Enchiridion des Pomponius

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Das Enchiridion des Pomponius (zu altgriechisch ἐγχειρίδιον encheiridion, deutsch: „Handbüchlein“; lat. liber singularis enchiridii) ist ein kurzes Traktat des hochklassischen Juristen Sextus Pomponius aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. zur Entstehungsgeschichte des römischen Rechts.[1] Überliefert ist das Werklein mit den Digesten, Bestandteil der justinianischen Gesetzgebung.[2] Das Werk gilt als didaktisch wertvoller Leitfaden, weil Pomponius drei dynamische Ausgangspunkte für den römisch-rechtlichen Lebenszyklus identifiziert: zu Beginn die Quelle der origo iuris (das Zwölftafelgesetz und seine Interpretation), sodann die Quelle der nomina et origo magistratuum (das flexible Edikt des Prätors) und schließlich die Quelle der successio auctorum (die Jurisprudenz).[3] Ergänzenden Eingang finden Nachrichten des Gerichtsredners Cicero.

Pomponius galt als exzellenter juristischer Fachmann, der der sabinianischen Rechtsschule nahestand.[4] Er war der erste, sogar der einzige Autor, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, einen expliziten Beitrag zur römischen Rechtsgeschichte zu leisten, welchen er bis in seine Gegenwart reichen ließ.[5]

Inhalt der Abhandlung

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Das Enchiridion zählt neben den zeitgenössischen gaianischen Institutionen zur Elementarliteratur der römischen Rechtsklassik. Bei beiden Schriften wird davon ausgegangen, dass sie von Hörern aus dem Rechtsunterricht ihrer Lehrer entnommen, aufgezeichnet und verbreitet wurden, somit nicht unmittelbar von Pomponius und Gaius verfasst wurden. Später erweiterten sie den Umfang dann selbst.[6] Die Rechtsstoffe waren für den Gebrauch im Rechtsunterricht vorgesehen, sie führten grundlegend ins Recht ein. Besondere Bedeutung kommt dem Enchiridion deshalb zu, weil es das einzige bekannte Werk ist, das die Geschichte der Quellen des römischen Rechts (Ursprung und Entwicklung) behandelte. Damit hatte das Werk nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal inne, es beeinflusste aufgrund seiner traditionsbewussten Intention auch das Aufkommen der später bedeutsamen Kommentarliteratur zu älteren Rechtstexten. Untergliedert ist es in drei Abschnitte.

Im ersten Abschnitt (Digesten 1, 2, 2, 1–12) befasst sich Pomponius chronologisch mit den Ursprüngen der Königszeit, den Königsgesetzen (leges regae) seit Numa Pompilius und dem Gründungsakt des Rechts, der ersten Gesetzgebung der römischen Republik, dem Zwölftafelgesetz. Auch die Tätigkeiten um die Interpretation der XII Tafeln finden ihren Niederschlag im Werk. Die interpretationes dienten der Überwachung der hergebrachten Sitten. Für die Schaffung, die Anwendung und die Auslegung des Schutzmotors der Legisaktionen, waren aufgrund ihrer überlegenen Kenntnisse und Fertigkeiten allein die Pontifices berechtigt. Im weiteren Verlauf zeigt Pomponius die Entstehung von Gesetzen und Plebisziten auf, die Funktionen des Senats und das von Gnaeus Flavius veröffentlichte Priesterrecht.[5] Nach Flavius benannt, entstand das ius civile Flavianum, das später unter Sextus Aelius zum ius Aelianum vervollständigt und zusammengefasst wurde.[7] In diesem Zusammenhang wusste Pomponius aber auch von den nicht gescheuten Mühen der Römer zu berichten, die Voraussetzungen für die Erstellung eines Gesetzes zu schaffen.[8]

Der zweite Abschnitt (Digesten 1, 2, 2, 13–34) ist den Magistraten gewidmet, insbesondere denjenigen, die mit der Rechtsprechung (iuris dictio) befasst waren, den Gerichtsmagistraten. In deren Hoheitsbereich fiel die Kompetenz des Erlasses von Edikten. Zitiert wird Pomponius (in Digesten 1, 2, 2, 13) mit einer an die heutige Dispositionsmaxime „Wo kein Kläger, da kein Richter“ – „nullo actore nullus iudex“ erinnernden rhetorischen Leitfrage: „Denn was nützt es, dass es Recht im Staate gibt, wenn niemand da ist, der dem Recht zur Herrschaft verhilft?“[5] Bereits Abschnitte zuvor hatte Pomponius auf die erneute Rechtsunsicherheit hingewiesen, die die Vertreibung der Könige, angeordnet durch ein tribuzinisches Gesetz, mit sich gebracht habe. Das römische Volk habe sich in der Zeit schlicht in einen unsicheren Rechtsstatus und zu unkontrollierten Bräuchen zurückentwickelt, die weit von klaren Regeln als Lebensgrundlage entfernt waren.[9]

Im dritten Abschnitt (Digesten 1, 2, 2, 35–53) befasst sich Pomponius mit den Aktivitäten der vor- und frühklassischen Juristen (prudentes) und den zeitgenössischen Juristen. Im Fokus stehen Labeo und der etwas später geborene Julian. Pomponius beschreibt, wie das Recht vom Juristenstand behutsam aufgebaut, entwickelt und angewendet wurde, weshalb eine iuris prudentia entstehen konnte.[3] Typische Zeugnisse davon sind die libri ad Sabinum, die von Paulus, Ulpian und Pomponius selbst – unter Bezug auf frühere einflussreiche Juristen – verfasst wurden und die die Materien des ius civile darstellen und fortschreiben. Pomponius beschäftigt sich nicht allein mit der literarischen Entwicklungsgeschichte der Jurisprudenz, er hebt auch die Probleme hervor, die mit dem ius controversum entstanden, dem dialektischen Widerstreit der beiden großen Rechtsschulen.[10] Pomponius betont die wertvollen Beratungstätigkeiten der Juristen im kaiserlichen Consilium. Der Prinzeps hatte ihnen das Recht zugestanden, selbst zu respondieren, was bedeutet, dass sie mit Außenwirkung Rechtsangelegenheiten entscheiden durften (ius publice respondendi ex auctoritate principis). Für die Forschung stellt das Enchiridion die Hauptquelle für die Erkenntnisse zur Respondierbefugnis dar. So erhielt etwa Masurius Sabinus, Haupt des nach ihm benannten Zweiges einer berühmten Rechtsschule, seine Befugnis von Tiberius.[11][12] Den Rechtsunsicherheiten, die durch die überbordende Meinungsvielfalt unter den Juristen entstanden waren, sollte durch die Konzentration auf bestimmte Meinungsführer Einhalt geboten werden.

  • Digesten 1, 2, 2, 1–53.
  • Marie Theres Fögen: Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002 (italienisch: Bologna 2006), ISBN 3-525-36269-2.
Wikisource: Enchiridion (Sextus) – Quellen und Volltexte (Latein)
  1. Dieter Nörr: Pomponius oder ›Zum Geschichtsverständnis der römischen Juristen‹, in: Hildegard Temporini-Gräfin Vitzthum und Wolfgang Haase (Hrsg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Berlin 1970, Teil II 15, S. 497–604.
  2. Digesten 1,2,2.
  3. a b Michel Humbert: Faktoren der Rechtsbildung. In: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023, ISBN 978-3-16-152359-5. Band I, S. 3–31, hier S. 4 Rn. 2 nebst FN 2.
  4. Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht, Böhlau, Wien 1981 (9. Auflage 2001) (Böhlau-Studien-Bücher) ISBN 3-205-07171-9, S. 45.
  5. a b c Marie Theres Fögen: Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002 (italienisch: Bologna 2006), ISBN 3-525-36269-2, S. 34 und 168.
  6. Detlef Liebs: Rechtsliteratur. In: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023. ISBN 978-3-16-152359-5. Band I, S. 193–221, hier S. 207 (Rn. 31).
  7. Ulrike Babusiaux: Römische Rechtsschichten. In: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023. ISBN 978-3-16-152359-5. Band I, S. 114–192, hier S. 124.
  8. Digesten 1, 2, 2, 3–4.
  9. Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-47543-4. S. 161.
  10. Emanuele Stolfi: Ius gentium und ius naturale. In: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023, ISBN 978-3-16-152359-5. Band I, S. 54–74, hier S. 73.
  11. Digesten 1, 2, 2, 47/48.
  12. Javier Paricio: Labeo: Zwei rechtshistorische Episoden aus den Anfängen des Prinzipats. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. (Romanistische Abteilung). Band 117, Heft 1, 2000. S. 432–444 (437 f.).