Religionskritik
Religionskritik bezeichnet die rationale Infragestellung von Religionen und Religiosität, ihren Glaubensaussagen, Konzepten, Institutionen und praktischen Erscheinungsformen. Grundsätzlich können zwei Ebenen der Religionskritik unterschieden werden: Die allgemeine Religionskritik beschäftigt sich mit dem „Wesen der Religion“, analysiert also Strukturen, die allen Religionen gemeinsam sind. Die spezielle Religionskritik untersucht die Grundlagen und Wirkungen einer spezifischen Religion (Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, politische Religionen etc.) incl. ihrer Institutionen (Kirchen, religiöse Unternehmen etc.). Zusätzlich kann differenziert werden zwischen religionsimmanenter Kritik (Vertreter der Religion A kritisieren Religion A), interreligiöser Kritik (Vertreter der Religion A kritisieren Religion B), und religionsfreier Kritik (Säkularisten unterziehen Religion A, B oder C oder „das religiöse Denken an sich“ einer Kritik). [1]
Überblick
So wie es verschiedene Religionen, Ausdrucksformen innerhalb einer Religion und Religionsbegriffe gibt, so ist auch die Kritik daran historisch vielfältig. Sie hat die Religionsgeschichte begleitet, so dass gesagt wurde: Die Kritik an der Religion ist so alt wie die Religion selber.[2]
Die Kritik einer Religion an anderen Religionen ist die übliche Form religiöser Selbstdarstellung: besonders dort, wo ein höchster zugleich als einziger Gott gilt. Dann werden andere Gottesbilder am Maßstab des eigenen Gottesbildes kritisiert: meist mit dem Ziel, den Absolutheitsanspruch des eigenen Glaubens über andere zu erweisen. Ebenso verbreitet ist die immanente Religionskritik: Sie misst konkrete Erscheinungen von Religion, auch der eigenen, am normativen Begriff einer „wahren" Religion, um falsche Gottesvorstellungen auszuscheiden. Dies war in Antike und Mittelalter, großenteils auch der Neuzeit die Regel.
Demgegenüber bildete die Philosophie seit dem Westfälischen Frieden 1648 einen Allgemeinbegriff von Religion. Dieser richtete sich gegen die christlichen Konfessionen, ihren Dogmatismus und ihre wechselseitigen Absolutheitsansprüche. „Religion" umfasste nun tendenziell auch die außerchristlichen Religionen und religionsähnlichen Weltanschauungen, fungierte also als Ober- und Sammelbegriff aller in ein gemeinsames Genus eingeordneten Vorstellungen von „so etwas wie Gott“. Die menschliche Religiosität wurde im Kern auf eine allgemein menschliche Anlage, eine natürliche Fähigkeit zum Erleben, Erfragen und Begreifen eines Sinnganzen zurückgeführt: mit einer mehr oder minder ausgeprägten Entwicklungsmöglichkeit zur humanen Vernunft.
Die sogenannte Vernunftreligion im Zeitalter der Aufklärung wollte die widerstreitenden partikularen, sich aus speziellen Offenbarungen herleitenden Glaubensbekenntnisse transzendieren, rationalen Zwecken dienstbar machen, überwinden, auflösen oder – idealistisch als Selbstentfaltung des zu sich kommenden Weltgeistes – in einem höheren, nun ganz auf sich selbst gestellten absoluten Selbstbewusstsein „aufheben.“ Damit geriet zunehmend auch der Allgemeinbegriff Religion bei all seiner bewussten Unbestimmtheit in die Schusslinie des kritischen Denkens und konnte als prinzipiell untauglich zur vernünftigen Wahrnehmung und Gestaltung der Wirklichkeit destruiert werden.[3]
Seit den Enzyklopädisten des 17. und 18. Jahrhunderts wurde eine dezidierte Religionskritik zunehmend auch als spezieller Begriff und philosophische Teildisziplin entfaltet. Daraus entstanden vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert ausdrückliche und ausformulierte Gegenpositionen zu Religion überhaupt. Als in diesem Sinn „klassische" Religionskritiker gelten heute vor allem Auguste Comte, Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Bertrand Russell, Albert Camus und Jean-Paul Sartre.
Ihre Theorien werden meist als Atheismus zusammengefasst. Dieser zielt auf die fundamentale Abgrenzung zu allen religiösen Vorstellungen und Denksystemen, ihre Aufklärung, Destruktion und Ersetzung. Entscheidend ist dafür, die Entstehung von Religion aus nichtreligiösen Faktoren aufzudecken. Diesen Typ vertreten der naturwissenschaftliche Empirismus und Materialismus, der Rationalismus, Positivismus und Marxismus. Sie beziehen sich faktisch und historisch zwar weiterhin auf bestimmte christliche und theistische Gottesbilder und Dogmen, dem Anspruch nach aber auf alle Religionen inklusive der philosophischen Metaphysik, die ihren reflektierten Gottesbegriff ihrerseits gegen die Götter und naiven Gottesbilder abgegrenzt hatte. Dies zeigt der Begriff A-Theismus.
Dieser machte seinerseits eine Entwicklung durch: Stand in der Frühen Neuzeit der kirchliche Anspruch auf abschließende Welterklärung, im 18. Jahrhundert das christliche Monopol auf ethische Lebensführung im Feuer der aufklärenden Kritik, so rückte im 19. Jahrhundert die soziale Funktion der (noch immer vor allem christlichen) Religion in den Vordergrund des kritischen Interesses. Sie wurde nun immer stärker als Sammlung von Methoden der Selbstberuhigung, Fremdbestimmung und Herrschaftssicherung angesehen.
Der konsistente Atheismus bestimmt das moderne Weltbild, das auf den Erkenntnissen der neuzeitlichen Naturwissenschaften beruht. Diese werden methodisch durch prinzipiellen Verzicht auf transzendental begründete Dogmen oder Hypothesen gewonnen (etsi deus non daretur: „als ob es keinen Gott gäbe“). Hier ist auch der schon früher eingeführte Begriff der Atheologie zu neuer Beachtung gekommen.
Antike griechische Philosophie
Die Griechische Philosophie der Antike wies aller abendländischen Philosophie den Weg, indem sie das Konzept der „Vernunft“ (griech. λογος) ins Zentrum ihrer Reflexion rückte. Die „Warum“-Frage, aus dem Staunen über den Kosmos geboren, nach seinem Grund und Sinn suchend, ist der Beginn dieser philosophischen Haltung. Damit begann „das Sterben der Götter“: In allen Varianten griechischen Geistes war eine Kritik an überkommener Religion, am Mythos der Götterwelt, am Schein oder am falschen Sein des allzu selbstverständlich Gegebenen, an der Unvernunft möglich, angelegt und großenteils auch ausformuliert. Wissen stand tendenziell von vornherein gegen Glauben.
Jedoch verstand die frühe griechische Philosophie sich nicht primär als Religionskritik: Obwohl viele ihrer Denker die Götter und ihre Mythen als Illusion sahen und beschrieben, bekämpften sie die empirische Religionsausübung kaum. Auch für Skeptiker, kritische Empiristen und Materialisten war die metaphysische Frage nach einem Weltgrund, Weltganzen und Sinn des Seins nicht erledigt und beschäftigte viele von ihnen zentral.
Vorsokratische Ursprungsphilosophen
Die Vorsokratiker suchten den Urgrund aller Dinge (griech. αρχη, Arché) nicht jenseits der Welt, sondern in ihr. Damit entmythologisierten sie tendenziell die Griechische Mythologie.
Die Mythen Homers hatten „Okeanos“, die Theogonie Hesiods das Chaos als Ursprung allen Lebens, auch dessen der Götter, dargestellt; dieser uralte Mythos steht auch hinter der biblischen „Urflut“ (Gen 1,2). Thales von Milet (um 630-560 v. Chr.) machte daraus eine empirisch überprüfbare Aussage: Er sieht das Wasser als einheitlichen Urstoff, aus dem alle übrige Stoffe hervorgingen.
Sein Schüler Anaximander (um 610-547 v. Chr.) versucht aus dem damals zugänglichen Wissen erstmals ein konsistentes Weltmodell abzuleiten. Er kommt vom Gedanken der unendlichen Zeit (mythisch im Gott Kronos symbolisiert), vom ewigen Werden und Vergehen, zum negativen Grenzbegriff des Grenzenlosen (griech. απειρον): Der Urgrund kann kein bekannter Stoff sein, da alle Stoffe zeitlicher Veränderung unterliegen. Er muss in Allem enthalten sein, ohne je wahrnehmbar und bestimmbar zu werden. Das schließe alle positiven Aussagemöglichkeiten über ihn aus. Dies nahm die seit dem Neuplatonismus verbreitete Negative Theologie vorweg.
Für Anaximenes (um 585–524 v. Chr.) dagegen muss die grenzenlose Ursubstanz bestimmbar sein, da sonst aus ihr keine konkreten Dinge entstehen könnten. Er findet sie in der „Luft“, die alle Substanzen durchdringe und als ständige Bewegung ihre Qualitätsänderungen bewirke.
Pythagoras (ca. 580–500 v. Chr.) führt die Veränderungen der Dinge nicht auf einen Urstoff, sondern auf mathematisch berechenbare Gesetzmäßigkeiten zurück. Diese sind dem Menschen erkennbar, weil seinem Geist das Zahlensystem innewohnt. Damit nahm er Platons Ideenlehre vorweg und begründete – ausgehend von den Proportionen der Obertonreihe – die Lehre der Sphärenharmonien. Er bekämpfte die Göttermythen Homers und lehrte eine unpersönliche Gottheit ohne menschliche Eigenschaften. Aber er glaubte unter ägyptischem Einfluss auch an die zyklische Seelenwanderung und übernahm Rituale aus dem Apolloskult und Orpheuskult.
Xenophanes und Nachfolger
Xenophanes aus Kolophon (570–475 v. Chr.) lernte auf Auslandsreisen unterschiedlichste Gottesvorstellungen kennen. Er folgerte, dass diese von den jeweiligen Gläubigen geprägt sein müssten (Fragment 27): Die Äthiopier behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und blond. Jedes Volk stelle sich Gott also so vor, wie es selbst aussehe: Damit nahm er Ludwig Feuerbachs Projektionsverdacht im Kern schon vorweg. Er kritisierte den Anthropomorphismus der Mythen Homers und Hesiods, der den Göttern unsittliches Verhalten wie Ehebruch, Eifersucht, Betrug usw. zutraue (Fragment 26).
Dabei argumentierte er nicht atheistisch, sondern ethisch gegen falsche Gottesbilder und die Vielheit der Götter. Die Naturereignisse seien nicht göttlichen Ursprungs. Aber „in", „hinter" oder „über" allen Gottesbildern sei das Göttliche als vollkommenes Wesen zu erahnen (Fragment 34): freilich bei aller unbewussten Evidenz unsagbar und unbeschreibbar. Dieses einheitsstiftende Urprinzip müsse ein einziges, umfassendes, alle Vorstellungen übersteigendes reines Geistwesen (griech. νους) sein: darin der Kugelform ähnlich (Fragment 37). Absolutes Wissen darüber sei aber in der Welt der ständig wandelbaren Dinge unmöglich (Fragment 38): Denn sogar wenn es einem in außerordentlichem Maße gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, würde er sich dessen trotzdem nicht bewusst sein: bei allen Dingen gibt es nur Annahmen. Gott werde durch menschliches Reden über Gott unweigerlich begrenzt.
Sein Schüler Parmenides (geb. um 540, Todesjahr unbekannt) stellt den Begriff des Seins (Οων) ins Zentrum seiner Reflexion und gibt der abendländischen Philosophie damit jahrhundertelang ihr Thema vor. Er geht (wie später Descartes, s.u.) vom Denken aus und schließt in einem klassischen Syllogismus das Nichtsein als undenkbar aus: Denken bedeutet Seiendes denken und ist nur als logisches Urteilen in Form des Aussagesatzes (Subjekt – Prädikat) möglich. Das „ist“ im Urteilssatz beweist das Dasein des gedachten Gegenstandes. Das „Sein“ ist nicht nur Objekt, sondern auch Mittel des Denkens, ja es denkt selber. Damit nimmt Parmenides den ontologischen Gottesbeweis schon vorweg.
Empedokles (um 483–423 v. Chr.) erkennt nur dem Stoff Sein zu, der bleibt. Werden ist Bewegung, die als Kraft auf quantitativ beständigen Stoff wirkt: Das begründete die mechanische Physik. Aber die Vielfalt des Werdens lasse sich unmöglich aus einem einzigen Urstoff erklären. So lehrt er die vier Elemente Feuer-Wasser-Erde-Luft, die sich ständig neu verbinden und trennen und so Werden und Vergehen erzeugen, ohne je das Gesetz der Stofferhaltung zu brechen: Das begründete die Chemie. Doch auch er hielt die Idee einer nichtstofflichen Geisterwelt fest und glaubte an die Seelenwanderung als Strafe des Schicksals für in diesem Leben begangene Verbrechen.
Anaxagoras (um 500–428 v. Chr.) fragt nach dem wahren „ersten Bewegenden“ des mechanischen Prozesses. Er lehrt feste Elementarteilchen (spermata), aus denen auch Feuer und Luft sich zusammensetzen. Alles entsteht aus Allem, indem es sich neu mischt und scheidet; Eigenschaften sind nur Mischungsverhältnisse. Umso mehr fragt sich, was zur ständigen Neuordnung der Teilchen den Anstoß gibt: Es kann nicht in der Materie selbst liegen, sondern muss Geist (νους) sein, der alle Dinge sinnvoll und zweckmäßig ordnet. Er sah diese einfache, mächtige und wissende Essenz aber nicht als Gottheit, sondern als feinsten aller Stoffe, der so von allen übrigen Substanzen geschieden ist und sie doch alle umgibt, durchflutet und umherwirbelt. Nur der Mensch hat Anteil an diesem Wesen; darum kann er es erkennen und die Welt der Dinge, Pflanzen und Tiere beherrschen. – Anaxagoras wurde als „Atheist“ angeklagt und verließ Athen deshalb.
Frühe Materialisten
Demokrit (460–390 v. Chr.) lehrte erstmals eine konsistente materialistische Weltanschauung mit vier Grundaussagen:
- Nichts existiert als Atome und leerer Raum.
- Substanz besteht ewig und unveränderlich. Aus Nichts kann nichts entstehen.
- Alles Werden ist mechanische Bewegung.
- Nichts geschieht ohne Ursache: Das Kausalgesetz gilt universal.
Darauf baut er sein Weltbild auf, das etwa moderne Theorien der Planetenentstehung und den biologischen survival of the fittest (das Überleben der am besten Angepassten) schon erstaunlich genau vordachte. Für Götter und Geister war nun kein Raum mehr: Auch die Seele ist feinstofflich und zerstreut sich nach dem Tod des Einzellebens.
Epikur (341-270 v. Chr.) gibt erstmals eine rationale Erklärung für das Entstehen der Religion: Ihre Lehren seien nur ein Abbild menschlicher Ideen, die keine äußeren Einwirkungen zu ihrer Erklärung benötigen. Die Götter der griechischen Mythologie erwiesen sich durch ihre anthropomorphen (menschenähnlichen) Züge als Wunschgebilde. Diese Kritik trifft indirekt - da Epikur sie nicht ausdrücklich darauf bezog - auch das Gottesbild der Bibel, das den personalen Schöpfergott mit menschlichen Eigenschaften ausstattet und in bewusst menschlicher Sprache auch vom „eifersüchtigen“, „zornigen“, „reuigen“ und „liebenden“ Gott spricht.
Epikur formulierte das Theodizee-Problem: Wenn es (angeblich) einen allmächtigen und sehr gütigen Gott gibt, wie ist dann die Existenz von Übeln zu erklären?
Sophismus
Die Sophisten betrieben eine Religionskritik durch aufklärende Rhetorik. Oft waren sie geschulte Anwälte vor Gericht oder zogen als Wanderlehrer umher, um die Bevölkerung öffentlich zu bilden.
Protagoras (481-411) wollte nach eigener Aussage das Starke schwach und das Schwache stark machen. Er vertrat eine subjektivistische Erkenntnistheorie, die bereits sehr modern anmutet. „Wahrheit" hänge immer vom Betrachter ab (Fragment 1): Wie alles einzelne mir erscheint, so ist es für mich, wie dir, so für dich...Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind. Daher bestritt er über Xenophanes hinaus auch die Notwendigkeit eines Gottwesens hinter allen Göttern. Menschen könnten überhaupt keine Aussagen über Götter machen, weil sie in der veränderlichen Welt keine allgemeinen dauerhaften Erkenntniskriterien dafür besäßen (Fragment 4):
- Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen, weder dass sie sind noch dass sie nicht sind, noch, wie sie etwa an Gestalt sind; denn vieles gibt es, was das Wissen hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und dass das Leben des Menschen kurz ist.
Damit ließ er offen, ob es Götter gebe oder nicht, weil wir sie nicht erkennen können.
Man warf Protagoras schon zu Lebzeiten vor, dass er diese Not des Nichtwissens zur Tugend des rein subjektiven Behauptens transformiere und über alles Wissen allein entscheide, indem er sich selbst zum einzigen Maßstab allen Erkennens erhebe. Andere deuten seine Aussagen nicht als überhebliche Anmaßung, sondern als Hinweis auf einen Zwang: Der Mensch müsse sich zum Maß seines Wissens und Handelns machen, da er zunächst gar keinen anderen Maßstab habe. Damit wurde Protagoras auch für die subjektive Begründung von positiver, nicht absoluter Religion herangezogen. Denn auch jede „Offenbarung" ereigne sich innerhalb des menschlichen Wahrnehmungsbereichs und sei nur individuell erfahrbar.
Die Platoniker verachteten die Sophisten, weil sie für ihre Redekunst Geld annahmen. Platon warf ihnen vor, Seelen nicht zu führen, sondern zu fangen, bloß um Recht zu haben und davon zu leben.[4]
Aristoteles
Aristoteles kritisiert mit seiner metaphysischen Frage nach der prima causa (ersten Ursache) sowohl die gewöhnliche Naturreligion, die an eine Vielzahl menschenähnlicher Götter glaubt, als auch das mechanistische und atomistische Weltbild, das der Vielfalt der Erscheinungen nicht gerecht werde. Sein Begriff des notwendigen, aber transzendenten „unbewegten Bewegers“ als Weltgrund kritisiert alle Ursprungsideen, die das Göttliche als Teil der Welt denken.
Stoa
Die Stoa wiederum kritisiert mit ihrer aus Naturbeobachtung gewonnenen Idee der Vorsehung (providentia dei) eben jene Gottesvorstellungen, die einen Weltgrund von der Welt getrennt denken, als rationale Erfindung.
Poseidonios von Apameia (um 135-50 v. Chr.) gilt als Begründer der mittleren Stoa, der ältere stoische Lehren kritisch revidierte. Sein nur bruchstückhaft von Schülern und Nachfolgern überliefertes Werk Über die Götter legte Cicero seinem Werk De natura deorum („Vom Wesen der Götter“) zugrunde.[5] Danach unterschied Poseidonios streng zwischen einer angeborenen natürlichen Religiosität aller Menschen, die die Vorstellung von etwas Göttlichem in der Vernunft begründe, und den historisch und sozial erworbenen religiösen Vorstellungen konkret bestehender Kulte, die er ablehnte.
Diese Form der immanenten Religionskritik an empirischer Religionsausübung durch Rückführung auf natürliche Einsicht in den erfahrbaren Zusammenhang alles Weltgeschehens war im griechisch-römischen Hellenismus die Regel und bestimmte auch die spätere „Vernunftreligion" der Aufklärung mit.[6]
Skepsis
Die Skepsis kritisiert die metaphysische Kosmologie wie die empirische Teleologie (Zielgerichtetheit) als menschliche Konstrukte, die an der widersprüchlichen Naturerfahrung zerbrechen. Sie bestreitet die Möglichkeit eines metaphysischen Rückschlussverfahrens zum Erweis eines Weltgrundes oder der Sinnhaftigkeit der Welt.
Die Zielrichtung skeptischer Kritik ist also divergent: Sie kann den Gottesbegriff (als Reflexion auf den Weltgrund) ebenso bestreiten wie die Gotteserfahrung (als Reflexion auf das eigene Welterleben). Sie bestreitet in jedem Fall die Behauptung einer Notwendigkeit eines – wie auch immer gearteten – Weltgrundes (genannt „Gott“) für die Welt und den Menschen. Dabei ist der Ansatz dieser Kritik seinerseits empirisch:
- Ohne direkte Hinweise auf die Existenz überirdischer Wesen gebe es keine Notwendigkeit, ihre Existenz anzunehmen. Dies betrifft alle Religionen, die an Götter glauben, besonders aber personale Gottesvorstellungen.
- Ohne direkte Hinweise auf die Existenz übernatürlicher Wirkungen gebe es keine Notwendigkeit, ihre Existenz anzunehmen. Dieser Kritikpunkt zielt auf religiöse Konzepte einer Weltkraft oder eines Weltgeistes, also auf der Natur und Geschichte inhärente Gottesvorstellungen.
Im Ergebnis kommt diese philosophische Kritik jedoch nicht über die allgemeine Skepsis an allen positiven Glaubensaussagen hinaus: Religion als Begegnung des Menschen mit einer existierenden oder gedachten Transzendenz sei philosophisch weder zu beweisen noch zu widerlegen, vgl. Skeptizismus.
Mittelalter: Naturwissenschaftliche Kritik am Thomismus
Die christliche Theo-Philosophie war seit der Apologetik (2. Jahrhundert) bemüht, christliche Glaubenssätze mit einem empirisch-metaphysischen Weltbild in Einklang zu bringen. Dabei formulierte sie mehr oder weniger konsistente Grundannahmen über die Natur als Ganzes, über die Entstehung, aber auch die Zukunft („Erlösung“) der Welt und des Menschen. Sofern sie damit allgemeingültige deskriptive Wahrheit beanspruchte, geriet diese auf der Ebene von Tatsachenprüfung unvermeidbar in die naturwissenschaftliche Kritik.
Seit Thomas von Aquin wurde Offenbarung und rationale Welterkenntnis in ein gemeinsames umfassendes Lehrsystem integriert. Dabei legte die thomistische Scholastik sich auf das geozentrische Weltbild fest, das seit Pythagoras und Aristoteles als „bewiesen“ galt. Mit Kopernikus, Johannes Kepler und Galileo Galilei zerbrach dieses Weltbild und damit in gewisser Weise das Wahrheitsmonopol der katholischen Kirche. Die Emanzipation der experimentellen Naturwissenschaft ließ sich trotz fortbestehender kirchlicher Zentralmacht und Privilegien der Theologie nicht mehr aufhalten.
Die heutige Neuscholastik versucht, den Grundansatz der Analogie von auf den Grund des Seins tendierender Welterkenntnis mit der formalen Gotteserkenntnis und damit eine mögliche Synthese von Glauben und Wissen an heutige naturwissenschaftliche Welterklärung anzupassen und damit beizubehalten.
Frühe Neuzeit: René Descartes
Mit René Descartes (1596-1650) gewinnt die Antithese zwischen Philosophie und Theologie an Schärfe: Diese war seit der Reformation gegeben, da Martin Luther den Christusglauben gegen allgemeines Weltwissen, abstraktes Gotteswissen und zweckgebundenes Herrschaftswissen stellte. Nun brach Descartes die scholastische Synthese von natürlicher Theologie (bzw. philosophischer Metaphysik) und spezieller (christlicher) Offenbarung auch von der Seite des nicht von vornherein gläubigen Denkens her. Erstmals begründet das denkende Subjekt Selbstbewusstsein autonom. Von der intuitiven Erfahrung des Cogito ergo sum („ich denke, also bin ich“) aus stützt der Begriff Gottes nur noch sekundär menschliche Selbstgewissheit.
Zeitalter der Aufklärung
Französische Aufklärer
Stärker als die meisten englisch- und deutschsprachigen Aufklärer strebten die französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts nicht bloß die Überwindung konfessioneller Streitereien, sondern die Destruktion aller bestehenden Religionen zugunsten des erklärten Atheismus an. Sie orientierten sich dabei am Materialismus Demokrits und Epikurs. Vertreter dieser Denkrichtung waren u.a. Julien Offray de La Mettrie (1709-1751), Claude Adrien Helvétius (1715-1771), Paul Henri Thiry d’Holbach (1723-1789), Denis Diderot (1713-1784).
Einer der schärfsten Kirchenkritiker seiner Zeit war François-Marie Arouet (1694-1778), der sich Voltaire nannte. Er bekämpfte vor allem den Machtanspruch der katholischen Kirche und das Bündnis des Klerus mit Adel und Absolutismus. Er rief zur Zerstörung des Papsttums auf («Écrasez l'infâme!») und trat gegen religiöse Indoktrination, für die Glaubens- und Gewissensfreiheit ein. Voltaire bekannte sich jedoch nicht zum Atheismus, sondern zum Deismus, weil er den Glauben an einen strafenden Gott als beste Basis für ein soziales Leben nach moralischen Grundsätzen hielt («Wenn Gott nicht existierte, müsste man ihn erfinden.»)
David Hume
Hume (1711-1776) begründete im Gefolge von Roger Bacon (1214-1294) und Francis Bacon (1561-1626) den strengen rationalen Empirismus, der sich auch gegen die englischen Deisten seiner Zeit wandte. Sein Hauptwerk Inquiry concerning human understanding (zwei Teile, erschienen 1748 und 1751) war eine radikale Erkenntniskritik an allen rationalen Begründungsversuchen der Religion. Es fand in England wenig Beachtung, beeinflusste aber Immanuel Kant stark.
In seiner 1777 erschienenen Schrift Essay on the Immortality of the Soul (Unsterblichkeit der Seele) resumierte Hume seine Hauptauffassungen:
- Es ist ein Gemeinplatz der Metaphysik, dass die Seele immateriell und dass es dem Gedanken unmöglich ist, einer materiellen Substanz anzugehören. Aber eben die Metaphysik lehrt uns, dass der Begriff der Substanz ganz verworren und unvollkommen ist, und dass wir keine andere Vorstellung von einer Substanz haben als von einem Aggregat einzelner Eigenschaften, die einem unbekannten Etwas anhängen. Materie und Geist sind daher im Grunde gleich unbekannt, und wir können nicht bestimmen, welche Eigenschaften der einen oder anderen anhängen.
Ebensowenig wie zwischen Materie und Geist könne zuverlässig zwischen Ursache und Wirkung einer Sache unterschieden werden. Da die sinnliche Erfahrung die einzige Erkenntnisquelle des Menschen sei, sei nicht auszuschließen, ob nicht die Materie durch ihre Struktur oder Anordnung die Ursache des Gedankens sein kann. Damit erklärte Hume mit einem Schlag den lange behaupteten fundamentalen Unterschied zwischen Materialismus und Idealismus für aus sich heraus hinfällig.
Er versuchte die ethische Begründung von Religion zu zerschlagen:
- Da jede Wirkung eine Ursache voraussetzt und diese wieder eine, bis wir zu der letzten Ursache aller Dinge kommen, welche die Gottheit ist, so ist alles, was sich ereignet, durch ihn angeordnet - und nichts kann Gegenstand seiner Strafe und Rache sein.
Der Deismus, der Gott als Anstoß zum in sich nahezu mechanisch abrollenden Weltgeschehen auffasste, verlor damit seinen Anspruch auf ethische Lebensführung, weil nichts, was geschieht, von Gottes ursprünglichem Wollen unabhängig sein könne:
- Strafe ohne Zweck und Absicht ist mit unseren Vorstellungen von Güte und Gerechtigkeit unverträglich. Und kein Zweck kann durch sie gefördert werden, wenn das ganze Spiel abgeschlossen ist. Strafe muss nach unseren Begriffen dem Vergehen angemessen sein. Warum dann ewige Strafen für zeitliche Vergehen eines so schwachen Wesens als des Menschen?
Während also Gottes Absichten mit dem Menschen - ein Endgericht als traditionelle religiöse Vorstellung vorausgesetzt - verborgen, sinnlos und unmenschlich erscheinen, folgerte Hume im Blick auf die Natur:[7]
- Wenn aber irgendeine Absicht der Natur deutlich ist, so dürfen wir behaupten, dass, soweit wir durch natürliche Vernunft urteilen können, die ganze Absicht und Zwecksetzung in der Schöpfung des Menschen auf das gegenwärtige Leben begrenzt ist...Die physischen Argumente aus der Analogie der Natur sprechen deutlich für die Sterblichkeit der Seele; und sie sind in Wahrheit die einzigen philosophischen Argumente, welche mit Bezug auf diese Frage oder überhaupt mit Bezug auf Tatsachenfragen zugelassen werden sollten.
Immanuel Kant
Kant (1724-1804) ist kein reiner Religionskritiker. Seine „Kritik der reinen Vernunft“ (KRV) war viel umfassender. Alle metaphysischen Gottesbeweise überschreiten nach seiner Auffassung unzulässig die kategorialen Grenzen menschlicher Vernunft. Er legt vor allem die Unmöglichkeit des ontologischen Rückschlusses von der Essenz zur Existenz Gottes (Anselm von Canterbury) dar, auf den er die übrigen Gottesbeweise zurückführt. Diese Rückführung ist umstritten. Doch seither ist die moderne Philosophie von deutlicher Distanz zu jeder Art von Metaphysik geprägt und sieht religiöse Deutungsmuster der Wirklichkeit unter dem Vorzeichen des Irrealen und Irrationalen (vgl. auch Kritizismus).
Im Blick auf die Moral billigt Kant der Religion jedoch weiterhin eine mündiges Menschsein fördernde Rolle zu: Denn „es ist notwendig, dass unser ganzer Lebenswandel sittlichen Maximen untergeordnet werde“. Dabei benötige die Eigenart des menschlichen Denkens eine „wirkende Ursache“ sowie einen „entsprechenden Ausgang, es sei in diesem, oder einem anderen Leben“ (Kant 1787, B 840-841). „Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“ (Kant 1787, B 841).
Die Moralgesetze und das gute Handeln hier in der Welt, nicht übernatürliche Aspekte, sind für Kant der eigentliche und einzige Sinn und Zweck der Religion. Diese Gesetze waren es, „deren innere praktische Notwendigkeit uns zu der Voraussetzung einer selbständigen Ursache, oder eines weisen Weltregierers führte, um jenen Gesetzen Effekt zu geben“ (KRV, B 846). Der vorausgesetzte Gott darf daher nicht als ein neuer Gegenstand oder ein reales Sein angesehen werden, von dem umgekehrt dann die moralischen Gesetze abgeleitet werden. Das wäre nach Kant „schwärmerisch oder wohl gar frevelhaft“ und würde „die letzten Zwecke der Vernunft verkehren und vereiteln“ (Kant, KRV, B 841). In dieser fatalen Verdrehung der tatsächlichen Verhältnisse werde das Gottesbild vom Hilfsmittel zum eigentlichen Zweck und das gute Handeln zum bloßen Hilfsmittel der Gottesverehrung. Die Religion kann nach Kant ihren Zweck in der Welt in Übereinstimmung mit der Vernunft nur erfüllen, wenn gilt (KRV, B 847):
- Wir werden, soweit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind.
Das Absolute ist für Kant wie in der negativen Theologie unbestimmbar. Wo es zu definieren versucht werde, komme es zwangsläufig zu Streit, Widersprüchen und Spaltungen darüber, welche der vielen verschiedenen und sich widersprechenden Bilder und Bestimmungen des Absoluten die einzig wahren und realen sind. Diese Auseinandersetzungen laufen dann dem moralisch guten Handeln in der Welt als Hauptthema und eigentlichem Sinn der Religion entgegen. Nur wenn daher restlos alle Gottesbilder zu den bloßen und austauschbaren Hilfsvorstellungen relativiert werden, die sie nach Kant sind, werden die religiösen Auseinandersetzungen beseitigt und damit der eigentliche Sinn und Zweck der heutigen Religion in der Welt erfüllt: das gute und sittliche Handeln auch auf der Ebene des interreligiösen Dialoges, statt eines Kampfes der Kulturen um die einzig wahre und reale Gottesvorstellung.
Gotthold Ephraim Lessing
Lessing (1729-1781) betrachtet Religion in Gestalt von Judentum, Christentum und Islam einerseits als historischen Ursprung, andererseits als zu überwindende Vorstufe einer selbständigen Vernunftreligion. Dazu veröffentlichte er 1777 auch die Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes von Hermann Samuel Reimarus (1699-1768) als Fragmente eines Ungenannten.
Der Orientalist Reimarus hatte das Christentum zu Lebzeiten zwar als Vernunftreligion gegen die radikaleren französischen Aufklärer verteidigt, in dieser posthum veröffentlichten Spätschrift aber begonnen, mithilfe der Bibelkritik christliche Theologie und Dogmen als Priesterbetrug zur Unterdrückung des armen Volkes zu bekämpfen. Er griff darin vor allem den Glauben an die Wunder Jesu, die Auferstehung Jesu Christi und die damals auch von Protestanten dogmatisierte Lehre der Verbalinspiration als frommen Betrug der Apostel an.
Obwohl Lessing selbst eine prinzipiell christentumsfeindliche Haltung nicht teilte, löste seine Veröffentlichung den jahrelangen Fragmentenstreit mit Vertretern der Lutherischen Orthodoxie aus, in dessen Verlauf Lessing ein Publikationsverbot erhielt. Er verfasste daraufhin 1779 das Drama Nathan der Weise, in dem er Toleranz und gegenseitige Achtung von den drei monotheistischen Religionen fordert und seinem Freund, dem jüdischen Religionsphilosophen Moses Mendelssohn, ein Denkmal setzte. Nach der Ringparabel ist von Menschen nicht zu entscheiden, wer Gott in der besten Form verehrt.
Andererseits fordert Lessing die Aufklärung des in Religionssystemen gefesselten Kinderglaubens zu Gunsten eines zukünftigen sittlichen Humanismus ohne spezifisch biblische Gottesoffenbarung („Die Erziehung des Menschengeschlechts“ 1780).
19. Jahrhundert
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
Schleiermacher (1768-1834) versucht – in der romantischen Gegenbewegung zum Rationalismus der Aufklärer –, das religiöse „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ den Gebildeten wieder nahe zu bringen. Er sieht das subjektive, nicht begrifflich fassbare Erleben der Unendlichkeit als rein rezeptive, passive Form des Selbstbewusstseins, die sich jedem aktiven kritischen Zugriff des Verstandes entzieht. Damit greift er in gewisser Weise die mittelalterliche Mystik mit ihrer Kritik an veräußerlichten Religionsformen wieder auf. Er kritisiert von da aus den Dogmatismus und Konfessionalismus der protestantischen Staatskirchen, verlangt aber keine institutionelle Trennung von Staat und Kirche.
Johann Gottlieb Fichte
Fichte (1762-1814) gilt als Begründer des deutschen Idealismus. Er schreibt 1792 einen Versuch einer Critik aller Offenbarung, der die Prinzipien Kants konsequent durchführt, um daraufhin das Ich-Bewusstsein spekulativ zu begründen. Auch in dieser Reflexion des Menschen auf den Grund seines Selbstbewusstseins kommt die Religion zuletzt wieder in Betracht: In der unausdenkbaren und unaufgebbaren Idee des Absoluten (des Unbedingten) findet die idealistische Vernunft ihren letzten Grund.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Hegel (1770-1831) versucht, diesen Grund auch für das Begreifen der Weltgeschichte geltend zu machen und das begrenzte subjektive Selbstbewusstsein – den religiösen Glauben – als Teilmoment der Selbstentfaltung des zu sich kommenden Weltgeistes dialektisch „aufzuheben“ (Phänomenologie des Geistes). Damit macht er gegen die Romantiker die Arbeit des Begreifens, den Anspruch der Wahrheit auf das Ganze – die Totalität der erfahrbaren Dinge inklusive der menschlichen Geschichte – wieder geltend.
Während Hegel die notwendige Kritik der partikularen Religion mit ihrem vernünftig zu begreifenden Sinn konstruktiv vermitteln und so bewahren wollte, traten beide Seiten bei seinen Schülern bald auseinander.
Auguste Comte
Comte (1798-1857) gilt als bedeutendster französischer Philosoph in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er begründete nach seinem Bruch mit dem Frühsozialismus Henri de Saint-Simons mit seinem 1842 veröffentlichten Hauptwerk Cours de philosophie positive den religionskritischen Positivismus.
Grundidee Comtes ist, dass Religion nur in ihren Phänomenen existiert und das Wissen darüber nur relativ, nie absolut sein kann. Die Frage nach dem „Wesen" der Religion und ihrer letzten „Ursache" ist daher sinnlos. Man kann nur nach den Beziehungen zu anderen wahrnehmbaren religiösen Erscheinungen fragen, ihre historische Aufeinanderfolge und ihre Ähnlichkeiten feststellen (Religionsgeschichte). Sofern darin Gesetzmäßigkeiten erkennbar werden, scheidet die Religionswissenschaft alle theologischen und metaphysischen Begriffe aus und wird positiv.
Comte sieht diese ausgeschiedenen Begriffe als Vorstadien der wissenschaftlichen Beschreibung der Religion im Sinne einer notwendigen Entwicklung: Der Fetischismus der primitiven Naturreligionen halte Einzelobjekte für lebendig, der Polytheismus nehme eine Vielzahl unsichtbarer Wesen als Ursache der Naturerscheinungen an, der Monotheismus führe diese auf Willensakte eines einzigen unsichtbaren göttlichen Wesens zurück, der Theismus wie die Metaphysik reduziere dieses Wesen weiter auf abtrakte Kräfte, Urprinzipien, Natureigenschaften.
Der Positivismus erkennt darin bloße Scheinbarkeiten, die er auf strenge Gesetzmäßigkeiten zurückführt. Von der Religion selber her führt ein notwendiger Erkenntnisweg zur reinen Wissenschaft der Phänomene. Jede Einzelwissenschaft mache diese Entwicklung vom naiv-theologischen zum reflektiert-metaphysischen zum positiv-beschreibenden Stadium durch.[8]
Ludwig Andreas Feuerbach
Der „Linkshegelianer" Feuerbach (1804-1872) wendet den zu-sich-selbst-kommenden Begriff in seinem Werk Das Wesen des Christentums (1841) kritisch gegen die Religion und „entlarvt“ sie als Projektion: „Gott“ sei nur der an den Himmel projizierte Selbstausdruck des endlichen Selbstbewusstseins, das sich Unendlichkeit ersehne. Mit der Vorstellung Gottes stelle der Mensch sich sein eigenes Wesen gegenüber, mache es sich als Objekt seiner Sehnsucht gegenständlich anschaulich.
Feuerbach entfaltete diese Kritik in den weiteren Auflagen des Werks (1843, 1849) vor allem an Zentralgedanken der Theologie Martin Luthers: Die Inkarnation – Gott wird endlicher Mensch – sei eigentlich „nicht anderes als“ der verkehrte Wunsch des Menschen, unendlich und unsterblich – wie Gott – zu werden. Er griff dabei ausdrücklich die Kritik Epikurs am Anthropomorphismus der Religion wie auch das Dreistadiengesetz von Lessing und Comte (Religion als „Kindheitsstadium" der Menschheitsentwicklung) auf.
Indem der Mensch in Gott sich selbst wiedererkenne, werde ihm seine religiöse Sehnsucht als Entfremdung gewahr. Indem er sich als den Produzenten Gottes entdecke, könne seine in der Religion fehlgeleitete Vernunft zur Humanisierung freigesetzt werden: In der zwischenmenschlichen Liebe finde der Mensch seine wahre Erfüllung. Damit lehnt Feuerbach das religiöse Element des menschlichen Selbstbewusstseins nicht per se ab, will es aber „übersetzen“ und einsetzen für die Gestaltung eines humanen Zusammenlebens.
Religionskritik ist für Feuerbach also notwendig, um dem religiösen Bewusstsein die Hingabe an ein fremdes Scheinwesen als von ihm produzierten Verblendungszusammenhang aufzudecken. Dann werde Religion durch sinnlich-irdische Liebe zu den Mitmenschen ersetzbar und tendenziell überflüssig. Sie könne und müsse ebenso vergehen wie der an der Unendlichkeit des eigenen Selbst hängende Egoismus, der in der Vorstellung Gottes einsame Selbstbefriedigung suche und finde.
Anders als Hegel zielt Feuerbach also nicht auf die Erkenntnis eines absoluten Geistes, der als an-und-für-sich-seiende oder -werdende Weltvernunft gedacht wird und überindividuell selbsttätig sein und bleiben soll, sondern auf das endgültige Verschwinden der Religion im humanen Fortschritt der Menschheit. Diese, nicht der Einzelne, ist für ihn in Wahrheit unendlich. Nur durch Liebe zur Menschheit kann das Individuum die religiöse Selbstentzweiung aufheben; nur durch Anerkennung seiner Endlichkeit - denn die Sterblichkeit ist das, was alle Menschen zu einer Gattung verbindet - wird er zur Menschlichkeit fähig.
Karl Marx
Marx (1818-1883) übernimmt Feuerbachs Religionskritik und sieht sie analog zur Ideologiekritik als notwendige Vorstufe der Gesellschaftskritik. Mit diesem Impetus begreift er in seinen Frühschriften die Doppelnatur der Religion:
- Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt der herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.
Damit hat Marx klar die Ambivalenz religiösen Bewusstseins ausgesprochen: Es ist für ihn – wie für Feuerbach – Ausdruck eines grundlegenden Mangels im sozialen Miteinander. Es kann sich daher sowohl als Protest gegen das Elend wie als Flucht aus dem Elend in einen illusionären Rausch äußern, also als Selbsttäuschung und Beruhigung über das Elend. In beidem verbirgt sich jedoch eine fundamentale Unfähigkeit, dessen wahre Ursachen zu entdecken und ihnen praktisch abzuhelfen. Religion ist für Marx ebenso wie andere Ideologie ein „verkehrtes Bewusstsein“, das aus den Verhältnissen geboren ist, ihnen aber nur das abstrakte Gegenbild einer irrealen besseren Welt gegenüberstellt.
Darum kritisiert er nun auch Feuerbachs rein individualistischen, selbst noch dem Idealismus verhafteten Ansatz und stellt ihm seine berühmten „11 Thesen zu Feuerbach“ entgegen, die in der 11. These gipfeln:
- Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an sie zu verändern.
Von da aus geht Marx nun von der Religionskritik zur Kritik der politischen Ökonomie, also zur Analyse der auf gesetzmäßiger Ausbeutung gegründeten Klassengesellschaft über. Er kritisiert jene Religionskritiker, die diesen Sprung nicht mitvollziehen und sich an der äußeren Erscheinung der Religion abarbeiten. Mit der Überwindung des Kapitalismus, so erwartet er, wird auch die Religion ihre scheinhafte Notwendigkeit verlieren und – wie der Staat, dessen soziales Ferment sie ja ist – in der klassenlosen Gesellschaft „absterben“.
Max Weber
Weber (1864-1920) antwortete auf Marx mit einem eher geisteswissenschaftlichen und historischen Ansatz: Er sieht Religion in Gestalt des europäischen Protestantismus als Wegbereiter der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft. Die „Lohnethik“ Johannes Calvins habe zu einer asketischen Verzichtshaltung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung beigetragen. Dies habe die Einführung von industriellen Fertigungsmethoden, Produktion von Überschüssen, Realisierung von Mehrwert in der neuen Massenproduktion ermöglicht. Anders als Marx sieht er darin nicht nur ein negatives Element von Klassenherrschaft, sondern auch ein Element des Fortschritts und größerer geistiger Freiheit des Individuums.
Friedrich Nietzsche
Nietzsche (1844-1900) greift im Rahmen einer umfassenden Kulturphilosophie das von der Religion geprägte Menschenbild an, um dem Menschen einen Raum für neue Selbstbestimmung zu eröffnen. Der klischeehafte moralische Dualismus betrachte Menschen entweder prinzipiell als „gut“, „perfekt“ und „heilig“ oder aber als „schlecht“ oder „sündig“ und verfehle damit die Realität: Diese Kritik trifft neben dem Christentum auch andere Religionen, vor allem das Judentum, aber auch den Neokantianismus, den Nietzsches Vater (ev. Pfarrer) vertrat.
In seiner Spätzeit spitzt Nietzsche seine Kritik auf den Kern der christlichen Botschaft zu (Der Antichrist – Fluch auf das Christenthum): Er sieht in der Anbetung eines Gekreuzigten eine barbarische Schwächung aller edlen Eigenschaften des Menschen, so dass er sich die Befreiung zum wahren Menschsein nur als totales Abstreifen des abendländischen Christentums vorstellen kann. In seiner Theorie vom „Übermenschen“ gelangt er zu einer Verherrlichung des Dionysoskultes. In seiner Idee der „ewigen Wiederkehr aller Dinge“ übernimmt er eine aus Indien stammende Reinkarnationslehre, die bei ihm ganz auf die Steigerung des Lebensgefühls und der Lebensmacht ausgerichtet ist. Dieser anthropologischen Stoßrichtung dient auch die Metapher vom „Tod Gottes“, die Nietzsche von Jean Paul übernimmt und radikalisiert (in Der Wanderer und sein Schatten, Die Fröhliche Wissenschaft und Also sprach Zarathustra).
20. Jahrhundert
Psychoanalyse
Sigmund Freud gründete um 1900 die Psychoanalyse mit Anspruch auf wissenschaftliche Methodik. Er sieht religiöse Vorstellungen primär als Ausdruck unbewusster Prozesse und erklärt sie aus infantiler Abhängigkeit. Der religiöse Mensch sehe Gott als Vaterfigur, die er brauche, um die Verantwortung für ein selbstbestimmtes Leben abzugeben. Gottesglaube sei eine illusionäre Befriedigung des kindlichen Wunsches nach Geborgenheit, Sicherheit und Autorität.
Freud identifiziert dieses Gottesbild mit dem Über-Ich als jenem Teil der Psyche, der die normative Unterdrückung der Triebe, vor allem des Sexualtriebes leiste. Es kann als internalisierte Moral Schuldgefühle erzeugen und zu neurotischer Selbstentzweiung führen. Die Psychoanalyse versucht daher, dem Individuum seine eigenen verborgenen Wünsche aufzudecken und einen Teil der in frühkindlicher Sozialisation erworbenen Schuldgefühle zu nehmen.
Die Sublimation von Triebenergie sieht Freud nicht nur negativ, sondern als Antrieb für bedeutende Kulturleistungen des Menschen. Er betrachtete Kultur skeptisch (Das Unbehagen in der Kultur) und erwartete nicht, dass Religion sich aufheben lasse (Die Zukunft einer Illusion). Eine argumentative Widerlegung Gottes und aktive Bekämpfung religiöser Ausdrucksformen war nicht sein Anliegen, sondern die individuelle Integration von Über-Ich, Ich und Es in eine reife erwachsene Selbstannahme, die eine freie Entscheidungsfähigkeit in allen Lebensbereichen ermöglicht.
Freuds Schüler Wilhelm Reich versuchte, Psychoanalyse und Marxismus miteinander zu verbinden (Freudomarxismus) und damit das soziale Bedürfnis nach Religion besser zu verstehen. Er sieht die modernen Sexualneurosen als Ergebnis eines Jahrtausende alten kulturellen Masochismus, der in Form von Religionen und anderen Leidensideologien die menschliche Bereitschaft zur Unterwerfung unter gesellschaftliche Macht- und Gewaltstrukturen prägt. Die mögliche Überwindung dieser Zwangsneurose sieht er in der freien Entfaltung der natürlichen Sexualität als wesentlichem Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Durch seine enge Freundschaft mit Alexander Sutherland Neill ist Reich in der 68er-Bewegung zu einem beliebten Vorbild für die antiautoritäre Erziehung geworden.
Bertrand Russell
Einen konsequenten naturwissenschaftlich begründeten Rationalismus vertritt der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell in seinem berühmten Essay Why I Am Not A Christian (1927). Die Grundlage der Religion sei die Angst – vor dem Mysteriösen, vor der Niederlage, vor dem Tod. Angst sei der Vater der Grausamkeit und so nehme es nicht Wunder, dass Grausamkeit und Religion historisch Hand in Hand gegangen seien. Die Konzeption Gottes entspringe einem altertümlichen orientalischen Despotismus, die des freien Menschen unwürdig sei. Die Welt brauche keine Religion, sondern eine furchtlose Perspektive und freie Intelligenz.
Logischer Empirismus
Autoren, die sich der Tradition des Logischen Empirismus verpflichtet fühlen (der frühe Wittgenstein, Rudolf Carnap, Alfred Jules Ayer u.a.) üben Kritik an der religiösen Sprache, deren Sätze für sie zu großen Teilen sinnlos sind. Sinnvolle Sätze sind entweder rein analytische Sätze und damit Tautologien oder empirisch-synthetische Sätze, die sich durch Erfahrung prinzipiell verifizieren lassen. Gehört ein Satz keiner dieser beiden Klassen an, so ist er ein Scheinsatz, d.h. weder wahr noch falsch, sondern sinnlos. Da die Sätze der Religion, insofern sie Ausdrücke wie „das Absolute“, „der absolute Geist“ oder „Gott“ verwenden, weder tautologisch noch verifizierbar sind, muss auch ihnen jeglicher Sinn abgesprochen werden.
Von den Vertretern des Logischen Empirismus wird dabei nicht geleugnet, dass die Suche nach einem letzten Grund der Welt und des Lebens emotional verständlich sein mag. Der Rückgriff auf eine Gottheit erkläre aber nichts, da er nicht zu Hypothesen führt, die sich erfolgreich auf die Tatsachen anwenden lassen.
Kritischer Rationalismus
Karl Popper, der führende Vertreter des Kritischen Rationalismus, erkennt prinzipiell einen positiven kulturellen Einfluss der christlichen Religion an, der „wir zahlreiche Ziele und Ideale unserer abendländischen Kultur, wie die Freiheit und Gleichheit, dem Einflusse des Christentums verdanken“. [9] Als kritikwürdig gelten Popper aber Intoleranz, Geschichtsdeterminismus und Vernunftfeindschaft, die häufig Aspekte religiöser Einstellungen darstellen.
Als ein generelles Problem sieht der Kritische Rationalismus den seiner Ansicht nach grundsätzlich „dogmatischen“ Charakter von Religionen an. Dieser Vorwurf wird in besonderer Schärfe vom Popper-Schüler Hans Albert vorgetragen. Religiöse Aussagen erheben demnach einen Letztbegründungsanspruch, der sich auf bestimmte „Einsichten“ und „Offenbarungen“ beruft. Albert lehnt dies als einen willkürlichen Abbruch des Begründungsverfahrens ab, der dazu diene, „die betreffende Überzeugung gegen alle möglichen Einwände zu immunisieren“. Er setzt dagegen das „Prinzip der kritischen Prüfung“; mit diesem habe man „die Aussicht, durch Versuch und Irrtum – durch versuchsweise Konstruktion prüfbarer Theorien und ihre kritische Diskussion anhand relevanter Gesichtspunkte – der Wahrheit näher zu kommen ohne allerdings jemals Gewißheit zu erreichen“. Dies bedeutet einen „Fallibilismus in bezug auf jedwede mögliche Instanz“, d.h. man kann von keiner Instanz wie etwa „der Vernunft, der Intuition oder der Erfahrung, dem Gewissen, dem Gefühl, einer Person, einer Gruppe oder einer Klasse von Personen, etwa von Amtsträgern“ ausschließen, dass sie sich irrt. Diese „Einsicht, daß alle Gewißheit in der Erkenntnis selbstfabriziert […] und damit für die Erfassung der Wirklichkeit ohne Bedeutung“ sei, stelle „den Erkenntniswert jedes Dogmas“ in Frage.[10]
Existenzialismus
Ähnlich argumentiert auch Jean-Paul Sartre mit seinem „atheistischen Existentialismus“. Für ihn ist Gott nichts als eine Bedrohung der menschlichen Freiheit. Der erste Schritt des Existenzialismus sei es, jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen:
- Selbst wenn es einen Gott gäbe, würde das nichts ändern; das ist unser Standpunkt. Nicht, als ob wir glaubten, dass Gott existiert, aber wir denken, dass die Frage nicht die seiner Existenz ist. Der Mensch muss sich selber wieder finden und sich überzeugen, dass ihn nichts vor ihm selber retten kann, wäre es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes.
Der deutsche Existenzphilosoph Karl Jaspers vertritt dagegen eine „existenziale Interpretation“, d.h. eine auf den einzelnen Menschen bezogene Auseinandersetzung mit dem Transzendenten und bezieht sich auf die „maßgebenden Menschen“ nach der Reihenfolge ihrer Bedeutung: Sokrates , Buddha, Konfuzius und Jesus. Offenbarungsglauben kritisiert er zugunsten eines philosophischen Glaubens, den das Individuum entwickeln muss und der keine Verheißung, sondern lediglich Selbstverantwortung mit sich bringt.
Neomarxismus und Neokantianismus
Ernst Bloch kritisiert den dogmatischen Marxismus in seinem Versuch, die Religion durch Revolution abzuschaffen. Er stellt dagegen das Moment der Utopie, das jede erstarrte Herrschaftsform transzendiert. Dieses unabgegoltene Hoffnungspotential findet er gerade auch in der Religion wieder (Atheismus im Christentum, Prinzip Hoffnung).
Auch die Philosophen der Frankfurter Schule sehen den vulgärmarxistischen Rationalismus kritisch als eine Art „Religion“, die ein absolutes Wissen über das Ziel der menschlichen Gesellschaft vorgibt und damit nur neue Eindimensionalität und Herrschaft etabliere (Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch).
Jürgen Habermas sieht den Empirismus in teilweise derselben Beweisnot wie die Religion: So sei auch der entschiedene A-Theismus einem negativen Gottesbild verhaftet, für das es in der Realität kaum Anhaltspunkte gebe. Der Nicht-Glaube an Gott sei letztlich auch nur eine (negative) Glaubensüberzeugung.
Agnostizismus, Relativismus und Eklektizismus
Eine heute weit verbreitete Haltung sieht die Existenz eines „Gottes“ als weder beweisbar noch widerlegbar an (Agnostizismus). Sie sieht in der Tradition Kants metaphysische Fragen, die auf eine transzendente Realität zielen, als sinnlose Fragen an, da die Antworten jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens lägen: so zum Beispiel Emil Heinrich du Bois-Reymonds „Ignoramus et ignorabimus“ (lat. „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“).
Ebenso verbreitet ist ein postmoderner Relativismus, der jedem Menschen seine individuelle Form von Religiosität zugesteht und auf die Wahrheitsfrage weitgehend verzichtet. Diesem entspricht – ähnlich wie im Hellenismus um die Zeitenwende – ein neues Aufleben religiöser Strömungen, die sich nicht mehr von den großen Weltreligionen, Kirchen und Glaubensrichtungen her definieren, sondern Elemente daraus auswählen (Eklektizismus) und mit paganen Motiven zu einem Synkretismus und Pluralismus auch im Blick auf die Gottheit verbinden.
Dies findet man heute vor allem in der Esoterik, aber auch in eher nichtreligiösen Richtungen. Ihnen ist die Abgrenzung von den traditionell monotheistischen Religionen gemeinsam, die mit dem Glauben an einen einzigen universalen Gott oft einen Absolutheitsanspruch ihrer Lehre verbinden. So stimmt etwa der Philosoph Odo Marquard ein „Lob des Polytheismus“ an (in: Abschied vom Prinzipiellen, 1981), in dem er den Monomythos des Christentums als ersten Geschichtsunfall bezeichnet. Dem setzt er die segnende Wirkung des religiösen Pluralismus entgegen. (vgl. auch Jan Assmann)
Naturwissenschaftliches Weltbild der Gegenwart
Der aktuelle Wissensstand über die Entstehung von Universum, Leben und Mensch widerspricht bestimmten religiösen Vorstellungen:
- dem Konzept einer Schöpfungsgeschichte (jüdisch-christlich-islamische Tradition, alte deutende Erzählungen wörtlich genommen): Sie lasse sich nicht mit der Theorie vom Urknall in Einklang bringen.
- dem Konzept einer „ewigen Wiedergeburt“ (Hinduismus, Buddhismus): Diese finde keine Bestätigung in der historischen Genese des Lebens und der Evolution der Arten.
- der Theorie vom Intelligent Design: Intelligentes Bewusstsein wird in manchen Religionen als Qualitätssprung angesehen, der nicht evolutionär denkbar sei, sondern auf einen Schöpfer oder eine Weltvernunft (z.B. das Brahman) hinweise. Dagegen zeige die Evolutionstheorie mit dem Konzept der Emergenz, wie sich eine graduelle Entwicklung des menschlichen Großhirns vollzieht.
- dem Konzept von „Wundern“ als kontingenten Ereignissen ohne physikalische Erklärung: Dies setze voraus, dass ein „höheres Wesen“ die Naturgesetze beliebig ein- und ausschalten könnte. Für ein solches Aussetzen des Ursache-Wirkungs-Prinzips gebe es aber keine empirischen Hinweise („es geht alles mit rechten Dingen zu“).
- dem Konzept der Transformation des Kosmos: Transzendente Zukunftserwartungen wie das jüdisch-christlich-islamische Konzept der Auferstehung würden dem gesetzmäßigen Energieausgleich gemäß dem 1. und Energieaustauch gemäß dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik so wie der berechenbaren Endlichkeit des Universums gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie, die durch astronomische Beobachtung gestützt wird, widersprechen.
Neuere religionskritische Literatur
Seit 1945 sind vielfach schon lange bestehende religionskritische Ansätze von den unterschiedlichsten Autoren, oft aus dem Bereich der Humanwissenschaften, neu aufgegriffen und - auch in persönlicher Form - vertieft oder erneuert worden. Beispiele dafür sind:
- das Buch des Theologen und Philosophen Joachim Kahl Das Elend des Christentums (1968), das in polemischer Form für eine Humanität ohne Gott (Untertitel) plädierte im Kontext der existenzialistischen „Gott-ist-tot“-Theologie der 1960er Jahre.
- das Buch des Psychanalytikers Tilmann Moser Gottesvergiftung (1976), in dem der Autor seine eigene religiöse Sozialisation beschreibt. Er kommt heute mit einem Nachfolgewerk Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gottesbild.
- das Buch des Psychologen Franz Buggle Denn sie wissen nicht, was sie glauben (2003), das vor allem die Bibel als ungeeignete Basis für ethische Orientierung erklärt (siehe Bibelkritik), aber auch zu neueren theologischen Strömungen kritisch Stellung bezieht, z. B. zu Hans Küng.
- das Lebenswerk von Karlheinz Deschner, die Kriminalgeschichte des Christentums. Diese Religionskritik ist eine minutiöse Auflistung und historische Aufarbeitung zahlreicher Verbrechen (Lüge, Betrug, Folter, Mord, Kollaboration) von Kirchenvertretern und will die inhumanen Wirkungen kirchlicher Machtpolitik wie auch die Widersprüche zwischen Worten und Taten, Verlogenheit und Heuchelei von Christen aller Epochen aufdecken: bis hin zur Zusammenarbeit von Vatikan und faschistischen Regimen.
- neuere Islamkritiker wie Taslima Nasrin, Salman Rushdie, Ayaan Hirsi Ali: Sie sind alle von Ermordung durch Islamisten bedrohte ehemalige oder liberale Muslime und wenden sich heute ebenso gegen den islamischen Fundamentalismus wie gegen viele antimoderne, frauen- und demokratiefeindliche Praktiken, die mit angeblich unumstößlichen Aussagen des Koran legitimiert werden. Dabei vertreten einige dieser Islamkritiker aber eine immanente Argumentation, wonach die im Namen des Islam begangenen Verbrechen aus Fehldeutungen der wahren Religion folgten. Diese Kritik wird ihrerseits von Vertretern der europäischen Aufklärung als unzureichende, Gewalt stabilisierende Religionsapologetik kritisiert.
Religionskritik der jüdischen und christlichen Theologie
Biblische Götzenkritik
Das menschliche Streben, sich mit „höheren Mächten“ in Einklang zu bringen, diese zu Gottesbildern zu verdichten, sich als Gegenstände der Anbetung gegenüberstellen, dafür kollektive Verehrung zu beanspruchen und Herrschaftsverhältnisse damit abzusichern, unterliegt im Tanach, der Hebräischen Bibel, scharfer Kritik.
Das Bilderverbot als Kehrseite des 1. Gebots (siehe Zehn Gebote) verbietet dem Volk Israel jegliche Gottesbilder und deren Anbetung. Dieses richtet sich nicht nur gegen fremde Götter, sondern vor allem gegen die Tendenz, über JHWHs Wesen zu verfügen und ihn für menschliche Zwecke zu benutzen. Die Prophetie Israels kritisiert dieses Streben seit ihren Anfängen besonders im Blick auf die religiösen und politischen Führer des Gottesvolkes. Sie bezieht die Kritik vor allem auf den Wunsch nach einem König wie bei anderen antiken Völkern (Samuel 1 Sam 8), Synkretismus (Elija 1 Kön 8), Ausbeutung durch Priester und Königshof (Buch Amos), Opferkult und Rechtlosigkeit im Namen des JHWH-Glaubens (Hosea), Bündnis- und Rüstungspolitik mit Berufung auf Gott (Jesaja), die am Tempel angestellten willfährigen Heilsprofeten (Jeremia) usw.
Seit dem Untergang der beiden Teilreiche (586 v. Chr.) erinnert die biblische Geschichtsschreibung an das immer wiederkehrende Versagen des Gottesvolkes und seiner religiösen Führer, die nicht auf Gottes Selbstmitteilung warteten, sondern eigenmächtige Gottesbilder produzierten und damit Unheil für alle heraufbeschworen: etwa in der Geschichte vom Goldenen Kalb (Ex 32).
In der im Babylonischen Exil entworfenen Darstellung der Weltschöpfung schlägt sich die Erinnerung an den Exodus aus der Sklaverei, die mit der Gottkönigsideologie begründet wurde, nieder: Die erfahrbare Welt wird entgöttert, die babylonischen Astralgottheiten sind zu „Lampen“ und Wegmarken für den Menschen depotenziert (Gen 1,14ff).
Reformatorische Religionskritik
Seit der Reformation sieht die christliche Theologie die Kritik an der eigenen Religion, dem Christentum, als eine ihrer Hauptaufgaben. Martin Luther stellte den Maßstab der Selbstmitteilung Gottes in der Person Jesus Christus, die nicht von Menschen zu erfinden und festzustellen sei, allen historisch gewachsenen religiösen Traditionen, dem gesamten Kirchenapparat, der scholastischen Synthese von Glauben und Wissen und der „Hure Vernunft“, die sich für unterschiedlichste Zwecke missbrauchen lasse, gegenüber. Dies galt ihm nicht bloß für den Katholizismus, sondern als ständige Überprüfung der gesamtchristlichen Theorie und Praxis und Ansporn zu Kirchenreformen mit gesellschaftlicher Außenwirkung (ecclesia semper reformanda).
Liberale Theologie
Johann Heinrich Tieftrunk (1759-1837), rationalistischer evangelischer Theologe, antwortete auf Kants Fundamentalkritik am metaphysischen Denken mit dem Versuch einer Kritik der Religion und religiösen Dogmatik, mit besonderer Berücksichtigung des Christenthums (1790) und einer Censur des christlichen protestantischen Lehrnbegriffs nach den Principien der Religions-Kritik (1791ff). Darin führte er eine Selbstkritik am religiösen Bewusstsein überhaupt durch, um die Religion über sich selbst aufzuklären und auf ihre praktische Vernunft – ihren Beitrag für menschliches Zusammenleben – hin zu überprüfen. Maßstab war für ihn wie für Kant die vernünftige Selbstbestimmung: Religion wird Objekt der Kritik, sofern sie gegen dieses Postulat verstößt. Dieser Ansatz wurde für die folgende liberale neuprotestantische Theologie maßgebend.
Karl Barth
Nachdem der Neuprotestantismus sich im 19. Jahrhundert auf die empirische Religiosität, die subjektive Gotteserfahrung und den durch Sittlichkeit zu veredelnden zivilisatorischen Fortschritt zurückzog, erneuerte Karl Barth den reformatorischen Ansatz nach 1918, griff die Religions- und Ideologiekritik von Feuerbach und Marx positiv auf und führte sie christologisch durch (Kirchliche Dogmatik I/2, §17: Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion). Gott offenbare sich in Jesus Christus im völligen Gegensatz zu menschlicher Religion. Im Kreuzestod Jesu zeige Gott sein wahres Wesen: Damit decke er alles eigenmächtige Streben nach einer Synthese zwischen Gott und Mensch als Sünde auf. Religion erscheint in diesem Spiegel als nie zu Gott führendes Menschenwerk, als Eigenmacht und Verleugnung des wahren, zu Leiden und Tod für den Menschen fähigen Gottes.
Barth bezog diese Kritik 1938 besonders auf den Protestantismus seiner Gegenwart, der sich mit weltlichen Mächten von Nation, Rasse, Staat verbündete und konfessionellem Sonderbesitz anhing, dabei aber den mit den Juden leidenden und sterbenden Gott verleugnete und übersah.
Dietrich Bonhoeffer
Bonhoeffers Denken und Handeln kreiste um das Leitmotiv: Wer ist Jesus Christus für uns heute? Die Antworten, die er fand und vorlebte, stellten das herkömmliche Christentum, seine religiösen Ausdrucksformen, seine anachronistische Apologetik und politische Weltfremdheit immer stärker in Frage und ließen es schließlich ganz zurück.
Als Pazifist kritisierte Bonhoeffer die Unverbindlichkeit der Ökumene und die nationalistischen Bindungen ihrer Mitgliedskirchen, die zu keinem schlichten, gemeinsamen, leidensbereiten, nur so von den Nationen unüberhörbaren Friedenszeugnis gegen den drohenden Weltkrieg fähig waren (Rede in Fanö 1937). Als Teilnehmer am konspirativen Widerstand gegen den Nationalsozialismus übte er schärfste Selbstkritik stellvertretend für die mutlose, mit ihrer eigenen Existenzerhaltung beschäftigte, gegenüber den Opfern des NS-Staates versagende Bekennende Kirche (Schuldbekenntnis 1941). In seinen letzten Lebensmonaten verabschiedete er sich vom abendländischen Modell des Christentums als einer Religion, die die „mündig gewordene Welt" einfach nicht brauche.
Jede dieser Kritiken war für ihn eine schmerzhaft entdeckte, unvermeidbare Antwort auf die Herausforderung zur Nachfolge Jesu mitten in der Gegenwart. Sein Buch Nachfolge begann mit dem Satz: Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Billig war für ihn eine auf Predigt und Sakramente reduziertes Heilsangebot, das als Ausrede für Nichtstun und Gleichgültigkeit gegenüber der Not des Nächsten diente: ein „Glaube" ohne Selbstkritik (Buße), ohne entsprechendes Handeln, ohne Bereitschaft, mitzuleiden und Verantwortung zu übernehmen für andere.
Seine Ethik (1940-1943) war eine umfassende Absage an jede von zeitlosen Idealen, Normen und Prinzipien ausgehende Tugendethik und an die lutherische Zwei-Reiche-Lehre: Das traditionelle Denken in zwei Räumen - hier die dem Bösen verfallene Welt, dort Gottes unerreichbare jenseitige Gegenwelt, hier der faule Kompromiss mit dem Diesseits, dort der ebenso faule pseudorevolutionäre Hass auf das Bestehende - verfehle die Wirklichkeit, in die hinein das konkrete Gebot Gottes den Christen hier und heute stelle. Das schlichte Dasein Jesu Christi im leidenden Nächsten decke die falschen Fronten der Gegenwart auf: Schlimmer als die böse Tat ist das Bösesein. Schlimmer ist es, wenn ein Lügner die Wahrheit sagt, als wenn ein Liebhaber der Wahrheit lügt; schlimmer, wenn ein Menschenhasser Bruderliebe übt, als wenn ein Liebhaber der Menschen einmal vom Hass überwältigt wird. Um den Nächsten zu retten und das Menschenrecht angesichts der totalen Herrschaft des Bösen (in Gestalt des NS-Staates) zu bezeugen, sei der Christ unter Umständen zum Bruch aller Zehn Gebote genötigt.
Seine Gefängnisbriefe (April bis August 1944) an Eberhard Bethge enthielten offene Fragen, Skizzen, Aphorismen und Visionen, die auf eine umfassende Abkehr von allen religiösen Formen des christlichen Glaubens und Hinwendung zu einem „religionslosen Christentum" zielten:
- Die Zeit, in der man alles den Menschen durch Worte ... sagen konnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und das heißt eben die Zeit der Religion überhaupt.
Jedes Stichwort stand für eine Variante der protestantischen Theologie: Wortmitteilung für die lutherische Orthodoxie, Innerlichkeit für Schleiermachers romantisches „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“, Gewissen für Albrecht Ritschls und Wilhelm Hermanns neokantianischen Moralismus. Demgegenüber sah Bonhoeffer eine Zukunft ohne Religion voraus:
- Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen, die Menschen können einfach so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein. Unserem ganzen bisherigen „Christentum“ wird das Fundament entzogen, und es sind nur noch ein paar letzte Ritter, oder ein paar intellektuell Unredliche, bei denen wir religiös „landen“ können.
Das „religiöse Landen“ meinte die herkömmliche apologetische Methodik, einen Grenzbezirk im menschlichen Denken und Fühlen aufzuweisen, um dort „Gott“ zu vermitteln und einleuchtend zu machen:
- Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis zu Ende ist oder menschliche Kräfte versagen - es ist eigentlich immer der deus ex machina [Gott aus der Maschine], den sie aufmarschieren lassen - entweder zur Scheinlösung unlösbarer Probleme oder als Kraft bei menschlichem Versagen, immer also in Ausnutzung menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen. [...]
Die religiöse Art des Redens von Gott sei „einerseits metaphysisch, andererseits individualistisch“: Dies bezog sich auf den katholischen Thomismus ebenso wie auf die lutherische Rechtfertigungslehre. Beide verfehlten die Situation des heutigen Menschen, der seine Welt nicht mehr unter religiösen Vorzeichen sehe und gestalte. Der Prozess der Aufklärung und Säkularisierung sei unumkehrbar:
- Ich will also darauf hinaus, dass man Gott nicht noch an irgendeiner letzten Stelle hineinschmuggelt, sondern dass man die Mündigkeit der Welt und des Menschen einfach anerkennt...
- Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in dieser Welt leben müssen - "etsi deus non daretur". [als ob es Gott nicht gäbe].
- Der Auferstehungsglaube ist nicht die Lösung des Todesproblems. Das Jenseits Gottes ist nicht das Jenseits unseres Erkenntnisvermögens! ... Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig.
Diese Einsicht fand Bonhoeffer gerade im Evangelium:
- Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis... [der unumkehrbar mündig gewordenen Welt]
- Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt ... Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns ... nicht kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens! ... Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, dass die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der nur durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt...
Gerade weil Bonhoffer an die Gegenwart Christi in dieser Welt glaubte, war „Religion" für ihn Flucht aus der Realität in ein imaginäres Jenseits. Dies zielte nicht auf eine neue „modernere" Auslegung der Bibel für Atheisten, wie es später die Gott-ist-tot-Theologie unternahm, sondern auf eine ganz andere christliche Existenzweise:
- Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion, sondern zum Leben.
Damit wagte er eine erste Antwort, wie ein künftiges Christuszeugnis in einer faktisch religions- und gottlosen Welt aussehen könne. Realitätsgerecht sei allein das Leiden für Andere unter Verzicht auf jeden religiösen Egoismus und jede heimliche Missionsabsicht. Die Kirche habe sich in der Nazizeit als unfähig erwiesen,
- ...Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen.
- ...jeder Versuch, ihr [der Kirchengestalt] vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein.
Die künftige Kirche müsse gleich zu Beginn alles Eigentum den Notleidenden geben. Die Pfarrer müssten ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, eventuell von einem gewöhnlichen Beruf. Sie müssten ständig und ganz an den gesellschaftlichen Aufgaben teilnehmen, „nicht herrschend, sondern helfend und dienend“. Nur so könnten Christen den Menschen zeigen, was ein Leben in Christus heiße und als Vorbilder wirken.[11]
Theologie nach Auschwitz
Unter diesem Schlagwort haben v.a. auch Theologen religionskritische Überlegungen angestellt, so Dorothee Sölle; auch das Theodizee-Problem hat durch Auschwitz (pars pro toto für die Shoa) eine Verschärfung erfahren, so bei Günther Anders – die katholische Kirche hat in der Folge mit Karl Rahner ein anonymes Christentum angedacht, also ein aus der Legitimität des Zweifels geborenes Abfallen von der Religion, das entgegen der Formel „extra ecclesiam nulla salus“ doch heilig sein könne. (vgl. auch Zweites Vatikanisches Konzil).
(Siehe auch: Hans Jonas)
Buddhistische Religionskritik
Allgemeine Einleitung zu Religionen
Die traditionell in der Religionskritik angesprochene Kritik ist universell gesprochen eine Monotheismuskritik oder Schöpfergottkritik und nicht eine Religionskritik im Sinne aller Religionen. Dieser Unterschied wird in der Regel übersehen, weil innerhalb der europäischen Kultur die Kenntnis von Christentum, Judentum und Islam -- die alle aus derselben Quelle schöpfen -- unzulässig auf andere Kulturen erweitert wird, auch in Form von Kritik: So wurden antireligiöse Maßnahmen durch den Kommunismus, der sich von Anfang an gegen die kulturelle Vorherrschaft v.a. der katholischen Kirche richtete („Opium des Volkes“, Karl Marx), in Russland und China auch gegen ganz andere Religionen ergriffen.
Andere Religionen behaupten aber keineswegs dieselbe Art von Wirklichkeit. So haben die meisten Religionen verschiedene Götter und Dämonen, die folglich kein Urprinzip, sondern lediglich bestimmte Wesenheiten sind. Die andernorts üblichen Erfahrungsreligionen haben ein Interesse an der Wahrheit oder an Vorteilen (verschiedenen Umfangs), nicht jedoch (wie Christentum und Islam) an der Verbreitung der Religion und an religiöser Gleichschaltung. Somit fällt häufig der gesellschaftspolitische Aspekt gewaltsamer Mission weg. Inhaltlich ist Kritik nicht Blasphemie, sondern als wichtig erachtete Reflexion zum Zweck besseren Verstehens. Erst Judentum, Christentum und Islam haben diese religiös tolerante Situation der Antike grundlegend verändert.
Im Buddhismus ist die genaue Kenntnis aller denkmöglichen und historisch belegten Weltanschauungen ein normales Lernfach in der Mönchsausbildung. In den Klosteruniversitäten der Gelug-Schule in Tibet folgt man hierbei überblicksmäßig dem Werk „Kostbarer Kranz der Lehrmeinungen“ (cf. Söpa und Hopkins 1984).
Kritik des Objektivismus
Der „Kostbarer Kranz der Lehrmeinungen“ bespricht auch kurz eine Weltanschauung, die heute in Europa weitverbreitet ist: Der „Hedonismus“ („Cârvâka“, für Europa vielleicht „Realismus“ oder „wissenschaftliche“ oder „säkulare Haltung“):
„Die Cârvâkas [Hedonisten] sagen: Es ist nicht so, daß man aus einem früheren Leben in dieses Leben kommt, denn niemand hat eine Wahrnehmung vom früheren Leben. Durch das zufällige Vorhandensein eines Körpers erhält man durch Zufall einen Geist, genauso wie man aus dem zufälligen Vorhandensein einer Lampe durch Zufall Licht erhält.“
Dabei werden die Leugnung der Ursache-Wirkung-Beziehung für das, was man nicht ergründen kann, und der immanente Anspruch des Objektivismus kritisiert, dem das Faktum der allumfassenden und netzwerkartigen Ursache-Wirkung-Beziehungen in der Realität und die Nichtobjektivität der eigenen Wahrnehmung logisch entgegenstehen:
„So behauptet dieses System, daß es sich bei allen Objekten des Erkenntnisvermögens [also bei allem Existierenden] zwangsläufig auch um spezifisch charakterisierte [also direkt wahrgenommene] Erscheinungen handelt und daß alle gültigen Erkenntnismittel notwendigerweise auch direkte gültige Erkenntnismittel sind. Der Grund für diese Annahme ist, daß es für sie keine allgemein charakterisierte [das heißt nicht direkt wahrgenommene] Erscheinungen oder schlußfolgernd gültige Erkenntnismittel gibt. Einige Cârvâkas meinen, alle Erscheinungen [deren Ursache nicht direkt wahrgenommen werden kann] entstehen ohne Ursache, aus ihrer eigenen Natur. [...]“
Diese Haltung hat große Ähnlichkeit mit Argumentationen in der Wissenschaftstheorie, die vor allem im Rahmen des sogenannten radikalen Konstruktivismus und der Wissenschaftssoziologie gemacht wurden; demnach bestehen nicht nur ernsthafte Zweifel an der Objektivität unserer Wahrnehmungen, sondern es ergibt sich auch die Einsicht in den vernetzten (zirkulären) Aufbau der Wirklichkeit. Nicht zuletzt hat der Konstruktivist Francicso Varela bis zu seinem Tod mit S.H. dem Dalai Lama gemeinsam wissenschaftstheoretische Kolloquien organisiert.
Kritik des Schöpfergottglaubens
Im Sinne der europäischen Religionskritik ist also besonders zu beachten, was der Buddhismus über die Annahme eines Schöpfers des Universums („Ishvara“) sagt. In dieser Angelegenheit verweist der berühmte Gelehrte Tsongkhapa auf die logische Schwäche, ein Ursache-Wirkungs-Prinzip anzunehmen, das bei einer als substantiell postulierten ersten Ursache beginnt. Nach buddhistischem Verständnis formuliert er, dass man niemals Befreiung (aus der Verfangenheit im Samsara) erlangen könnte, wenn es ein solches ewiges und grundlegendes (also unüberwindliches) Prinzip gäbe, von dem alles andere abhängt:
„Die Schriften, in denen von anderen Schulen das Hauptziel der Personen gelehrt wird, widersprechen sich nur selbst. Zum Beispiel verkünden sie, ein unvergänglicher Faktor, etwa ein allgemeines Prinzip (pradhâna) oder ein Herr (ishvara), sei der Schöpfer des Existenzkreislaufes, und sie sagen weiter, wer nach Befreiung suche, überwinde diesen Existenzkreislauf, indem er den Pfad kultiviere. Das ist widersprüchlich, denn ohne seine Hauptursache zu überwinden, läßt sich der Existenzkreislauf nicht überwinden, und seine Ursache ließe sich niemals überwinden, wäre sie unvergänglich. In gleicher Weise ist es widersprüchlich, die Ansicht der Selbstlosigkeit zurückzuweisen und [gleichzeitig] als Objekt der Erlangung eine Befreiung zu nehmen, die die Fesseln des Existenzkreislaufes durchschneidet.“
Stattdessen ist also zu verstehen, dass die Welt nicht objektiv existiert, sondern das Resultat einer Fehlwahrnehmung des eigenen Bewusstseinsstroms ist, der sein eigenes Erleben in Ich vs. Welt aufspaltet. Dadurch wird die Annahme eines vom Selbst abgetrennten (unvergänglichen) Schöpfergottes obsolet – die Welt ist unsere Interpretation unseres eigenen Erlebens, keine Schöpfung.
Erkenntnistheorie
Im Buddhismus wird das Erkenntnisproblem ausführlich erörtert, und man macht dabei eine Unterscheidung, die für die Beurteilung von Religionen (und allgemeiner: Weltanschauungen) von Belang sind. Zunächst muss man einsehen, dass jeder Mensch als in sich geschlossenes System agiert und Verständnis immer nur auf Basis seiner eigenen (augenblicklichen) Voraussetzungen hervorbringt; das bedeutet aber auch, dass nicht alles, was man nicht versteht, deshalb auch falsch wäre. Weiterhin unterscheidet man daher „offensichtliche Fakten“ (die die meisten sofort einsehen), „nicht sofort offensichtliche Fakten“ (die von den allermeisten nach kurzer Reflexion verstanden werden können), und „nur sehr schwer zugängliche Fakten“ (die normalen Menschen nicht leicht verständlich werden):
„Die Lehren, die der Buddha über die nicht-offensicht[lichmach]baren Erscheinungen gegeben hat, sowie die äußerst subtilen Darstellungen solcher sehr verborgenen Erscheinungen wie Handlung und Wirkung können nicht durch Beweisführungen als richtig erkannt werden. Wie kann man dann ihre Richtigkeit feststellen?
Die Richtigkeit von offensicht[lichmach]baren Erscheinungen braucht man nicht durch Beweisführung festzustellen, weil sie direkt den Sinnen erscheinen. Dagegen kann man die leicht verborgenen Erscheinungen mit Hilfe einer Beweisführung erkennen, die ein Verständnis aus Schlußfolgerungen bewirkt.
Leerheit ist zwar etwas sehr Tiefes, aber nur leicht verborgen und deshalb der Beweisführung zugänglich. Mit dem Entstehen einer Überzeugung von der Unbestreitbarkeit von Buddhas Lehren über die tiefe Leerheit gelangt man auch zu der Überzeugung von der Gültigkeit seiner Lehren über die sehr verborgenen Erscheinungen, die einer Beweisführung nicht zugänglich, aber auch weniger wichtig sind.
Wir fragen uns vielleicht, wie es zum Beispiel möglich sein kann, was der Buddha in Sutras wie Der Weise und der Tor (‚Damamûkonâsûtra‘) über die Wirkung von Taten berichtet. Da es sich um sehr verborgene Erscheinungen handelt, lassen sie sich durch Beweisführung nicht erkennen – es scheint so, als könne der Buddha behaupten, was er will. Allerdings können wir aufgrund unserer eigenen Erfahrungen Lehren bestätigen, die der Buddha zu wichtigeren Punkten gegeben hat – zur Leerheit, zum selbstlosen Erleuchtungsgeist, zur Liebe und zum Mitgefühl. Diese Lehren sind fähig, einer Untersuchung standzuhalten und können als mächtige Gedankenquellen dienen. Dabei spielt es keine Rolle, wer sie untersucht, wenn der Betreffende nicht durch Begierde und Haß beeinflußt ist. Wenn man sieht, daß der Buddha mit diesen Erscheinungen, die von größerer Wichtigkeit sind, nicht fehlgeht, kann man ]zum ersten Mal[ [zunächst einmal] auch die anderen Darstellungen von ihm annehmen.“
Wie man bei dieser Darstellung feststellen kann, ist also für eine Religionskritik nicht einfach nur das augenblickliche eigene Verständnis notwendig, sondern eine Evaluierung der Behauptungen einer Weltanschauung im Blick darauf, ob zentrale Lehren relativ leicht auch logisch-intellektuell zu verstehen sind oder nicht. Dies ist dann ein Maßstab dafür, ob man sich möglicherweise der Mühe unterzieht, auch die komplexeren Aussagen zu prüfen oder zunächst ohne Beweis als möglich anzunehmen.
In diesem Sinn ist eine weltanschaulich sehr zentrale, aber gleichzeitig nicht-offensichtliche Annahme eines Schöpfergotts eine erkenntnistheoretisch höchst problematische Anschauung.
Zitate
- „Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt.“ - Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion
- „Es ist wirklich dem Menschen natürlich, alles zu personifizieren, was er begreifen will, um es später zu beherrschen.“ - Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion
- „Es gibt keine Instanz über der Vernunft.“ - Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion
- „Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat.“ - Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion
- „Ich denke, also bin ich kein Christ.“ - Karlheinz Deschner
- „Er ist ein heller Geist und also ungläubig.“ - Goethe (Wilhelm Meisters Wanderjahre)
- „Man soll nicht in Kirchen gehn, wenn man reine Luft atmen will.“ - Nietzsche
- „Der Glaube kann uns niemals von etwas überzeugen, was unserer Erkenntnis zuwiderläuft.“ - John Locke
- „Die Gläubigen sind selten Denker und die Denker selten gläubig.“ - Hans Daiber
- „Ja, man hat das Recht, Gott zu karikieren.“ - Kommentar der France Soir (französische Zeitung) zu ihrem Nachdruck von Mohammed-Karikaturen von Jyllands-Posten (dänische Zeitung)
- „Glaubenskriege bedeuten: Wer hat den besseren imaginären Freund“ -Autor unbekannt
Referenzen
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Siehe auch
Weblinks
- Seiten zum Thema Religionskritik
- Übersichtsseite "Glaube und Wissenschaft" mit einigen gut lesbaren Fachartikeln zum Thema (Quelle: Gehirn&Geist)
- Mindmap zur klassischen Religionskritik
- Why I Am Not A Christian (Englisch) – Berühmter Text zur Religionskritik von Bertrand Russell, 1927
- Wer hat Gott erschaffen? Zur Aktualität von Ludwig Feuerbachs Religionskritik in Zeiten der Kreuzzüge
- Feuerbach, Marx und Freud in der Kritik
- unter Antitheismus.de finden sich - allerdings tendenziöse, wenig argumentative - Beiträge
- Religionskritik, Schwerpunkt Luther, Aktionsideen
- Bernd Hildebrandt: Religionskritik – Bonhoeffers Forderung für das Christentum der Zukunft
- Hans P. Lichtenberger: Religionskritik als Thema christlicher Theologie
- A Historical Outline of Modern Religious Criticism in Western Civilization (Englisch)