Verschiedene: Die Gartenlaube (1884) | |
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Freilich im letzten Sommer hatte sie Nannei sorglos zu
Berge ziehen sehen; da war Nannei noch „das“ Nannei, noch
ein halbes Kind gewesen. Und die Sennerin, zu der sie als
Hüterdirne kam, war eine alte, gottesfürchtige
Person, zwar herzensgut, aber
so häßlich, daß die almfahrenden Burschen
in weitem Bogen ihre Hütte umgingen.
Seit dem Winter aber war
Nannei im Munde der Leute „die“
Nannei geworden – und nun sollte
sie da hinauf, so ganz allein! O –
in dieser stillen, majestätischen Einsamkeit,
die nur von der Natur und
ihrem scheuen Gethier belebt ist, da
schwillt dem einsamen Menschen das
Herz, wie zur lenzenden Zeit die Keime
schwellen; da oben, wo die Natur nur
herrscht, muß auch der Mensch wider
Willen oder Wissen ihrem Zwange und
Drange sich unterwerfen; da gährt und
treibt es im jungen Busen; da steigt
aus der jungen Seele ein Wünschen und
Sehnen, von dem doch kein Menschenmund
ihr jemals noch gesprochen –
es kommt, man weiß nicht woher und
weiß nicht, wohin es zielt, bis –
ja, bis –!
Die alte Baslerin kannte das; sie war ja auch da droben gewesen und hatte da droben ihren Muckei gefunden – Gott hab’ ihn selig, den Armen – aber ihr war es zum Glücke gerathen, da ihr Muckei ein braver und ehrlicher Bursche gewesen. Freilich, ein kurzes Glück, das ein jähes, entsetzliches Ende nahm – aber doch ein Glück! Noch in jetziger Zeit wurden der alten Baslerin die Augen helle, wenn sie daran dachte. Aber so, wie ihr Muckei war, so sind sie nicht alle; die Burschen von heutzutage schon gar nicht! Und dem, der da gerade des Weges kommt, wenn das Herz offen steht, dem kann man nicht in die Seele schauen, nur in’s Auge – und das ist ein schwindelvoller Guckkasten, das Männerauge! Die alte Baslerin kannte das – aus hundert Geschichten, die sie zeit ihres Lebens rings um sich her geschehen sah.
„Ach ja!“
Unzählige Male im Tage huschten diese zwei Wörtchen, stets begleitet von einem drückenden Seufzer, über ihre welken Lippen. Und als sie in der Nacht vom Freitag auf den Samstag neben Nannei im Bette lag, die sorglos schlummerte, vielleicht in fröhlichen Träumen, da warf sie sich ruhelos in den Kissen hin und her.
Einmal erwachte Nannei und frug mit verschlafener Stimme:
„Mutterle, was hast denn?“
„Kein’ Schlaf hab’ ich.“
Nannei gab keine Antwort, sie schlummerte schon wieder.
Als das erste fahle Zwielicht des werdenden Tages hereinblinkte durch das kleine Fensterchen, hatte die alte Baslerin noch kein Auge geschlossen. Lautlos erhob sie sich, um für heute selbst die Brennsuppe zu kochen, damit der Nannei die Ruhe bis zur letzten Minute gegönnt wäre.
Wie dann die dampfende Schüssel am Tische stand, weckte sie das Mädchen. Schweigend nahmen die Beiden den bescheidenen Imbiß; und als die Schüssel geleert war, als Nannei den Löffel am Tischtuchzipfel säuberte, sagte die alte Baslerin:
„So – jetzt geh halt – in Gottesnamen!“
Nannei machte nun das Dschapei munter und knüpfte ihm an einem dünnen Riemen ein kleines Glöckchen um den Hals. Dann belud sie ihren Rücken mit der Kraxe[1], darauf ein hoher,
- ↑ Ein hölzernes Traggestell.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_064.jpg&oldid=- (Version vom 1.11.2022)