei, Guo Moruo, Mao Dun und Ba Jin unterstützt.[1] Das Guomindang-Regime verbot Sin Wenz. In den von der Kommunistischen Partei Chinas kontrollierten Gebieten wurde Sin Wenz gefördert und z.T. für die Telegrafie eingesetzt. 1940 wurde in Yan’an mit Unterstützung von Mao Zedong, Dong Biwu, Ding Ling, Zhu De, Wang Ming u.a. eine Sin-Wenz-Studiengesellschaft gegründet.[1] Am 25. Dezember 1940 erließ die kommunistische Regierung folgendes Dekret:
- Ab 1. Januar 1941 wird Sin Wenz denselben rechtlichen Status haben wie die chinesischen Schriftzeichen. Alle offiziellen Dokumente, kaufmännischen Bücher und andere Dokumente, die in Sin Wenz verfasst sind, werden ebenso gültig sein wie jene, die in chinesischen Schriftzeichen verfasst sind.
- Ab 1. Januar 1941 werden alle Verlautbarungen und Gesetze der Regierung sowohl in Schriftzeichen als auch in Sin Wenz veröffentlicht.
- Ab 1. Januar 1941 werden alle Dokumente in Sin Wenz, die an die Regierung des Grenzgebietes geschickt werden, Gültigkeit haben.[4]
Im Februar 1956 veröffentlichte das Chinesische Schriftreformkomitee einen »Entwurf eines Projektes einer chinesischen Lautschrift« (《漢語拼音方案(草案)》), der stark an Sin Wenz angelehnt war. Im August 1956 gab das Komitee zwei Vorschläge heraus, aus denen die heute bekannte Umschrift Hanyu Pinyin hervorging, die Anfang 1958 beschlossen wurde.[2]
Aufbau
Sin Wenz ist einfach und leicht zu lernen, verwendet keine diakritischen Zeichen und wird ohne Tonbezeichnungen geschrieben.[1] Es wird davon ausgegangen, dass der Leser die Töne aus dem Kontext ableiten kann.
Anlaute
IPA: | k | ts | tɕ | tʂ | kʰ | tsʰ | tɕʰ | tʂʰ | p | pʰ | t | tʰ | f | l | m | n | x | s | ɕ | ʐ | ʂ | w |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Sin Wenz:[5] | g | z | g,z* | zh | k | c | k,c* | ch | b | p | d | t | f | l | m | n | x | s | x,s* | rh | sh | w |
Pinyin: | j | q | h | x | r |
*Die Pinyin-Umschrift beschreibt die heutige Hochsprache, die wiederum auf dem Dialekt von Peking beruht. Dort fallen die Konsonanten [k] und [ts] vor [i] und [ɥ] zusammen und werden zu [tɕ] palatisiert, was in Pinyin als „j“ dargestellt wird. Silben, die in Sinwenz mit gi- und zi- bzw. gy- und zy- anfangen, werden in Pinyin dementsprechend mit ji- bzw. (unter Auslassen der ü-Punkte) ju- geschrieben. Entsprechendes gilt für die aspirierten Konsonanten [kʰ] und [tsʰ], die zu [tɕʰ] werden, und für [x] und [s], die zu [ɕ] werden.
Auslaute
Grundsätzlich werden die Auslaute geschrieben wie in Hanyu Pinyin. Unterschiede sind:
Sin Wenz:[5] | e | ung | y | yan | ye | yo | yn | yng |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Pinyin: | e/o | ong | ü | üan | üe | ün | iong |
Die „gepressten“ Vokale
und am Silbenende werden, wie in Zhuyin Fuhao, gar nicht geschrieben:IPA: | tsɹ̩ | tsʰɹ̩ | sɹ̩ | tʂɻ̩ | tʂʰɻ̩ | ʂɻ̩ | ʐɻ̩ |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Sin Wenz:[5] | z | c | s | zh | ch | sh | rh |
Pinyin: | zi | ci | si | zhi | chi | shi | ri |
Besonderheiten
Für einige leicht zu verwechselnde Wörter werden unterschiedliche Schreibweisen verwendet:[1]
- daa 打 vs. da 大
- maai 买 vs. mai 卖
- zaai 再 vs. zai 在
- iou 有 vs. iu 又
Wenn in mehrsilbigen Wörtern eine nachfolgende Silbe mit einem Vokal beginnt, gibt es graphische Veränderungen:
- y am Silbenanfang wird zu jy
- der Hauptvokal i (in den Silben i, in, ing) wird zu ji
- der Gleitvokal i wird zu j
- die Silbe u wird zu wu
- vor a, e, o wird (wie bei Hanyu Pinyin) ein Apostroph gesetzt.
Die Nachsilbe 們 (eigentlich men) wird als mn geschrieben.
Beispiel
Textauszug aus Sin Wenz Rhumen 《新文字入門》:[5][6]
Sin Wenz | Chinesische Zeichen | Pinyin |
---|---|---|
Meiguo Shjedi Gungrhen | 美國失業的工人 | Měiguó shīyè de gōngrén |
Rhen dushuo Meiguo sh ding iouciandi guogia, kish-ni, ta ie xiang Peiping xuanggung sdi, biaomian kankilai kuoki gila, zou ginky ikan shmo ie meijou. | 人都説美國是頂有錢的國家,其實呢,他也像北平皇宮似的,表面看起來闊氣極啦,走進去一看什麽也沒有。 | Rén dōu shuō Měiguó shì dǐng yǒuqián de guójiā, qíshí ne, tā yě xiàng Běipíng huánggōng shìde, biǎomiàn kànqǐlái kuòqi jí la, zǒujìnqu yī kàn shénme yě méiyǒu. |
Zhe ginian shgieshang du naokyng. Dungsi mai bu chuky gungchang guanmen, gungrhen giu shjeliao. Meiguo ie sh ijang, ginnian suirhan xao idian, kish gungrhen xo nungmin bi cianginian geng ku. | 這幾年世界上都閙窮。東西賣不出去,工廠關門,工人就失業了。美國也是一樣,今年雖然好一點,其實工人和農民比前幾年更苦。 | Zhè jǐ nián shìjiè shàng dōu nàoqióng. Dōngxi màibùchūqu, gōngchǎng guānmén, gōngrén jiù shīyè le. Měiguó yě shì yīyàng, jīnnián suīrán hǎo yīdiǎn, qíshí gōngrén hé nóngmín bǐ qián jǐ nián gèng kǔ. |
Literatur
- Sin Wenz Rhumen 《新文字入門》. Beiping: Sin Wenz Iangiuxui 新文字研究會, 1936.
Fußnoten
- ↑ a b c d e f g Klaus Kaden: Die wichtigsten Transkriptionssysteme für die chinesische Sprache. Leipzig: Enzyklopädie, 1975; S. 103–105.
- ↑ a b Klaus Kaden: Die wichtigsten Transkriptionssysteme für die chinesische Sprache. Leipzig: Enzyklopädie, 1975; S. 106–107.
- ↑ Richard Vanness Simmons: Whence Came Mandarin? Qīng Guānhuà, the Běijīng Dialect, and the National Language Standard in Early Republican China. In: Journal of the American Oriental Society Bd. 137 Nr. 1 (Januar–März 2017) S. 63–88, hier S. 65.
- ↑ John DeFrancis: The Chinese Language. Fact and Fantasy. Honolulu: University of Hawaii Press, 1984; S. 254.
- ↑ a b c d Sin Wenz Rhumen 《新文字入門》. Beiping: Sin Wenz Iangiuxui 新文字研究會, 1936.
- ↑ Im Originaltext steht im ersten Satz ikau statt ikan. Das ist offenbar ein Druckfehler, der hier korrigiert ist. Außerdem steht im Originaltext nach Peiping das Wort di, die Partikel 的, fehlt aber im Text mit chinesischen Schriftzeichen. Die Pinyin-Transkription des Wortes 似的 wird hier nach festlandchinesischer Norm als shìde wiedergegeben, nach taiwanischer Norm wird es jedoch sìde ausgesprochen, was Sin Wenz sdi ähnlicher ist.