verschiedene: Die Gartenlaube (1886) | |
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No. 33. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sankt Michael.
Das Gewitter war mit voller Macht in die Thäler niedergegangen und hatte sich dort, nachdem es wohl eine Stunde lang mit Blitz und Donner getobt, in einen ausgiebigen Regen verwandelt.
Mitten durch den triefenden Wald schritt ein junger Wanderer, den das Wetter auf seinem Wege überrascht hatte. Wäre Hans Wehlau dem Rathe seines Freundes gefolgt und auf der langweiligen Fahrstraße geblieben, so wäre er längst in Tannberg eingetroffen, in dem romantischen Bergwalde verirrte er sich gründlich und schlug eine falsche Richtung ein, die ihn weit von seinem Ziele abführte. Eine überhängende Felswand hatte ihm allerdings einen nothdürftigen Schutz gewährt, jetzt aber, wo die Dämmerung hereinbrach und der Regen noch immer strömte, blieb ihm nur die Wahl, entweder die Nacht in dem nassen Walde zuzubringen oder auf gut Glück vorwärts zu gehen, in der Hoffnung, irgend eine Köhlerhütte oder ein sonstiges Obdach zu erreichen, und er entschloß sich zu dem letzteren.
Endlich nahm der dichte Forst ein Ende, und der junge Mann gewahrte, als er in das Freie trat, einen Lichtschein, der aus einiger Entfernung herüberblinkte. Die Dämmerung und der Nebel ließen nicht erkennen, welcher Art das Gebäude war, das auf einer mäßigen, bewaldeten Anhöhe lag und nur zum Theil aus den Bäumen hervorragte; aber jedenfalls wohnten Menschen dort, und der durchnäßte Wanderer richtete schleunigst seine Schritte dorthin.
Der Weg, der zu der Höhe hinaufführte, schien sehr verwahrlost zu sein. Hans blieb verschiedene Male in dem aufgeweichten Boden stecken; dann mußte er über einen Bach, der quer über den Pfad lief, dann über eine morsche Holzbrücke und endlich durch ein Thor, von dem nur noch die beiden steinernen Pfeiler standen, während das Gitter fehlte. Ein anscheinend umfangreiches, aber halb verfallenes Gebäude mit Mauern und Thürmen lag vor dem jungen Manne, aber die Dunkelheit war inzwischen völlig hereingebrochen, sodaß er nur mit Mühe und nur von jenem Lichtschein geleitet eine kleine Pforte fand, die gerade unter dem erhellten Fenster lag und verschlossen war.
Er pochte, anfangs bescheiden, dann lauter und nachdrücklicher an die Thür; nach Verlauf von einigen Minuten wurde dann auch
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 573. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_573.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2022)