Rassismus ohne Rassen

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Der Begriff Rassismus ohne Rassen gehört zu einem von dem französischen Marxisten Étienne Balibar (1992) und Stuart Hall (1989) geprägten Ansatz der Rassismusforschung. Er geht dabei von der Existenz eines Rassismus aus, bei dem der Begriff der Rasse nicht verwendet wird. Er ist heute ein zentraler, allerdings auch kritisierter Topos in der Rassismusforschung.[1] Anstelle des Begriffs Rassismus ohne Rassen werden gleichbedeutend auch die Begriffe kultureller Rassismus oder Neo-Rassismus verwendet.

Rassismus ohne Rassen nach Étienne Balibar

Der Rassismus ohne Rassen geht nach Balibar einher mit der "Naturalisierung des Kulturellen, des Sozialen oder der Geschichte, wodurch diese sozusagen stillgestellt und jeglichem Versuch einer Veränderung entzogen sei."[2]

»Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus in den Zusammenhang eines 'Rassismus ohne Rassen', [...] eines Rassismus, der - jedenfalls auf den ersten Blick - nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf beschränkt, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweise und Traditionen zu behaupten.« (Balibar S.28)

Balibar bezieht sich auch auf das ähnlich gelagerte Phänomen des "Antisemitismus ohne Juden". Dieser Begriff beschreibt die Tatsache, dass auch in Gegenden ohne jüdische Bevölkerung Antisemitismus mitunter fortbestehen oder sogar noch ausgeprägter sein kann, als in Regionen mit einer jüdischen Gemeinde.

Rassismus ohne Rassen nach Stuart Hall

Stuart Hall sieht im Alltagsbewusstsein vieler Menschen einen "Rassismus ohne Rassen", der sich als soziale Ausschliessungspraxen manifestiere, aber keine ausgeprägte Rassentheorie zur Grundlage habe. Danach läge Rassismus vor, wenn eine ausgrenzende Mehrheitsgruppe die Macht besäße eine Minderheit als nicht "normal" oder "anders" zu definieren und sie in ihren Lebensbedingungen zu benachteiligen. Eine Ausschlusspraxis liege dann vor: "Wenn dieses Klassifikationssystem dazu dient, soziale, politische und ökonomische Praxen zu begründen, die bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen ausschließen, dann handelt es sich um rassistische Praxen" [3]

Nach Hall ermögliche der "Rassismus ohne Rassen" es "Identität zu produzieren und Identifikationen abzusichern. Er sei Bestandteil der Gewinnung von Konsensus und der Konsolidierung einer sozialen Gruppe in Entgegensetzung zu einer anderen, ihr untergeordneten Gruppe. Allgemein wird dies als Konstruktion ‚des Anderen' beschrieben." [4]

kultureller Rassismus

Hall sieht eine Ablösung des genetischen durch einen "kulturellen Rassismus". Statt von Rasse würden in neu-rechten Ideologien Ethnizität und Kultur als Ersatzbegriffe verwandt und statt von "genetischem Mangel" sei von einem "Kulturdefizit" die Rede.[5]

"Dabei werden "bestimmte Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuche einer bestimmten Menschengruppe verabsolutiert und naturalisiert […], sozusagen als die einzig normale Form zu leben angesehen […], und andere, davon abweichende Lebensformen […] negativ (oder auch positiv) bewertet […], ohne daß dies unbedingt genetisch oder biologisch begründet wird […] Auch dies dient der genannten Ausschließung anderer Menschen, der Abgrenzung und der Legitimation, die Anderen zu bekämpfen." [6]

In Deutschland ist nach dem Nationalsozialismus das Wort Rasse als Benennung der großräumlichen Häufung menschlicher Erbmerkmale im Sinne einer Formengruppe[7] großteils diskreditiert. Dies führe nach Theodor Adorno häufig zur Vermeidung des Begriffes Rasse und der Ersetzung des Begriffes, um rassistische Theorien und Inhalt zu kaschieren. Als Klassifizierungsschema der Biologie für Pflanzen und Tiere ist es weiterhin allgemein üblich.

"Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch." [8]

Selbst die ihrer Ansicht nach wissenschaftlich widerlegte Vorstellung von biologischen "Rassen" hindere nach Ansicht der Psychologin Sabine Grimm vom Institut für Allgemeine Psychologie Rassisten nicht daran, Menschen aus nationalistischen und rassistischen Motiven anzugreifen: "der aufklärerische Hinweis darauf, daß die Wissenschaft die Vorstellung von biologischen Rassen widerlegt hat, hat noch keinen Rassisten davon abgehalten, genau zu wissen, wen er angreift. Denn für die Individuen, die als 'Rasse' identifiziert werden und sich zum Teil selbst identifizieren, ist es ziemlich egal, ob die Biologie oder der Diskurs, Natur oder Kultur als Erklärungen dafür herangezogen werden, daß sie ausgegrenzt, stigmatisiert oder verbrannt werden." [9]

Verena Stolcke erkennt in Debatten um Migration einen "kulturellen Fundamentalismus"[10] In dessen ausschließender Rhetorik, so Halleh Ghorashi, gehe es nicht mehr um einen Schutz der Rasse, sondern um eine "historisch verwurzelte, homogene Nationalkultur". Dieser "Rassismus ohne Rassen" betone mit seiner Definition von "Nation" und "Kultur" die Unvereinbarkeit verschiedener Kulturen und die Notwendigkeit die angestammte Kultur und Identität "vor kultureller Invasion zu bewahren" und führe damit zu einer neuen "Exklusion im Namen der Kultur".[11]

In der Forschung zum „Neorassismus“ wird synonym zum Begriff des kulturellen Rassismus auch der Begriff Kulturalismus verwendet. (vgl. Magiros) Der Kulturalismus als „kultureller Rassismus“ bezeichnet Konzepte, die mittels ihres Kulturbegriffes völkische Lehren weiter verfolgen. Neorassisten vertreten demnach keinen Kulturalismus im philosophischen Sinne, sondern gerade entgegengesetzt einen Biologismus, den sie auch auf die Kultur übertragen. Der Kulturbegriff der Neorassisten ist kein kulturalistischer, sondern ein naturalistischer. Die Rhetorik ändert sich zwar, aber das biologistische Denken bleibt. Das Wort Rasse werde hier durch das Wort Kultur, Ethnie, Volk, Nation oder andere Begriffe ersetzt. Der Begriff Rasse wird in dieser Form von Rassismus aufgegeben, „ohne dass in ihm die Abwertung und Ausgrenzung des ›Anderen‹ an Schärfe“ verloren geht.[12]

Neorassismus

Unter dem Stichwort „New Racism“ löst Martin Barker Rassismus weitgehend von der Verknüpfung an biologische Rassenkonstruktionen und wendet ihn als komplexen Diskriminierungszusammenhang auch auf ähnliche Einteilung und Bewertungen aufgrund von Klasse, Geschlecht, Nation, Kultur und Religion an.

Kritik an Begriff und Theorie

Kritiker bezeichnen Balibars Konzept des Rassismus ohne Rassen als "Inflation des Rassismus", so der Leipziger Philosophieprofessor Christoph Türcke. [13] Der Gefahr der Verschleierung des Rassismus stehe dann die Gefahr entgegen, den negativ besetzten Rassismusbegriff zur Tabuisierung und intellektuellen Abwertung von sachlich unverwandten Themenstellungen zu missbrauchen. Dies wiederum verzerre den intellektuellen Diskurs.

Ulrich Bielefeld plädiert für einen vorsichtigeren und präziseren Umgang mit dem Begriff des Rassismus, der immer in einem spezifischen historischen Kontext auftrete. Weite man den Begriff zu sehr aus, stehe er nicht mehr für die Fälle zur Verfügung, in denen er gleichzeitig als analytischer Begriff tatsächlich benötigt werde. [14]

Rassismus ohne Rassen in den Konzepten der Neuen Rechten

Zum Teil werden neu-rechte Ansätze als Rassismus ohne Rassen beschrieben. [15] Argumentativ zielen neu-rechte Vordenker auf den Erhalt von Differenzen zwischen Kulturen, bzw. Völkern ab. Aus diesem Grund wollen sie Mischungen zwischen Gruppen und Kulturen vermeiden (sog. Ethnopluralismus). So vertritt der Vordenker der französischen Neuen Rechten Alain de Benoist ein Konzept der "Bewahrung kultureller Gruppenidentitäten" durch genetische Abgrenzung, welche er allerdings, da er eine wertende Rangordnung zwischen den Rassen ablehnt[16], nicht als Rassismus sieht:

"Der Rassismus muß unterschieden werden von dem, was die Soziologen "Homofiliation" nennen, also den Wunsch nach Kontinuität der eigenen Identität durch Endogamie, der viele Religionen – wie etwa die jüdische – leitet, die Mischheiraten verbieten." [17]

Begriffsdebatte in der Rassismusforschung

Auch in der Rassismusforschung ist der Begriff Rasse aus etymologischen Gründen teilweise umstritten. Forscher wie Philip Cohnen erläutern, dass es keinen Zusammenhang zwischen Rasse und Rassismus geben müsse, denn "Rasse ist das Objekt des rassistischen Diskurses, außerhalb dessen sie keine Bedeutung besitzt; sie ist ein ideologisches Konstrukt und keine empirische Gesellschaftskategorie."[18] Jan Philipp Reemtsma plädiert aufgrund des seiner Ansicht nach wissenschaftlich unseriösen Hintergrunds der Begriffes Rasse dafür, den Begriff nicht in der Forschung als Untersuchungskategorie anzuwenden.[19] Vor dem Hintergrund, dass der Begriff zwar verschwinden kann, aber sein Sinngehalt weiterhin existent bleibe, ergaben sich für die Forschung – wie von seiten Robert Miles – Ansätze, Rassismus in seiner ideologischen Form zu untersuchen. [20] Dabei verwendet Miles eine berifflich strengere Definition als Hall, bei welcher nur eine "Ideologie von der Ungleichheit von Rassen" als Rassismus bezeichnet wird. Vorgänge, die bei formaler Gleichbehandlung aller Personen Folgeerscheinungen früherer dikriminierender Politik fortschreiben, zählt er nicht automatisch zum Rassismus.[21]

Literatur

  • E. Balibar, I. Wallerstein: Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg: Argument, 2. Auflage, 1992.
  • Philip Cohen: Gefährliche Erbschaften: Studien zur Entstehung einer multirassistischen Kultur in Großbritannien.In: Annita Kalpaka/Nora Räthzel: Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Köln 1994.
  • Stuart Hall 1989: Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Das Argument Nr. 178.
  • Gazi Çağlar: Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen. Der Westen gegen den Rest der Welt. Eine Replik auf Samuel P. Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Münster: Unrast, 2002. ISBN 3-89771-414-0
  • Siegfried Jäger: Rassismus und Rechtsextremismus – Gefahr für die Demokratie [3] (dort zu Stuart Hall)
  • A. Kalpaka, N. Räthzel [Hrsg]: Die Schwierigkeit nicht rassistisch zu sein, 2. Auflage, Leer: Mundo, 1990.
  • Angelika Magiros (2004): Kritik der Identität. 'Bio-Macht' und 'Dialektik der Aufklärung' - Werkzeuge gegen Fremdenabwehr und (Neo-)Rassismus. (dort S. 6 f. ausführlich zur Debatte um den Theorieansatz)
  • S. Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, 2. Auflage, München: Beck, 2000.
  • Ulrich Bielefeld: Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? 2. Aufl. Hamburg: Junius, 1992. ISBN 3-88506-190-2
  • Giaco Schiesser (1991): Rassismus ohne Rassen. Zur Geschichte und Theorie eines Begriffs. In: WoZ, Nr. 44. (Rezension von: Robert Miles: Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Hamburg 1991)

Anmerkungen

  1. Angelika Magiros (2004): Kritik der Identität. 'Bio-Macht' und 'Dialektik der Aufklärung' - Werkzeuge gegen Fremdenabwehr und (Neo-)Rassismus. (dort S. 6 f. ausführlich zur Debatte um den Theorieansatz)
  2. Siegfried Jäger: Brandsätze - Synoptische Analyse vgl. Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation, Hamburg 1990, 1. Auflage.
  3. Stuart Hall 1989: Rassismus als ideologischer Diskurs, Das Argument 178,1989, S. 913
  4. Stuart Hall 1989: Rassismus als ideologischer Diskurs, Das Argument 178,1989
  5. Gita Steiner-Khamsi: Multikulturelle Bildungspolitikin der Moderne. Opladen: Leske & Budrich
  6. Siegfried Jäger: Rassismus und Rechtsextremismus – Gefahr für die Demokratie [1], vgl. Stuart Hall 1989: Rassismus als ideologischer Diskurs, Das Argument 178
  7. Bernhard Streck: Lexikon der Anthropologie, ISBN 3-87294-857-1, Seite 199
  8. Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr. Gesammelte Schriften Band 9/2, Frankfurt 1975
  9. http://www.conne-island.de/nf/56/9.html Sexismus ohne Sex - Während der Komplex Rassismus/Nationalismus ausgiebig diskutiert wird, sieht es hinsichtlich des Sexismus eher dürftig aus.
  10. Stolcke, Verena 1995. "Talking Culture: New Boundaries, New Rhetorics of Exclusion in Europe". Current Anthropology, 36(1): S. 1-24.
  11. Halleh Ghorashi: Warum hat Ayaan Hirsi Ali unrecht? In: Perlentaucher, 14. März 2007 [2]
  12. Angelika Magiros (2004): Kritik der Identität. 'Bio-Macht' und 'Dialektik der Aufklärung' - Werkzeuge gegen Fremdenabwehr und (Neo-)Rassismus. Münster. Insb. S. 166 ff.
  13. Christoph Türcke: Inflation des Rassismus; in Konkret 08/1993
  14. "Ulrich Bielefeld, Leiter des Arbeitsbereiches Nation und Gesellschaft am Hamburger Institut für Sozialforschung, zurzeit Gastdozent an der Universität Haifa, plädiert für einen vorsichtigen und präzisen Umgang mit dem Begriff des Rassismus, der immer einen spezifischen historischen Kontext aufrufe. Weite man diesen zu sehr aus, stehe er nicht mehr für die Fälle zur Verfügung, in denen „wir ihn gleichzeitig als analytischen und skandalisierenden Begriff tatsächlich benötigen."; auf Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: Wir und sie: Was Menschen zu "Fremden" macht - Von der ganz alltäglichen Ausgrenzung und ihren Folgen
  15. Ines Aftenberger: Die Neue Rechte und der Neorassismus, Leykam, 2007, ISBN 3701100888
  16. "Es gibt kein "universelles" Paradigma, das es erlaubt, eine Rangordnung zwischen den Rassen herzustellen; der Wert eines Individuums bemißt sich zunächst nach den ihm eigenen Qualitäten, und es ist klar, daß es ein nutzloses Unterfangen ist, die meisten Geschehnisse der Weltgeschichte auf den Faktor Rasse zurückführen zu wollen. Das ist der Grund, weshalb die Neue Rechte in Frankreich seit einem Vierteljahrhundert die Ideologie des Rassismus als irrig ablehnt."; in: Politische Theorie: Interview von Peter Kraus mit Alain de Benoist über Rassismus und Antirassismus, Ideologien und Fremdenfeindlichkeit - "Einwanderung bedroht unsere kollektive Identität nicht"
  17. ebd. 22
  18. Philip Cohen: »Gefährliche Erbschaften: Studien zur Entstehung einer multirassistischen Kultur in Großbritannien«, in: Annita Kalpaka/Nora Räthzel: Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Köln 1994.
  19. Jan Philipp Reemtsma: »Die Falle des Antirassismus«, in: Uli Bielefeld (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? Hamburg 1991.
  20. Robert Miles: Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Hamburg, 1999, Argument Verlag, Hamburg, 1999, ISBN 3886193896
  21. Robert Miles: Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs, Argument Verlag, Hamburg, 1999, ISBN 3886193896, Seite 37 und Seite 51 ff.

Siehe auch

Rassismus, Rassentheorien, Institutioneller Rassismus, Ethnopluralismus, Ethnisierung, Rassistisches Wissen