Verschiedene: Die Gartenlaube (1884) | |
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Regatten und Feuerwerk, eine muntere glänzende Gesellschaft drängte sich auf der sandigen Marina, die Etablissements von San Terenzo waren jeden Abend mit bunten Lampen erhellt, und wie ein Echo unserer Feste trug uns die Welle die fernen Walzertöne von den „Bagnetti“ von Lerici herüber, die wie ein erleuchtetes Feenschloß in den Wassern lagen und ihre Lichter weithin im Meere spiegelten. Aber drohend blickten die schwarzen Kolosse der Quarantäneschiffe zwischen der Palmaria und Portovenere wie ein Memento mori in unsere Feste hinein.
Täglich versicherte uns die Presse, daß wir uns noch niemals einer so blühenden Gesundheit erfreut hätten – und das zu einer Zeit, als die Citta di Napoli, die vor dem Varignano lag, wie Augenzeugen später erzählten, schon bis zu fünfzehn Erkrankungsfällen im Tag zählte. So oft hinter dem Lazareth auf dem Varignano Rauch aufstieg, sah man sich bedeutungsvoll an, denn es war von „wohlunterrichteter Seite“ versichert worden, daß dort die Leichen der in Quarantäne Gestorbenen verbrannt würden; da aber die officiellen Bulletins schwiegen, blieb bis Ende August alles ruhig.
Plötzlich veränderte sich jedoch das Bild. Auf eine mehrtägige drückende Schwüle folgten zwei Gewitter mit kurzem, aber heftigem Regen, daß das Wasser in Lachen stehen blieb, und es wurde herbstlich kalt.
„Nun wird der Wurm im Süßwasser ertrunken sein,“ meinte zwar das Volk, aber ein plötzliches Zittern ging durch die Gemüther, eine Traurigkeit wie vor einer nahenden Gefahr. Von allen Seiten hörte man Klagen über plötzliches Unwohlsein.
„Wer sich fürchtet, stirbt zuerst,“ sagte mir ein neapolitanischer Matrose und machte sichtliche Anstrengungen, sich nicht zu fürchten, indem er sein Hufeisen an der Uhrkette zur Abwehr gegen jegliche Ansteckung vorkehrte. Mit Befriedigung horchte das Volk auf den unablässigen Kanonendonner von den Forts, denn es herrscht hier der Glaube, daß man gegen die Seuche mit Pulver und Blei zu Felde ziehen könne. Aber noch wußte man nicht, was in Spezia geschehen war.
Als ich am Morgen des 23. August beim Thee saß, trat meine Wirthin ein und sagte besorgt: „Wie kommt es, daß heute früh das Dampfboot nach Spezia nicht abgegangen ist?“
Als ich zur Antwort gab, es werde wohl noch nicht an der Zeit sein, stimmte sie mir so eifrig und mit so diplomatischem Gesicht bei, daß ich sofort mißtrauisch wurde. Auf der Straße standen die Arsenalarbeiter, die vergeblich auf das Dampfboot von Lerici gewartet hatten, das sie nach Spezia bringen sollte. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten geheimnißvoll. Mir versicherten sie natürlich einstimmig, daß das Boot nicht fahren könne, weil die Maschine verdorben sei.
Nur durch List konnte ich hoffen, die Wahrheit zu erfahren, deshalb trat ich zu einer Gruppe junger Leute und fragte:
„Sollten denn die Nachrichten wahr sein, die ich erhalten habe?“
Nun erfuhr ich, daß die Krankheit mit Heftigkeit in Spezia ausgebrochen, die Stadt cernirt, die Schifffahrt eingestellt, Arsenal und Fabrik geschlossen seien.
Ich trat in die Apotheke, wo ich die ganze Badegesellschaft beisammen fand. Man berathschlagte, was zu thun sei, und kam überein, ruhig an Ort und Stelle zu bleiben, bis uns die Gefahr drohe, auf dem Landweg abgeschnitten zu werden.
Aber Mittags, als ich mich eben zu Tisch setzen wollte, kam ein Bekannter hereingestürmt mit der Nachricht, die Sanitätscommission von Sarzana habe beschlossen, auf der Magrabrücke eine Sperre gegen Lerici und San Terenzo zu errichten, die sofort in Kraft treten solle. Wenn ich mich zu augenblicklicher Abreise entschließe, so könne er mir bei einer aus Lerici flüchtenden Familie einen Platz im Wagen verschaffen, denn es bleibe mir gerade noch Zeit, mit dem Zug, der um zwei Uhr von Sarzana abgeht, nach Florenz zu entkommen, ehe die ganze Bahnstrecke geschlossen werde.
Während wir noch unterhandelten, rief uns ein jammervolles Geschrei von der Marina her an’s Fenster. Ein Nachen war angekommen mit einem jungen Mann an Bord, der Tags zuvor nach Spezia gefahren war und jetzt zu seiner Familie nach San Terenzo zurückkehren wollte. Die Mutter, eine Wittwe, die vor kurzem ihren Mann verloren hatte, stand in ihren Trauerkleidern auf der Landungsbrücke, um den Sohn zu umarmen, und wurde dort von den Carabinieri festgehalten, die dem Boot die Landung wehrten.
Alles Volk war zusammengerannt, die Weiber weinten und schrieen mit der Mutter, während das Boot sich mit langsamen Ruderschlägen vom Ufer entfernte. Da raffte die Frau sich plötzlich auf, eilte nach der zweiten Brücke, rief das Boot zurück und stieg selber an Bord, von der jammernden Tochter vergeblich zurückgehalten, um sich mit dem Sohn in der verpesteten Stadt einschließen zu lassen.
Dieser Anblick bestimmte meinen Entschluß. Ich warf die wichtigsten meiner Effecten in den Koffer, und begleitet von der Trägerin des Gepäcks und meinem alten Freund, dem Schiffer Giacomo, eilte ich die steile Höhe des Solaro hinauf, auf die jetzt die Augustsonne in voller Mittagsgluth niederbrannte. Oben erfuhr ich, daß der Cordon bereits gezogen und der Wagen, welcher mich mitnehmen sollte, mit Hinterlassung alles Gepäcks in wilder Hast abgefahren sei. Auf gut Glück gingen wir auf dem Weg nach Sarzana weiter, in der Hoffnung, dem leeren Wagen vielleicht auf dem Rückweg zu begegnen.
Am Canale del Guercio stieß ich auf einen Grenzwächter, der mir eine amtliche Verfügung vorlas, wonach es noch den ganzen Tag über möglich sein sollte, von San Terenzo her die Magrabrücke gegen Vorweisung eines Gesundheits-Certificats von dem Syndikus von Lerici zu passiren. Ich begriff sofort, daß es zu spät sei, mir einen solchen Schein zu verschaffen, denn bis ich nach San Lorenzo zurückgekehrt, von dort nach Lerici übergefahren war und von der Behörde mein Attest erhalten hatte, war der Zug von Sarzana längst abgegangen und die Station vielleicht bereits geschlossen, wie es in Wahrheit später geschah.
Während ich rathlos auf meinem Gepäck inmitten der Landstraße saß, zogen ganze Processionen flüchtender Bauernfamilien aus den benachbarten Ortschaften, wie Bagnola, Piteli etc. vorüber, die Weiber, mit riesigen Säcken voll Schiffszwieback auf dem Kopfe und die unvermeidlichen Knoblauchguirlanden über der Schulter (der Knoblauch gilt hierzuland für ein Schutzmittel gegen die Seuche). Alle flohen nach den Bergen, um sich dort in niederen Strohhütten mit ihrem Vieh zusammen zu sperren. Ich erfuhr nun, daß diese Auswanderung schon seit vielen Tagen dauerte und daß das Landvolk längst von Spezia her Unheil gewittert hatte, da es den amtlichen Versicherungen nicht traute. Es wurde erzählt, daß die Bauern in dem Gebirge von Lucca, die den Feind von Garsagnana her erwarteten, sogar auf eigene Faust gehandelt und ihre Straßen durch Holz, alte Möbel und Fässer verbarricadirt hätten.
Andere Flüchtlinge kamen von der Magrabrücke zurück, wo man ihnen den Durchgang verwehrt hatte, und stauten sich mit den Nachziehenden. Diese Leute konnte man alle mit ganz wissenschaftlicher Miene von dem „Insect des Signor Cocche“ (Koch) reden hören.
Endlich rumpelte eine viersitzige Vorväterkutsche den Solaro herauf, und ich erkannte Signor B., einen Bildhauer aus Carrara, der auf dem Bocke neben dem Kutscher saß. Als Herr B. meiner ansichtig wurde, ließ er sogleich halten und bot mir einen Platz im Wagen bei seiner Familie an. Er war so glücklich gewesen, sich zeitig ein Attest für sich und die Seinigen zu verschaffen, und hoffte auch mich durch den Posten auf der Magrabrücke durchzuschmuggeln. Wir zwängten uns, so gut wir konnten, zusammen, und mein Freund Giacomo, der mich nicht verlassen wollte, ehe er mich in Sicherheit wußte, kletterte mit seinem kranken Beine auf die Imperiale. Als wir uns der verhängnißvollen Brücke näherten, kroch Giacomo vom Wagen herunter, ging auf den Brigadier zu und wollte ihm mit seemännischer Offenheit den Fall auseinandersetzen. Herr B. aber, den die Nähe der Entscheidung plötzlich inspirirte, fuhr dazwischen, indem er den Soldaten zurief: „Haltet den Mann zurück! Hier hat Niemand zu passiren, als ich und meine Familie. Es ist wahr, daß ich ihm noch den Miethzins schuldig bin, aber jetzt habe ich keine Zeit zu verlieren.“
Giacomo stand völlig versteinert, der Brigadier, gleichfalls verblüfft über den vermeintlichen Zank, trat an den Wagen heran und besichtigte den Schein, der auf den Signor B. „con quattro persone di famiglia“ („mit vier Personen der Familie“) lautete.
„Hier sind außer Ihnen fünf Personen,“ sagte der Brigadier den Kopf hereinsteckend.
„Können Sie nicht lesen?“ rief Herr B. wie außer sich. „‚Quattro persone e la figlia‘ (‚Vier Personen und die Tochter‘) heißt es ja!“
Und ehe der Brigadiere Zeit hatte, sich über eine so auffallende Formel zu verwundern, rasselte der Wagen über die Magrabrücke – und wir waren auf dem Gebiete von Sarzana.
Auf dem Bahnhofe war der ganze Zug mit Flüchtlingen aus Spezia überfüllt, denn die Behörden hatten so alle Hände voll zu thun gehabt mit falschen Maßregeln, daß sie darüber die einzig richtige vergaßen, den Bahnhof von Spezia sogleich abzuschließen. Während man alle Ausgänge der inficirten Stadt zu Wasser und zu Lande schon am Morgen mit Truppen abgesperrt und sogar die noch gesunden Nachbarorte mit in den Cordon eingeschlossen hatte, war die Bahnlinie völlig frei geblieben. Die Flüchtlinge hatten den Bahnhof gestürmt und sich in den nächsten Zug gestürzt, gleichviel wohin es ging. Schon in der Nacht waren 480 Arbeiter, die man im Arsenale eingeschlossen hatte, ausgebrochen und hatten sich zum Theil zu Fuß in die angrenzenden Provinzen gerettet. Im Coupé traf ich unter den andern Flüchtlingen von Spezia die Schwester eines deutschen Dichters. Sie erzählte mir, daß sie Tags zuvor einen Mann vor ihrem Hause hatte zusammenstürzen und sterben sehen und daß die Leiche den ganzen Tag über in der Hitze auf der Straße liegen geblieben war. Ihre Reisegefährten bestätigten dies und sprachen von anderen ähnlichen Fällen. Als ein mitreisender Canonicus, der in Carrara mit einem Billete nach Pisa eingestiegen war, diese Unterhaltung hörte, zog er die Zipfel seiner Soutane fest um den Leib und empfahl sich auf der nächsten Station mit der Versicherung, am Ziele seiner Reise zu sein. In Pisa, wo der Wagenwechsel nach Florenz stattfindet, wollte mir ein kopfloser Schaffner den Austritt aus dem Coupé verwehren, weil ich mit „Verdächtigen“ zusammengesessen hätte. Nach langem Hin- und Herreden ersuchte ich ihn endlich, mich auf dem Perron Luft schöpfen zu lassen, worauf er bereitwilligst die Thür öffnete, und so entkam ich auf das nächste Geleise und gelangte in den Zug, der nach Florenz bestimmt war.
Auf jeder Station, die wir passirten, empfingen uns schweflige Dämpfe, ganz Italien schien an jenem Abende in ein einziges großes Desinfectionslocal verwandelt. Als wir zwischen den rebenumwundenen Olivenfeldern hinfuhren und die reine, dünne toscanische Luft einsogen, rief plötzlich einer von unseren Reisegefährten:
„Armes, schönes Land, wer weiß, ob wir dir nicht heute Abend den Todeskeim eingeschleppt haben!“
Mir wurde es eng um’s Herz, und ich mußte denken, daß die berüchtigte Cernirung von Nola, als in jener Stadt im Anfang dieses Jahrhunderts die orientalische Pest ausgebrochen war, eine weisere und menschlichere Maßregel gewesen sei, als unsere Scheinquarantäne.
Nun blieb uns nichts mehr zu überstehen, als die Durchräucherung auf dem Bahnhofe von Florenz, die schon auf der ganzen Fahrt die Phantasie der Passagiere beschäftigt hatte. Wir machten uns auf eine ganze Reihe unbequemer Proceduren gefaßt, erwarteten, wie eine delphische Priesterin auf betäubende Dämpfe gesetzt oder zum Mindesten mit Blasebälgen durchschwefelt zu werden wie ein Rebstock. Aber nichts von dem Allem geschah, wir wurden einfach durch Carabinieri in ein Local geführt, das stark mit Chlorkalk und Carbol parfümirt war. Ein allgemeines Gelächter brach aus. Viele wollten an der Thür stehen bleiben und sich die
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