Herausforderungen für die Geschichtsvermittlung
Der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland ist hoch und wird in Zukunft weiter steigen. Zurzeit leben in Deutschland ca. 15 Millionen Menschen mit einem Migrationshintergrund, das ist etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung; bei den unter Fünfjährigen liegt der Anteil bereits bei einem Drittel. Die historisch-politische Bildung in Deutschland trägt diesem demografischen Wandel bisher nicht in ausreichendem Maß Rechnung.
Stärker als bisher muss die Vielfältigkeit von Geschichts- und Gesellschaftsbezügen in heterogenen Lerngruppen berücksichtigt werden. Notwendig ist daher zum einen die Erweiterung des Themenspektrums im Hinblick auf die Veränderung der Gesellschaft durch Zuwanderung, zum anderen die Entwicklung neuer Methoden der Vermittlung. Es ist sowohl notwendig, andere Themen aufzugreifen, als auch neue Perspektiven auf zeitgeschichtliche Themen wie zum Beispiel die NS- oder die DDR-Geschichte zu eröffnen. Insgesamt gilt es, einfache, monokausale Schwarz-Weiß-Konstruktionen zu brechen und eindeutigen Zuschreibungen entgegenzuwirken.
Während im Bereich der interkulturellen Pädagogik in verschiedensten Publikationen Themen und Methoden der Demokratieerziehung und Menschrechtspädagogik diskutiert und empfohlen werden, wird die interkulturelle Pädagogik in der praktischen Geschichtsvermittlung noch kaum berücksichtigt. Auch wenn es bereits erste grundlegende Arbeiten zur Problematik sowie zur Methodik und Didaktik der Geschichtsvermittlung in interkulturellen Gruppen gibt
Das Projekt "Praktische Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft"
Die Vereinigung Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. setzt sich seit 1993 dafür ein, die Erinnerung an die doppelte deutsche Diktaturerfahrung wachzuhalten, das Demokratiebewusstsein zu stärken und zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern. Die Vereinigung ist mit ihren über 2.100 Mitgliedern, die in 26 Regionalen Arbeitsgruppen jährlich über 200 Veranstaltungen und Projekte mit Kooperationspartnern vor Ort durchführen, sehr aktiv im Bereich der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Zur Arbeit der Vereinigung gehört auch, immer wieder neu zu überlegen, wie in der Geschichtsvermittlung methodisch, didaktisch und thematisch neue Akzente gesetzt werden können, um der Lebenswirklichkeit in unserer Gesellschaft gerecht zu werden.
Deshalb entwickelt Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. seit Juli 2010 in Zusammenarbeit und mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung eine Materialiensammlung zur "Praktischen Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft"
Sich der praktischen Geschichtsvermittlung unter den besonderen Bedingungen einer immer heterogener werdenden Gesellschaft zu stellen, war eine Herausforderung, der sich Gegen Vergessen – Für Demokratie nur mit Hilfe eines weit verzweigten Netzwerkes von Schulen, Gedenkstätten, Jugendbildungshäusern, Lehrerfortbildungseinrichtungen, Migrantenselbsthilfeorganisationen und nicht zuletzt mit der Bundeszentrale für politische Bildung stellen konnte.
Zielgruppen
Im Zentrum der Materialiensammlung steht die praktische Vermittlung deutscher Zeitgeschichte vornehmlich des 20. Jahrhunderts mit einigen Rückgriffen auf das 19. Jahrhundert. Der Band richtet sich nicht nach den Vorgaben von Geschichtslehrplänen, sondern ist eine eigenständige und zusätzliche Ideen- und Methodensammlung sowohl für den Unterricht als auch für die außerschulische historisch-politische Jugend- und Erwachsenenbildung. In ihren Ansätzen und Lernzielen orientiert sich die Materialiensammlung an den Bedingungen der Migrationsgesellschaft. Alle Beispiele sollen anschlussfähig an Interessen und die Lebenswelt der Lerngruppe sein. Die Materialiensammlung ist kein Kompendium der deutschen, europäischen oder internationalen Geschichte. Vielmehr wird der Versuch unternommen, noch vorhandene Lücken in der Vermittlung von bestimmten Aspekten der Zeitgeschichte zu füllen. Es geht in der Materialiensammlung nicht darum, Vorschläge zur Geschichtsvermittlung für die besondere Zielgruppe der Migranten zu entwickeln, sondern für die Bevölkerung Deutschlands insgesamt – unter Berücksichtigung der Tatsache, dass diese zunehmend von Menschen mit unterschiedlichen Herkunfts- und Familiengeschichten geprägt ist. Das Endprodukt richtet sich an Lehrerinnen und Lehrer, Pädagogen in Gedenkstätten und Museen sowie an andere Multiplikatoren der historisch-politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Ihnen soll es ermöglicht werden, mit Hilfe von methodischen Anleitungen und Materialien besser auf die Erfahrungen und Bedürfnisse von interkulturellen Gruppen einzugehen.
Aufbau der Materialiensammlung
Die Materialiensammlung wird nach einer Einführung, in der Aufbau, didaktisches Konzept und Ausrichtung der Materialiensammlung erläutert werden, folgende zehn Themenfelder enthalten:
I. Deutschland und Deutsche in der Migrationsgeschichte
II. Nationalsozialismus – Zweiter Weltkrieg – Holocaust
III. DDR – Staatsfeind, Fremder, Flüchtling
IV. Alliierte, "Gastarbeiter", Zuwanderer – Alltag in der Bundesrepublik
V. Demokratiegeschichte – Wähler und Gewählte im Wandel der Zeiten
VI. Partizipation/Selbstorganisation – "Sich in die eigenen Angelegenheiten einmischen"
VII. Familie und Herkunftsgeschichte
VIII. Minderheiten und Diskriminierungserfahrung
IX. 1989 – Umbruch in Europa – Migranten im wiedervereinigten Deutschland
X. Erinnerungskultur
Die zehn Themenfelder enthalten jeweils fünf konkrete Arbeitsbausteine im Umfang von fünf Seiten. Diese insgesamt 50 Bausteine stehen im Mittelpunkt des Bandes und können in verschiedenen Zusammenhängen für die Geschichtsvermittlung nutzbar gemacht werden. Sie dienen der konkreten Vorbereitung von Unterrichtsstunden und Projekten. Die Bausteine enthalten thematisches Hintergrundwissen, didaktische Hinweise sowie Materialien zur Vorbereitung und Gestaltung von Lehreinheiten. Und schließlich wird eine Sammlung von praxisnaher Literatur und Internetlinks angeboten, die zur Vertiefung genutzt werden kann.
Die Auswahl der zehn Themenfelder und ihre Anordnung folgen sowohl chronologischen als auch sachthematischen Kriterien. Berücksichtigt wird beispielsweise, dass gerade Lehrerinnen und Lehrer auf eine Verzahnung mit dem chronologisch angelegten Geschichtsunterricht angewiesen sind. Die Themen und Lernziele wurden so gewählt, dass sie vor allem jungen Menschen Anknüpfungspunkte an ihre eigenen Lebens- und Erfahrungswelten geben. Damit wird eine wichtige Grundlage der interkulturellen Pädagogik berücksichtigt.
Die Ausgangslage bei der Bearbeitung der einzelnen Themenfelder erwies sich als sehr unterschiedlich. Während für die Themen Migrationsgeschichte oder Nationalsozialismus bereits einige Materialien und Projekte
Die Materialiensammlung ist so angelegt, dass der Benutzer schnell Zugriff zu bestimmten Themen findet. Der Band ist als eine Art Loseblattsammlung konzipiert, das heißt, Lehrer und Multiplikatoren haben die Möglichkeit, einzelne Seiten herauszutrennen, zu kopieren und als Materialvorlage einzusetzen. Jeder einzelne Baustein enthält zudem Hinweise, wie er mit anderen Bausteinen des Bandes zu größeren (Sinn-)Einheiten verknüpft werden kann.
Fachgespräche
Fachgespräch zum Thema „Der Nationalsozialismus in der praktischen Geschichtsvermittlung“ und Diskussionsergebnisse (© Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
Fachgespräch zum Thema „Der Nationalsozialismus in der praktischen Geschichtsvermittlung“ und Diskussionsergebnisse (© Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
Diskussionsergebnisse aus dem Fachgespräch "Nationalsozialismus in der praktischen Geschichtsvermittlung" (© Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
Diskussionsergebnisse aus dem Fachgespräch "Nationalsozialismus in der praktischen Geschichtsvermittlung" (© Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
Um Expertenwissen zur Erarbeitung des Handbuchs zu erschließen, wurden insgesamt sechs Fachgespräche zu verschiedenen, für die Materialiensammlung relevanten Themen durchgeführt. Diese Gespräche wurden nicht als öffentliche Podiumsdiskussionen konzipiert, sondern als moderierte, an Sachfragen orientierte Gesprächsrunden. Großer Wert wurde auf die Auswahl der Expertinnen und Experten für die Fachgespräche und auf Multiperspektivität gelegt. So wurden sowohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen wie zum Beispiel der Geschichtsdidaktik, der Soziologie oder der Psychologie eingeladen wie auch Praktiker, etwa Lehrerinnen und Lehrer, Museumspädagogen und Schulbuchautoren sowie Mitarbeiter von Geschichtsinitiativen und Migrantenorganisationen. Von den teilnehmenden Expertinnen und Experten wurde das Format sehr gelobt und als großer Gewinn eingeschätzt. Aus den Fachgesprächen ergaben sich nicht nur viele Hinweise für die Gliederung der Materialiensammlung, es konnten auch acht Autorinnen und Autoren für einzelne Themenfelder gewonnen werden.
Workshops
Die in den Fachgesprächen ermittelten Desiderate im Bereich der historisch-politischen Bildungsarbeit und die davon ausgehend neu entwickelten Ansätze bedürfen einer Erprobung. Drei Workshops mit jeweils unterschiedlichen Zielgruppen dienten dieser praktischen Erprobung der bis dahin erarbeiteten inhaltlichen und methodischen Vermittlungsmöglichkeiten und Bausteine. Gleichzeitig dienten die Workshops aber auch dem Zweck, Vorstellungen und Bedürfnisse an der "Basis" zu eruieren.
In zwei Workshops wurden Methoden der Vermittlung geprüft. Der Workshop "DDR-Geschichte als Lokalgeschichte in den alten Bundesländern", der in Kooperation mit der Kester-Haeusler-Stiftung in Fürstenfeldbruck stattfand, diente zum einen der Erprobung, inwieweit sich die Form des Gespräches von Schülern in den westlichen Bundesländern mit regionalen Zeitzeugen eignet, um Erkenntnisse über die DDR zu gewinnen. Zum anderen wurde untersucht, welche inhaltlichen und methodischen Anknüpfungsmöglichkeiten sich für Lehrer an die Erkenntnisse der Schüler bieten. In einem weiteren Workshop "Spurensuche. Lokal- und Regionalgeschichte als Migrationsgeschichte", der gemeinsam mit Manfred Grieger, dem Leiter der Historischen Kommunikation der Volkswagen AG, in Wolfsburg durchgeführt wurde, erprobten und analysierten die teilnehmenden Multiplikatoren aus der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung die Methode der historischen Spurensuche zur Vermittlung lokaler Migrationsgeschichte. Im Rahmen des Workshops wurde eine Art Leitfaden zur Durchführung von historischen Spurensuchen zur Migrationsgeschichte erarbeitet.
In einem dritten Workshop "Demokratiegeschichte vermitteln unter den Bedingungen der Einwanderungsgesellschaft", der in der Stiftung Reichspräsident Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Heidelberg abgehalten wurde, hatten die teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit, vorgefertigte Unterrichtsbausteine zu erproben und dahingehend zu bewerten, ob sie zur Vermittlung von Demokratiegeschichte in heterogenen Gruppen geeignet sind. Die Bausteine beruhen auf Beispielen der Zeitgeschichte, geben aber auch Anleitungen für Projekte wie zum Beispiel für die lokale Erforschung von Demokratiegeschichte.
Lokalgeschichtliche Spurensuche
Das Format der Spurensuche zum Thema Migrationsgeschichte kann Jugendlichen die Vielfalt von Lebenswelten aufzeigen und ihnen helfen, sich selbst besser in Raum und Zeit zu verorten.
Die Spurensuche zur Migrationsgeschichte kann sowohl in Städten als auch im ländlichen Raum angewandt werden. Wichtig sind entsprechende Institutionen und Personen/Zeitzeugen, die als Kooperationspartner herangezogen werden können. Die Methoden und Herangehensweisen sind dabei vielfältig. Von einer Recherche im lokalen Archiv über Interviews, die Suche nach Gegenständen, die Migrations- und Familiengeschichten erzählen, Besuchen bei Religionsgemeinschaften bis hin zur freien Fotodokumentation im lokalen Umfeld ist vieles möglich. Entscheidend ist jedoch, den Lehrern und Multiplikatoren die Scheu vor Projekten dieser Art zu nehmen.
Orte und Institutionen der Spurensuche
Das Centro Italiano in Wolfsburg. Einst fand die erste Generation der italienischen Volkswagen-Arbeiter Rückhalt im Centro Italiano. Heute bilden viele Vereine und Privatpersonen den Förderverein Centro Italiano e.V., der die Internationalität der Stadt Wolfsburg aktiv zu unterstützen sucht. (© Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
Das Centro Italiano in Wolfsburg. Einst fand die erste Generation der italienischen Volkswagen-Arbeiter Rückhalt im Centro Italiano. Heute bilden viele Vereine und Privatpersonen den Förderverein Centro Italiano e.V., der die Internationalität der Stadt Wolfsburg aktiv zu unterstützen sucht. (© Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
Orte wie Friedhöfe, Denkmäler, Straßenzüge, Läden und Restaurants und Institutionen wie Archive, Museen, Ortsfeuerwachen, Migranten- und Religionsgemeinschaften und Heimatstuben bieten für die lokale Spurensuche wichtige Anhaltspunkte. Durch den historischen Ansatz bei der Spurensuche können die Veränderungen von Orten oder Institutionen untersucht und Einflüsse durch Migration sichtbar gemacht werden. Einzelne Stadtarchive haben sich bereits auf das Thema Migrationsgeschichte eingelassen und bieten pädagogische Programme für Schulen an. Vor allem in der Zusammenarbeit mit Institutionen sollte bedacht werden, dass sie, ähnlich wie Zeitzeugen, bestimmte Narrative weitergeben, die kritisch hinterfragt werden müssen. Wichtig ist aber auch, den eigenen Blick der Jugendlichen auf das Thema Migration zuzulassen. So können zum Beispiel Plakate, Graffiti und Straßenszenen viel über Migration erzählen und als Einstieg in eine Spurensuche genutzt werden.
Spurensuche mit Zeitzeugen
Die Arbeit mit Zeitzeugen ist für die Spurensuche zur Migrationsgeschichte sehr wichtig. Zeitzeugenberichte bedürfen einer besonderen Reflexion, denn sie geben eine private, oft von fremden Erinnerungen und Deutungsversuchen überlagerte Perspektive auf die Geschehnisse wieder. Dieser biografische Zugang stellt Schüler und Lehrer vor die Aufgabe, von der individuellen Ebene des Zeitzeugen wieder zurück zur allgemeinen Ebene zu gelangen und den Zeitzeugen als historische Quelle zu verstehen. Lehrer sollten daher ihre Schüler zuvor mit der Methode der Oral History vertraut machen.
Ein Problem bei der lokalen Spurensuche zur Migrationsgeschichte ist, dass nicht alle Zuwanderungsgruppen, die per definitionem als Migranten gelten, als solche verstanden werden wollen. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge spricht man von Migration, "wenn eine Person ihren Lebensmittelpunkt räumlich verlegt. Von internationaler Migration spricht man dann, wenn dies über Staatsgrenzen hinweg geschieht."
Wichtig ist, mit welcher Definition an die Spurensuche zur Migration herangegangen wird. Die enge Definition des Statistischen Bundesamtes legt von vornherein den Fokus auf bestimmte Migrantengruppen, vor allem auf jene, die lange Zeit unter den Begriff "Gastarbeiter" gefasst wurden. Die weiter gefasste Definition des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ermöglicht es, Migration in einem größeren Rahmen zu betrachten, und kann besonders bei der Arbeit auf lokaler Ebene fruchtbar gemacht werden.
Spurensuche zur Migrationsgeschichte in den östlichen Bundesländern
"Lebenswege ins Ungewisse" hieß eine Ausstellung über Migration in Görlitz/Zgorzelec von 1933 bis heute, die das Schlesische Museum Görlitz 2011/12 zeigte. Die Ausstellung dokumentierte mit Interviews, historischen Aufnahmen und Erinnerungsstücken ein lebendiges Panorama deutsch-polnischer Zeitgeschichte an der Neiße. In acht Jahrzehnten veranlassten verschieden Wellen der Migration Menschen zum Kommen und Gehen: Diktatur und Krieg, Flucht und Vertreibung, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzungen. (© Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
"Lebenswege ins Ungewisse" hieß eine Ausstellung über Migration in Görlitz/Zgorzelec von 1933 bis heute, die das Schlesische Museum Görlitz 2011/12 zeigte. Die Ausstellung dokumentierte mit Interviews, historischen Aufnahmen und Erinnerungsstücken ein lebendiges Panorama deutsch-polnischer Zeitgeschichte an der Neiße. In acht Jahrzehnten veranlassten verschieden Wellen der Migration Menschen zum Kommen und Gehen: Diktatur und Krieg, Flucht und Vertreibung, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzungen. (© Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
Katalog der Ausstellung "Lebenswege ins Ungewisse" (© Schlesisches Museum Görlitz)
Katalog der Ausstellung "Lebenswege ins Ungewisse" (© Schlesisches Museum Görlitz)
In den östlichen Bundesländern leben bis heute noch weniger Menschen mit Migrationsgeschichte – hier im engen Sinne – als in den westlichen Bundesländern. In den 40 Jahren DDR fand (vor allem internationale) Migration nur eingeschränkt statt. Viele der einstigen Vertragsarbeiter in der DDR sind wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Die Spuren, die jene sogenannten temporären Migranten hinterlassen haben, sind rar. In Stadt- und Werksarchiven können teilweise noch Unterlagen oder Fotoalben Auskunft über Vertragsarbeiter geben. Daher ist für die Erarbeitung der Migrationsgeschichte in den westlichen Bundesländern die weiter gefasste Migrationsdefinition des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hilfreich. Sie ermöglicht die Untersuchung von Migration auch aus der Zeit vor 1950, wodurch Flüchtlinge und Vertriebene als Migrantengruppen in den Fokus rücken. Informationen zu diesen Themen lassen sich unter anderem im Schlesischen Museum Görlitz oder im Pommerschen Landesmuseum Greifswald finden. Gleichwohl haben die östlichen Bundesländer sowohl vor 1989 als auch danach ihre eigene Migrationsgeschichte – die Geschichte des Abwanderns und Weggehens.
DDR-Geschichte
Der Schwerpunkt in der Vermittlung von DDR-Geschichte liegt in den Schulen oft auf dem Systemvergleich Ost-West, weniger auf der Alltagsgeschichte. Für die Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft bietet es sich daher nicht an, gänzlich neue oder abgelegene Themen zu bearbeiten, die an den Unterricht zur DDR-Geschichte nur schwer anschlussfähig sind. Zudem steht die Vermittlung der Geschichte der DDR, die sich an Lerngruppen in einer Migrationsgesellschaft richtet, noch relativ am Anfang. Neben einem Ansatz, über Beispiele von Migranten in der DDR zu arbeiten
Das Recht auf freie Meinungsäußerung. Samisdat – Öffentlichkeit in der Oppositionsbewegung in der DDR
Die freie Meinungsäußerung ist für Jugendliche heute alltäglich. In der Arbeit mit dem Baustein können Jugendliche dafür sensibilisiert werden, welche Bedeutung und welchen Wert freie Meinungsäußerung für das Zusammenleben in der Gesellschaft und in der Demokratie hat. Dabei wird nicht von der Situation der Jugendlichen ausgegangen, sondern gefragt: Was passiert eigentlich, wenn das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nicht vorhanden oder beschnitten ist? Welche Möglichkeiten suchen Menschen außerhalb der öffentlichen Wege, um Informationen auszutauschen? Warum tun die Menschen das, und was riskieren sie? Warum unterbindet ein Staat überhaupt freie Meinungsäußerung? Welche Bedeutung hat internationale Vernetzung für den Fluss von Informationen? Diese Fragen werden erläutert anhand der Zeitschrift "grenzfall", die von der DDR-Oppositionsgruppe "Initiative Frieden und Menschenrechte" zwischen 1986 und 1989 17-mal illegal gedruckt wurde. Wichtig für das Erscheinen der Zeitschrift war nicht nur die gute Vernetzung der Redaktion innerhalb der DDR und mit westdeutschen Journalisten, sondern auch die Unterstützung durch den aus der DDR ausgebürgerten Jenaer Dissidenten Roland Jahn aus West-Berlin.
Als methodische Ansätze für die Vermittlung des Themas dienen zum einen der lebensweltliche Bezug und zum anderen die Multiperspektivität.
Bei der Bearbeitung des Themas Opposition in der DDR stand zunächst die Frage im Raum: Was soll vermittelt werden? Was sind die inhaltlichen Schlagworte? Was beschäftigt Schüler heute? Wo bilden sich thematische Anknüpfungspunkte an das Thema? Als Schlagworte bieten sich an: Samisdat, Netzwerke und Meinungsfreiheit. Ausgehend von der eigenen Lebenswelt heute werden den Jugendlichen Möglichkeiten angeboten, mit ihren eigenen Erfahrungen und Familiennarrativen an die historischen Geschehnisse anzuknüpfen und einen Zugang zu finden.
Titelblatt einer "grenzfall"-Ausgabe von 1987. Die "grenzfall"-Hefte bieten eine Fülle von Karikaturen und Quellen, die Schülerinnen und Schülern die Problematik der Meinungsfreiheit in der DDR verdeutlichen. Aus: Ralf Hirsch/Lew Kopelew (Hg.), Initiative Frieden & Menschenrechte: GRENZFALL, Berlin 1989 (© Initiative Frieden und Menschenrechte)
Titelblatt einer "grenzfall"-Ausgabe von 1987. Die "grenzfall"-Hefte bieten eine Fülle von Karikaturen und Quellen, die Schülerinnen und Schülern die Problematik der Meinungsfreiheit in der DDR verdeutlichen. Aus: Ralf Hirsch/Lew Kopelew (Hg.), Initiative Frieden & Menschenrechte: GRENZFALL, Berlin 1989 (© Initiative Frieden und Menschenrechte)
Samisdat (russisch für "Selbstverlegtes") lässt sich mit aktuellen politischen Umbrüchen wie dem Arabischen Frühling verbinden und mit der Frage, wie heute in autokratisch oder diktatorisch regierten Ländern Informationen an Zensurbehörden vorbei verbreitet und ausgetauscht werden.
Die Bedeutung von Netzwerken lässt sich mit der Frage nach heutigen Netzwerken erörtern: Familie/Freunde/Clique/soziale Medien – was erwarte ich von meinen Netzwerken?
Die Meinungsfreiheit als Grundlage der Demokratie kann in der Gruppe erörtert werden mit der Frage: Was sag ich in der Familie und bei Freunden, was sage ich nicht öffentlich und warum sage ich es nicht öffentlich?
Die lebensweltlichen Anknüpfungsmöglichkeiten beziehen sich nicht nur auf Jugendliche mit Migrationshintergrund, sondern ebenso auf Jugendliche in der gesamten Bundesrepublik.
Multiperspektivität sollte nicht nur bei der Wahl der Materialien herrschen. Auch neue Fragen, die an ein Thema gestellt werden, können neue Perspektiven eröffnen, ohne vorhergehende Blickwinkel in Frage zu stellen. Dieser Baustein arbeitet bewusst mit dem Blick Roland Jahns aus West-Berlin auf die DDR-Opposition. Er verdeutlicht, dass die DDR-Opposition keine DDR-interne Angelegenheit war, sondern zum Beispiel aus der Bundesrepublik unterstützt wurde. Die DDR-Geschichte macht also nicht an der damaligen deutsch-deutschen Grenze halt.
Ein Ziel des Bausteins ist es, die Jugendlichen zur Reflexion anzuregen. Ihre Lebenswirklichkeit heute war nicht immer so. Sie wurde gestaltet und verändert, weil Menschen sich in ihre Umwelt und in die Gesellschaft fortwährend eingemischt haben. Heute sind sie, die Jugendlichen, diejenigen, die ihre Umwelt und die Gesellschaft prägen und gestalten können
DDR-Geschichte als Lokalgeschichte in den westlichen Bundesländern
Vermittlung von DDR-Geschichte in den westlichen Bundesländern
Die lebendige Vermittlung der DDR-Geschichte stellt Lehrer und Multiplikatoren in den westlichen Bundesländern immer wieder vor eine besondere Herausforderung. Von Ausnahmen wie den Grenzlandmuseen, dem DDR-Museum Pforzheim und dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn abgesehen, sind außerschulische Lernorte zur DDR- bzw. zur deutschen Teilungsgeschichte vor Ort in diesen Regionen kaum vorhanden. Dennoch können grenzüberschreitende Kontakte von West nach Ost – wie der Versand von Päckchen in die DDR, Verwandtschaftsbesuche dort, Schülerreisen der politischen Bildung nach Ost-Berlin, Partnerschaften zwischen Städten und Kirchengemeinden in der BRD und der DDR, ortsansässige "Republikflüchtlinge" – als Grundlage für Zeitzeugengespräche bzw. für die Erforschung von (DDR-)Geschichte vor Ort in den westlichen Bundesländern genutzt werden. Dadurch eröffnet sich Schülern in den westlichen Bundesländern durch das eigene Lebensumfeld ein Bezug zur DDR-Geschichte.
Vier Zeitzeugen – Vier Leben – Vier Geschichten. Abschlussdiskussion mit lokalen Zeitzeugen zur DDR-Geschichte in Fürstenfeldbruck (© Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
Vier Zeitzeugen – Vier Leben – Vier Geschichten. Abschlussdiskussion mit lokalen Zeitzeugen zur DDR-Geschichte in Fürstenfeldbruck (© Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
Die Materialiensammlung wird einen Projektvorschlag dazu unterbreiten, der in einem Workshop erprobt wurde. Schüler einer 10. Klasse aus Fürstenfeldbruck trafen mit vier Zeitzeugen zusammen. Die Zeitzeugen – eine Frau und drei Männer – leben alle seit mehr als 29 Jahren im Raum München. Drei von ihnen sind vor bzw. nach 1961 aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen. Ein Zeitzeuge lebt immer schon in Bayern und hatte enge kirchliche und wirtschaftliche Kontakte in die DDR. Vor allem die weit auseinanderliegenden Geburtsjahrgänge der Zeitzeugen – zwischen 1936 und 1973 – ermöglichen unterschiedliche Blicke auf die DDR.
Dieser Erprobungsworkshop zeigte unter anderem, dass auch der lokale, stets in den westlichen Bundesländern lebende Zeitzeuge, ein interessanter und guter Gesprächspartner zum Thema DDR sein kann und von Schülern als Zeitzeuge anerkannt wird.
Weggehen und Ankommen
Besonderes Interesse haben die Schüler an den Erinnerungen der Zeitzeugen zum Thema Flucht, Weggehen und Ankommen. Was zuvor für die Schüler wie eine Binnenmigration von Ost nach West ohne Sprachbarriere aussah, erklärt sich ihnen nun als ein Schritt mit vielen Verlusten auf der einen Seite sowie Schwierigkeiten, in der neuen Heimat anzukommen, auf der anderen. Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationserfahrung werden zu diesen Erzählungen möglicherweise einen besonderen Zugang finden; denn vor allem eigenes Wissen und Erfahren bieten Anknüpfungspunkte für verwandte Themen. Dabei sollte den Jugendlichen aber immer selbst überlassen bleiben, ob sie über ihre Erfahrungen berichten wollen oder nicht.
Umgang mit den Ergebnissen
Je nach dem Vorwissen der Schüler müssen die Interviewergebnisse im Unterricht nachbereitet und in den historischen Kontext eingeordnet werden. Im Gegensatz zu ihren Altersgenossen aus den östlichen Bundesländern können viele Schüler aus den westlichen Bundesländern den Zeitzeugenerinnerungen keine eigenen Familienerzählungen aus der DDR gegenüberstellen. Sie geben das wieder, was sie von den Zeitzeugen erfahren. Ob sie an der DDR etwas gut oder schlecht finden, schätzen sie nach dem eigenen Gefühl ein – oder übernehmen die Meinung der Zeitzeugen, die durch spezifische Erfahrungen mitunter stark politisch geprägt sind. Diese Zeitzeugeninterviews helfen den Schülern zu vermitteln, dass jeder Zeitzeuge vor dem Hintergrund seiner eigenen Betroffenheit als historische Quelle verstanden werden muss. Zudem sollten Lehrer und Multiplikatoren die Ergebnisse der Interviews besprechen und zeitlich einordnen. Dennoch bilden die Erinnerungen und Geschichten der Zeitzeugen an Alltag und Leben in der DDR eine gute Ergänzung zum Geschichtsunterricht.
Ausblick
Die Materialiensammlung wird Ende des Jahres 2012 in der Reihe Themen und Materialien der Bundeszentrale für Politische Bildung erscheinen und kann über die Internetseite der Bundeszentrale bestellt werden:
Es wäre wünschenswert, die zukünftige Arbeit der Lehrerinnen und Multiplikatoren mit dieser Materialiensammlung durch gezielte Fortbildungen zu ergänzen.