verschiedene: Die Gartenlaube (1886) | |
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Sie ward nicht untreu. Da! Da! Es zeichneten sich die verglasten Gerölle des Festlandufers scharf ab von dem glatt vereisten Meeresspiegel. Noch einige hundert Schritt in scharfem Trabe und – gerettet, gerettet! – Oluf sank mit seiner Last zu Boden.
Er küßte die fieberheißen Hände Weika’s, aber es kam ihm nicht in den Sinn, ihren Mund zu berühren. Nun wieder auf und weiter! Noch eine kurze Wanderung, diesmal mit hoffnungssicheren Empfindungen, und das Fischerdörfchen war erreicht. Nicht lange währte es, so lag die Kranke gebettet in sicherer Hut. Es ward nach dem Arzte geschickt, und Ede, der tapfere kleine Ede, der rasch mit einer Schale warmer Milch erquickt wurde, vergaß in süßem Schlaf die Schrecken der Nacht. Dann wandte sich die Fürsorge der braven Fischersleute dem Lotsen zu, der, mit Brandwunden bedeckt, den Kopf in beide Hände gestützt, den Arzt erwartete. Er wehrte jede Hilfeleistung für seine Person ab, gab auch nicht Rede und Antwort, weder den guten Wirthen noch den vielen Leuten, die aus Theilnahme oder Neugier sich eingefunden.
Zuweilen nur hob er den Kopf und fragte: „Kommt er noch nicht?“ worauf er wieder in dumpfes Brüten versank.
Endlich kam der Arzt. Der Lotse litt nicht, daß der Helfer sich zuerst um ihn kümmerte, so schrecklich sein Aussehen war; mit gebietender Handbewegung schickte er ihn an Weika’s Bett. Erst als hier die nöthigen Verordnungen getroffen, sagte er kurz: „Verbindet den Kram, aber rasch, ich muß schnellstens zurück auf die Station.“
„Aber, Mann, seid Ihr von Sinnen?“ zürnte der Arzt, „ich weiß nicht, wie Ihr mit diesen Wunden, unter diesen Schmerzen das Geschehene habt vollbringen können.“
„Geht Sie auch nichts an,“ brummte der Lotse in den Bart.
„Aber zurück auf den Posten, wo Ihr nicht ’mal Haus und Dach vorfindet, könnt Ihr in diesem Zustande nicht.“
„Ist meine Sach’, nicht Ihre!“ knurrte der Lotse.
„Jenes Leben, welches dort im Nervenfieber ringt, liegt in einer höheren Hand; das Eure steht in unserer Macht. Jetzt heißt es zu Bett –“
„Macht nicht so langen Quatsch!“ erwiderte Oluf ungeduldig und stampfte mit dem Fuße. „Ich weiß, wohin ich gehöre.“
Bitten und Vorstellungen fruchteten nichts, vergebens warnten Mitleidige und Sachverständige: „Lotse, bleibt hier! Das Eis ist zu jung, um zu tragen; ’s ist ein Wunder, daß es herwärts gut gegangen.“
Er ließ sie reden und ging doch. Was konnten die Leute wissen, wie es im Innern des Mannes aussah? Nun er Weika und Ede geborgen wußte, wäre es für ihn ja eine Wohlthat gewesen, wenn – das Eis nicht hielt. Aber nicht das war’s, was ihn zurücktrieb. Nicht durch feige Flucht aus diesem Leben, nur durch die That konnten acht Jahre der frevelhaften Leidenschaft und des Hasses gesühnt werden. Der erste und schwerste Schritt zur Sühne war der Gang zu dem Richter, um ein freies Bekenntniß der Schuld abzulegen. Für Oluf gab es nur einen Richter, der hieß Karle Nieboom. Um ihn abzuwarten, mußte Oluf auf die Station zurück.
In dünnen, raschverflatternden Fäden stiegen hier und da noch Rauchwölkchen aus den schwarzen Ruinen, hier und dort glimmte es noch unter dem Schutt. Auf dem Granitblocke, der, von einer hohen Sturmfluth herangerollt, unweit der ehemaligen Wohnung der Menschen wie ein Fremdling im Sande lag, saß ein Mann und wartete. Er wartete geduldig Nacht und Tag. Er fühlte weder Brandmale noch Fiebergluth; er dachte nicht an Noth und Gefahr. Er ersehnte nur Eins: Sühne, Sühne durch die That! Er schaute nach Norden, von dort mußte der Bruder kommen.
Und der Bruder kam. Nicht vom Norden über das krachende Eis, sondern über den Sund im Süden. Karle hatte bereits sein Weib gesehen, seinen Knaben geküßt, von Oluf’s Heldenthat gehört, und er eilte, den Bruder mit dem stürmischen Dank einer arglosen Seele zu überschütten, ihn zu erlösen aus der grausamen Einsamkeit. Auf den entsetzlichen Anblick Oluf’s vorbereitet, streckte er schon von Weitem seine Arme aus. Doch Oluf kam ihm nicht entgegen. Als Karle in sein mehr durch Seelenkämpfe, als durch äußere Wunden entstelltes Antlitz blickte, schrie er laut auf:
„Oluf, was ist geschehen?“
Oluf stützte das Haupt: „Bruder, ich habe gesündigt im Himmel und vor Dir. Richte!“
Die Beichte dauerte nicht lange; es war eine Mannesbeichte. Und obwohl zu Beginn derselben in Karle’s Brust das Blut zu sieden begann und die Hand zuckte – als Oluf schloß, ohne auch nur der schwierigen Rettung Weika’s mit einem Worte zu gedenken, da fühlte der Beichtende zwei Arme um seine Schultern, und er hörte eine Stimme rufen mit dem Vollklang vergebender Liebe: „Oluf, mein Bruder!“
Dann verließ ihn die Besinnung.
Mit Donnern und Poltern brach das Eis. Hochauf thürmten sich die Schollen, und das lebendige Meer brach hervor, der Fesseln spottend. Der Frühling kam, und Licht ward überall.
Schau’ nur auf deinen Reisen nach der kleinen Insel im Nordmeere aus. Ein einziges, stattliches, neues Gebäude liegt auf dem Eilande. Noch immer hüllen die Nebel es ein und versengt der Sonne Gluth den spärlichen Pflanzenwuchs, und keine andere Stimme als der urewige Gesang des Meeres dringt zu dem kahlen Gestade.
Zwei Männer, ein Weib und ein Kind sind die Bewohner der Insel. Alle ernst, doch zufrieden und blühend. Kehre bei ihnen ein, laß dich bewirthen mit dem trefflichen Seemannsgrog, den einer der Männer zu bereiten versteht. Der andere Mann, der mit dem kahlen Kopfe und den Brandnarben im Gesicht, kann dir nicht Bescheid thun; er bringt keinen Tropfen geistigen Getränks über seine Lippen seit – doch das brauchst du wirklich nicht zu wissen, lieber Reisender.
„Ja, ja,“ sagt die hübsche junge Hausfrau mit einem Anfluge von Schelmerei, „unser Sandhaufen ist die Insel der Seligen,“ und sie nickt dem Manne zu, welcher keinen Haarschmuck besitzt und keinen Grog trinkt.
Der Mann nickt wieder und sagt: „Der Baugrund mußte in Mühseligkeit geschaffen werden, aber der Bau ist fest.“
Den Wald durchzieht ein Sterben,
Bang rauscht der Wipfel Kranz,
Die letzten Strahlen färben
Ihn matt mit fahlem Glanz.
Des tiefen Schlummers schwerer Hauch
Umfächelt müde Halm und Strauch.
Den Wald durchzieht ein Sterben,
Bang rauscht der Wipfel Kranz.
Schon blüht am Föhrenhange
Das Heidekraut so roth
Und mahnt, daß nun im Gange
Verwelken sind und Tod.
Vereinsamt schallt aus Lüften frei
Der Wandervögel banger Schrei.
Schon blüht am Föhrenhange
Das Heidekraut so roth.
Still drängt aus grünen Zweigen
Sich manches falbe Blatt,
Und alle Fluren schweigen,
Schwermüthig, todesmatt.
So schleicht, eh’s noch Dein Herz gewahr,
In Locken sich ein weißes Haar,
Wie still aus grünen Zweigen
Sich drängt ein falbes Blatt.
Wer froh am Maientage
In Liebe sich vereint,
Steht bald am Sarkophage
Verlor’nen Glücks und weint.
Ein letzter Gruß, ein letzter Kuß!
Die Herbstluft weht, und scheiden muß,
Wer froh am Maientage
In Liebe sich vereint.
O glücklich, wer umfangen
Sich fühlt von Jugendgluth,
Ob auch auf Stirn und Wangen
Des Alters Falte ruht;
Da stört den Geist so frisch und klar
Kein welkes Blatt, kein weißes Haar.
O glücklich, wer umfangen
Sich fühlt von Jugendgluth! Karl Schäfer.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_807.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2024)