Verschiedene: Die Gartenlaube (1889) | |
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Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[1]
Die erste Frühlingsregung zieht durch das Gemüth, wenn die Kunde durch das Dorf, durch die Stadt geht: unser Storch ist da. Aller Augen richten sich auf den Horst, das allen bekannte Storchnest, und siehe, dort steht der hochbeinige Stelzvogel auf dem Rande der Wiege seiner Jungen, die er im vorigen Jahre groß gefüttert hat; vielleicht hat auch er selbst vor Jahren in derselben Wiege das Licht der Welt erblickt. Seine Ehehälfte weilt noch zögernd unterwegs, in wirthlicherer Gegend sich aufhaltend, wo die Nahrung nicht kärglich geboten ist. Das Männchen ist vorausgezogen und prüft unverkennbar die Wohnstätte, besucht die bekannten Plätze der Umgebung in Wiese und Flur und treibt sich längere Zeit als Einsiedler im gewohnten Heim umher, bis eines Tags sein plötzliches Wiederverschwinden dem Beobachter auffällt. Doch nur wenige Tage vergehen, da kommt das Paar aus fernen Höhen in Bogenflügen immer tiefer und näher dem Wohnplatz, immer enger ziehen sich seine Kreise, bis es sich schließlich niederläßt und auf dem Reste fußt. Das Freudengeklapper verkündet die Einkehr des treuen Paares. Wenn sie so stille stehen auf dem hohen Thurm, dem Haus oder dem abgestutzten Ulmenbaum, nichts Gravitätisches, nichts Stolzes und Würdevolles zeigt da ihre Haltung; vielmehr erscheinen sie plump bei aller Hochbeinigkeit. Wie anders, wenn sie im Riede sich niedergelassen haben und da umherstolzieren gemessenen Schrittes und wachsam nach allen Richtungen hin auf Beute bedacht und doch auch ihre Sicherheit nicht außer Acht lastend trotz der Schonung, die ihnen allenthalben das Volk angedeihen läßt! Ja, dieser Gang ist wirklich gravitätisch.
Während des Auf- und Abschreitens beherrscht der Storch mit scharfblickendem Auge den Plan vor sich und zur Seite. Was an Verschlingbarem sich regt, entdeckt der geweckte Sinn, die lüsterne Aufmerksamkeit, welche stets angespornt wird durch die angeborene Gefräßigkeit. Die Waffe hält er stets zum Einhauen bereit, der lange, spitze Schnabel fährt wie ein Pfeil hernieder und trifft mit großer Sicherheit die huschende Maus, den stoßenden Maulwurf, den flüchtenden Käfer, den hüpfenden Frosch, die sich schlängelnde Eidechse. Oft faßt er mit dem Nager oder dem Maulwurf einen ganzen Bündel Moos, Gras oder Genist, und er verzehrt entweder auf der Stelle die Beute oder trägt sie dem brütenden Gefährten, den Jungen im Neste zu. Wenn er sich zum Aufflug anschickt hüpft er erst in weiten Sprüngen flügelschwingend, um dann den Boden zu verlassen und scheinbar unbehilflich der Höhe zuzustreben. Ebenso ungeschickt ist sein Fußen am Ziele des Flugs. Nicht von unten herauf oder auch in wagrechter Linie kommt er an, sondern von oben her, die Stelzfüße vorstreckend, läßt er sich vorsichtig nieder.
Hat er eine vorzügliche Nahrungsquelle entdeckt, dann kehrt er immer wieder zurück, um sie gründlich auszubeuten. Sein Ortsgedächtniß kommt ihm dabei sehr zu Hilfe, denn wenn er z. B. einen Satz kleiner Häschen entdeckt hat, so weiß er genau die Stellen wiederzufinden, wo sich die Kleinen zu verbergen suchten, und eins nach dem andern wird von ihm davongetragen. Aber er begnügt sich nicht mit dem Rauben zur Befriedigung des Ernährungsbedürfnisses oder zur Fütterung der Familienglieder, denn er ist nicht bloß gefräßig, sondern auch wahrhaft mordsüchtig und mordlustig. An einem Bach, der einen Teich speist, fanden wir in der Frühe Dutzende von Kröten frisch getödtet, denen der Storch den Leib aufgeschlitzt hatte, ohne daß er auch nur ein Stückchen der Eingeweide oder eines Körpertheils verschlungen hätte.
Eine andere Charaktereigenschaft des Storches ist Bosheit und Eifersucht. Wenn die jungen Störche ihren Horst im Frühjahre aufsuchen, oder wenn ein fremder Eindringling von demselben Besitz nehmen will, entwickeln sich heftige Kämpfe, und wir haben es mehrmals erlebt, daß das gemeinschaftlich seinen Horst verteidigende Paar den Fremdling oder den eignen vorjährigen Nachkommen jämmerlich zerfetzte und mordete. Eine verwandte Eigenschaft bekundet der Storch auch als gezähmter Hofbewohner unter dem Geflügel. Wir sahen ihn in einem großen Schloßhof herrisch umherstolzieren, in immer enger gezogenen Bogengängen das Hühner- und Entenvolk umkreisen, das sich sklavisch zu Paaren treiben ließ und schließlich mitten im Hofe zu einem Häufchen zusammenkauerte. Nichts anderes als Herrschsucht verleitete hierzu den Storch, denn jedesmal beendete er dieses Unternehmen mit plötzlichem derben Zufahren, so daß gackernd und quakend die geängsteten Thiere auseinanderstoben. Solchen gezähmten Störchen darf man kleinen Hühnerchen und Entchen gegenüber niemals trauen. Sie wissen trotz der ängstlichen Wachsamkeit der alten Glucke oder Mutterente das eine und andere Küchlein zu spießen, zu zerfetzen und hinabzuwürgen. Uebrigens zeigt sich der zahme Storch auch zu allerlei amüsanten Neckereien mit Hunden und Katzen aufgelegt. Possirlich nehmen sich seine Versuche aus, die Sperlinge, welche ihn umgeben, zu erhaschen. Natürlich sind die Sperlinge flinker als der zufahrende Storch, der wohl seine Unzulänglichkeit aus den fortwährenden Mißerfolgen erkennt, aber dennoch neue Versuche nicht unterläßt.
Ein hervorragender Charakterzug unseres Storchs ist schließlich neben seiner Treue zum alten Wohnorte auch seine Treue in der Ehe. Bei der Trennung der Geschlechter durch den Tod wird
- ↑ Vergl. „Gartenlaube“ 1888, Nr. 48.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_317.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)