1. Kunststadt
Halle-Neustadt war eine Kunststadt – in einem doppelten Sinne: künstlich als Planstadt und künstlerisch als einschlägig gestalteter Ort. Die Planstädte stellten in der DDR eine spezifische Ausprägung sozialen Lebens unter realsozialistischen Steuerungsansprüchen dar. Der Zusammenhang von Herrschafts- und Alltagsgeschichte wird dort besonders greifbar und begreifbar: Nirgends sonst suchte der planerische und steuernde Zugriff so intensiv, öffentliches und privates Leben auf dem Wege der Synchronisation zu integrieren. Diejenige DDR-Planstadt, welche dies prototypisch repräsentierte, war Halle-Neustadt.
Die politisch angesonnenen Verhaltenserwartungen fanden sich mit symbolischen Identifikationsangeboten verbunden. Dessen augenfälligstes war die planmäßige Bekunstung der Stadt. Mit dieser Ausstattung des öffentlichen Raumes wurde Halle-Neustadt in einer zweiten Hinsicht zur Kunststadt, nämlich zur größten Freiluftgalerie des Landes. Fast 150 Werke im Freien, zuzüglich etwa 30 im Innern öffentlicher Gebäude, insgesamt 184 Werke der bildenden und der angewandten Kunst – seit 1990 ergänzt um weitere 14 – sichern diesen Status.
Blick auf Halle-Neustadt im April 1982, im Hintergrund die Silhouette von Halle (© Bundesarchiv, Bild 183-1982-0430-008; Thomas Lehmann/ADN-ZB)
Blick auf Halle-Neustadt im April 1982, im Hintergrund die Silhouette von Halle (© Bundesarchiv, Bild 183-1982-0430-008; Thomas Lehmann/ADN-ZB)
Bei all dem war die neue Stadt mit Ideen, die dies anleiten sollten, nicht unterversorgt. Recht markante Vorstellungen, die in Bezug auf Halle-Neustadt – das heißt für die Stadt, in ihr, durch und über sie – produziert wurden, verdichteten sich zu einem städtischen Ideenhaushalt.
2. Künstlerische Stadtraumaufwertung
Kunst am Bau: Wandbilder von José (Josep) Renau Berenguer am Bildungszentrum von Halle-Neustadt. Im Hintergrund "Die von Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik" und die "Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR", vorn "Marsch der Jugend in die Zukunft", beim Abriss der Klub-Mensa zerstört (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F089041-0035; Joachim F. Thurn)
Kunst am Bau: Wandbilder von José (Josep) Renau Berenguer am Bildungszentrum von Halle-Neustadt. Im Hintergrund "Die von Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik" und die "Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR", vorn "Marsch der Jugend in die Zukunft", beim Abriss der Klub-Mensa zerstört (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F089041-0035; Joachim F. Thurn)
Der öffentliche Raum Halle-Neustadts beherbergte (und beherbergt) Plastiken, Wandbilder, Brunnen und Oberflächengestaltungen, raumgliedernde Elemente und Strukturwände, schließlich eine spezifische Ornamentik an zahlreichen Giebelwänden. Von Beginn an war der architektonischen und städtebaulichen Gestaltung eine systematische Versorgung des Stadtraums mit Kunstwerken angeschlossen. Bereits die Aufbau-Direktive sah es als "besonders" wichtig an, "im Einklang mit der architektonischen Gestaltung den städtebaulichen Raum durch Werke der bildenden Kunst zu akzentuieren und ihm eine ästhetische und ideell bereichernde Aussage zu verleihen".
Jedes einzelne der Kunstwerke ist kontingent zustande gekommen, verdankt sich gegebenenfalls glücklichen Umständen, die seine Beauftragung, Aufstellung oder Anbringung ermöglichten, oder resultiert aus unglücklichen Umständen, welche die Beauftragung, Aufstellung oder Anbringung nicht verhinderten. Wie auch immer es zu den einzelnen Werken kam und wie sie jeweils motiviert waren – in jedem Falle sind sie alle innerhalb eines Möglichkeitsraumes entstanden, der weniger determinierend wirkte, als gemeinhin angenommen wird, aber zugleich auch nicht beliebig war. Hier nun sollen daher nicht die einzelnen Kunstwerke, sondern ihre Gesamtheit in den Blick genommen werden. Diese Gesamtheit wird als visuell zu erschließende Narration verstanden und daraufhin gelesen, was sich ihr – der Gesamtheit – an Informationen entnehmen lässt über die Strategien, mit denen der städtische Ideenhaushalt illustriert und repräsentiert werden sollte.
Erich Enge, Lenins Worte werden wahr, 1970/71, Wandbild in Halle-Neustadt (© Peer Pasternack)
Erich Enge, Lenins Worte werden wahr, 1970/71, Wandbild in Halle-Neustadt (© Peer Pasternack)
2.1. Themen
Wertet man die Ensembles aller in Halle-Neustadt vorhandenen Kunstwerke nach ihren Motiven und Titeln aus, so fällt zunächst eines auf: Die Werke mit unmittelbar politischen Bezügen sind vergleichsweise gering vertreten. Sie machen 23 Prozent der Gesamtmenge aus.
Unter diesen Werken wiederum, die unmittelbar politische Bezüge aufweisen, ist vordergründige Agitation im Sinne plumper Propaganda selten. Eher werden propagandistische Aussagen meist mit einer gewissen Raffinesse transportiert. José Renaus Großwandbilder im Bildungszentrum – unter anderem mit dem Titel "Die Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR" – oder Erich Enges Giebelwandbild "Lenins Worte werden wahr" etwa sind auf jeden Fall in ihrer Formensprache reizvoll. Zudem ist keineswegs jede der politischen Botschaften der Halle-Neustädter Kunstwerke ausschließlich an das politische System der DDR gebunden. "Frieden auf unserer Erde" vom Malzirkel Lautenschläger beispielsweise oder – als Werktitel etwas unelegant – "Gegen Krieg, Hunger" von Hans-Joachim Triebsch und Heinz Möhrdel dürften auch jenseits des politischen Entstehungskontextes auf breite Zustimmung stoßen. (Abb. 1 und 2)
Abb.1: Kunst im öffentlichen Raum Halle-Neustadts: Agitatorische Botschaften quantitativ (© Peer Pasternack)
Abb.1: Kunst im öffentlichen Raum Halle-Neustadts: Agitatorische Botschaften quantitativ (© Peer Pasternack)
Abb. 2: Themen der Kunst im öffentlichen Raum Halle-Neustadts: quantitative Auswertung. Kunstwerke: 132; inhaltserschließende Schlagwortzuweisungen: 153 (© Peer Pasternack)
Abb. 2: Themen der Kunst im öffentlichen Raum Halle-Neustadts: quantitative Auswertung. Kunstwerke: 132; inhaltserschließende Schlagwortzuweisungen: 153 (© Peer Pasternack)
Werke mit agitatorischen Botschaften in Halle-Neustadt | |||
Nr. | Titel | Künstler | Entstehungsjahr |
1 | Musik verbindet die Völker | Wilhelm Schmied | 1966/67 |
2 | Völkerfreundschaft | Heinz Beberniß | 1967/68 |
3 | Leben im Sozialismus | Inge Götze | 1969 |
4 | Leben im Sozialismus | Inge Götze | 1969 |
5 | Kosmonaut im Weltraum | Robert Rehfeld, Dieter Goltsche, Hanfried Schulz, Ingo Kirchner | 1970 |
6 | Lenins Worte werden wahr/Er rührte an den Schlaf der Welt | Erich Enge | 1970/71 |
7 | Das Post- und Fernmeldewesen verbindet die Völker | Gertraude Schaar | 1970/71 |
8 | Leninbüste | K. S. Bojarski | 1970/71 |
9 | Nachbildung des Panzerzugs der Leuna-Arbeiter aus den Märzkämpfen 1921 | o.A. | 1971 |
10 | Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift – Marsch der Jugend | José Renau, U. Reuter, Lothar Scholz, R. Skippahler | 1972/73 |
11 | Flug des Menschen ins All | Erich Enge | 1973 |
12 | Aufbauhelfer | Rudolf Hilscher | 1974 |
13 | Die Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR | José Renau, Lothar Scholz | 1974 |
14 | Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik | José Renau, Lothar Scholz | 1974 |
15 | Kinderkreuzzug 1939 | Gerhard Geyer | 1974 |
16 | Deutsch-Sowjetische Freundschaft Durchgangsgestaltung | Jugendmalzirkel Halle-Neustadt | 1981 |
17 | Ernst Thälmann | Fritz Baust | 1982 |
18 | Marx unter uns | Gabriele Böttcher | 1984 |
19 | Die Familie in der sozialistischen Gesellschaft | Susanne Berner | 1984 |
20 | Deutsch-Sowjetische Freundschaft | Willi Neubert | 1984 |
21 | Gegen Krieg, Hunger | Hans-Joachim Triebsch, Heinz Möhrdel | 1986 |
22 | Frieden auf unserer Erde | Malzirkel Lautenschläger | 1986 |
23 | Ernst Thälmann | Hans-Joachim Triebsch, Heinz Möhrdel | 1986 |
24 | Frieden auf unserer Erde | Malzirkel Lautenschläger | 1986 |
25 | Freundschaft mit der Volksrepublik Polen | o.A. | o.A. |
Abb. 3: Funktionen der Kunst im öffentlichen Raum Halle-Neustadts (© Peer Pasternack)
Abb. 3: Funktionen der Kunst im öffentlichen Raum Halle-Neustadts (© Peer Pasternack)
Werden sämtliche der Halle-Neustädter Kunstwerke auf ihre Themen hin ausgewertet, dann ergeben sich einige weitere Auffälligkeiten (Abb. 3):
Die Arbeitswelt war mit sechs Bildern und Plastiken ein relativ selten gestaltetes Thema, obgleich Arbeit und Chemie die Basis der individuellen wie gesellschaftlichen Wohlstandsverheißung bildeten. Auch der ansonsten allgegenwärtige Bildungsoptimismus fand nur ein schwaches Echo in der Neustädter Kunst mit lediglich fünf Werken. Kinder und Jugendliche, obwohl in der Stadt der Jugend, waren gleichfalls seltene Gäste in der Motivik. Ebenso blieb die Gleichstellung der Frauen, das am ehesten gelungene Emanzipationsprojekt in Halle-Neustadt, als künstlerisches Thema äußerst randständig: Zweimal wurde sie zum Gegenstand; gemildert wird dieser Befund allenfalls dann, wenn man vier Porträts historischer Frauenpersönlichkeiten hinzurechnet.
Dominierend hingegen sind historische Darstellungen und politische Botschaften. Eine quantitativ ähnlich große Bedeutung ergibt sich für ein weiteres Themencluster, wenn man die künstlerischen Darstellungen summiert, die Naturthemen und Sujets aus Familie, Freizeit und Sport gestalten sowie das harmonische Leben feiern.
2.2. Funktionen
Werden die Werke in Augenschein genommen, so drängt sich eine funktionale Unterscheidung auf: Sie hatten entweder pragmatische Aufgaben – Gliederung des Raumes und Dekoration –, oder sie erfüllten avanciertere, programmatisch gebundene Funktionen.
Pragmatische Funktionen
Eine beträchtliche Anzahl der von 1964 bis 1989 öffentlich beauftragten Werke in Halle-Neustadt diente der Gliederung des Raumes und als Orientierungshilfen oder hatte dekorativen Charakter bzw. wirkte als Aufhübschung. Dazu zählen zum Beispiel Betonstrukturwände als Raumteiler in Grünbereichen und Freiflächen oder Hausdurchgangsgestaltungen. Ebenfalls eher schmückende Funktionen hatten die meisten der zahlreichen Naturmotive, mit 23 Werken – meist Plastiken – stellten sie 17 Prozent aller Kunst im öffentlichen Raum.
Stilistisch gab es aber gerade durch diese Werke durchaus Pluralität in Halle-Neustadt. Das verbreitete Vorurteil, abstrakte Lösungen seien generell schwierig durchzusetzen gewesen, wird durch die ornamentalen und raumteilenden Werke jedenfalls zum Teil dementiert. Wird auch eine Reihe von Werken der angewandten Kunst hinzugezählt, die im Auftrag der Stadt entstanden waren, so lässt sich als 'Abstraktionsgrad' der Halle-Neustädter Kunst festhalten: Immerhin 28 Prozent der Werke waren nichtgegenständlichen bzw. rein funktionsbezogenen Charakters.
Avancierte Funktionen
Die landläufig zugeschriebenen Hauptfunktionen der Stadtraumbekunstung waren indes zweierlei: sozialistische Weltanschauung zu verbildlichen und sozialistische Lebensweise zu illustrieren.
Fahndet man in der Überlieferung nach Belegen, wird man in der Tat schnell fündig. Die Funktion, sozialistische Weltanschauung zu verbildlichen, wurde bereits 1966 in einer "Bildkünstlerischen Konzeption" deutlich. Diese definierte fünf Ideenkomplexe, die in der Stadt zum Ausdruck kommen sollten: "Aufbau des Sozialismus – Kampf um die Erhaltung des Friedens – Völkerfreundschaft – Kampf gegen den Imperialismus – Die Rolle der Chemieindustrie für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt", verbunden mit einer Einteilung von Wohnkomplexen nach Rahmenthemen.
Werden die dann entstandenen Kunstwerke inhaltlich geordnet, so lässt sich indes jenseits formulierter Programmatiken erkennen, dass versucht wurde, künstlerisch gestaltet drei verschiedene Einordnungen der Stadt in übergreifende gesellschaftliche Entwicklungen vorzunehmen:
Heinz Beberniß, Völkerfreundschaft, 1967/68, Skulptur in Halle-Neustadt (© Peer Pasternack)
Heinz Beberniß, Völkerfreundschaft, 1967/68, Skulptur in Halle-Neustadt (© Peer Pasternack)
Willi Neubert, Lebensbaum, 1967, Wandbild an einer Schule (© Peer Pasternack)
Willi Neubert, Lebensbaum, 1967, Wandbild an einer Schule (© Peer Pasternack)
Der politischen Einordnung dienten unmittelbar agitatorische Werke. Die Stadt wird damit in einen politischen Kontext der revolutionär errungenen politischen "Macht der Arbeiterklasse" gerückt. Acht Werke zum Thema "Völkerfreundschaft" verbildlichen den internationalistischen Aspekt des kommunistischen Projekts.
Werke wie "Lebensfreude" (Willi Neubert, 1965/66) oder "Lebensbaum" (derselbe, 1967) illustrieren mit komplexen Bildgefügen – die über die vergleichsweise schlichten Titel hinausweisen – eine philosophische Einordnung dessen, was die marxistisch-leninistische Weltanschauung transportierte. Ein optimistisches, weil sozialistisches Menschenbild wird gekoppelt mit aktiver Weltaneignung und historischem Optimismus.
Daran schließt eine historische Einordnung an, die nach dem Woher und dem Wohin dessen fragt, wofür Halle-Neustadt als "sozialistische Stadt" prototypisch stehen soll. Einen geradezu paradigmatischen Entwurf dafür liefern drei Großwandbilder von José Renau mit ihren Thesentiteln "Die Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR", "Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik" und "Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift – Marsch der Jugend", zugleich künstlerisch die eindrucksvollsten Werke, die für Halle-Neustadt entstanden sind.
132 Kunstwerken, die sich thematisch mit 153 inhaltserschließenden Schlagwortzuweisungen auswerten lassen, konnte 72-mal eines oder mehrere der folgenden Schlagworte zugewiesen werden: Kultur, Familie und Freizeit, harmonisches Leben, Völkerfreundschaft, Sport, Arbeit und Chemieindustrie, Bildung sowie Kinder und Jugend (vgl. oben Abb. 3). Damit wird deutlich, wo – mit 47 Prozent der Schlagwortzuweisungen – der inhaltliche Schwerpunkt der Halle-Neustädter Stadtraumbekunstung lag: Im Zentrum stand die appellative Illustration der sozialistischen Lebensweise.
Die sozialistische Lebensweise sollte sich auszeichnen durch Gemeinschaftlichkeit, Nachbarschaft und Kollektivität, die Übereinstimmung von gesellschaftlichen und individuellen Interessen, Familienorientierung und Frauenemanzipation, Bildungsorientierung und ein spezifisches Arbeitsethos. Sie implizierte ein Glücksversprechen und zielte auf soziale Gleichheit, auf die "allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit", im Weiteren dann auf den "neuen Menschen". All dies findet sich in der Motivik dieses Kunstbestandes wieder, und ihr appellativer Charakter – "So sollt ihr leben!" – stellt eine Rückkopplung zu den im engeren Sinne agitatorischen Botschaften her.
Identitätsstiftung und pädagogische Politik
Beides zusammen – die Verbildlichung sozialistischer Weltanschauung und die appellative Illustration der sozialistischen Lebensweise – ist gekennzeichnet durch die nahezu vollständige Abwesenheit von Hinweisen auf konflikthafte Aspekte des realsozialistischen Lebens. Diese Bestandsaufnahme steht in einem deutlichen Kontrast sowohl zur sonstigen bildenden Kunst in der DDR als auch zur Halle-Neustadt-Belletristik.
Stattdessen steht das harmonische Leben im Vordergrund. Es sollte "Kunst für alle" entstehen. Der Wille zur Schönheit, dem die Plattenbauarchitektur erheblich im Wege stand, wurde umgeformt in einen Willen zur Verschönerung. Den Chemiearbeitern, als Teil einer gesellschaftlichen Avantgarde und (vorgeblichen) Eigentümern hochentwickelter Produktionsmittel, sollten hochwertige Lebensbedingungen verschafft werden.
Darin offenbart sich schließlich die übergeordnete Funktion der künstlerischen Ausstattungsanstrengungen: Sie waren Angebote an die Halle-Neustädter Bevölkerung, eine Identität mit ihrer Stadt auszubilden. Die Stadt als sozialistische Stadt konnte nicht allein durch komfortable Plattenbauwohnungen, großzügige Straßen und herumtobende Kinder entstehen. Ihre inhaltliche Entfaltung verlangte nach einem Programm pädagogischer Politik. Dieses nutzte die politische Herrschaft und ihre Instrumente zur unabschließbaren, also nicht endenden Erziehung der Herrschaftsunterworfenen, zur Herstellung von Normenkonformität im Dienste übergeordneter Werte. Insoweit war die Stadtraumbekunstung Bestandteil dieses Programms pädagogischer Politik.
Dem dienten – neben der Aufhübschung – die künstlerischen Gestaltungen der historischen Selbsteinordnung des Systems und der neuen Stadt darin, des zukunftsoptimistischen, auch stark technikaffinen Weltveränderungsanliegens, der Gemeinschaftlichkeit als Kollektivität und der alles überwölbenden Harmonie. Zugleich sickerte vieles, was ideologisch für notwendig und wünschenswert erachtet wurde, eher über indirekte Thematisierungen ein. Wichtig erschien vor allem die Glücksverheißung, erkennbar am Übergewicht der Motive, die vordergründig politisch unverfänglich sind und das harmonische Leben und Streben in den Mittelpunkt rücken.
Insofern war es, obgleich vordergründige Propaganda nicht dominiert, Programmkunst. Dabei ist die "Bildkünstlerische Konzeption" nur bedingt wirksam geworden, allerdings wurden prominente Plätze für die prominent gewollten Botschaften gesucht und gefunden. Stilistisch gab es durchaus Pluralität, doch insgesamt sind die Kunstwerke überwiegend recht konventionell. Innovatives fand sich selten
Gerhard Geyer, Wissenschaftler-Würfel, Halle-Neustadt (© Gerald Große)
Gerhard Geyer, Wissenschaftler-Würfel, Halle-Neustadt (© Gerald Große)
(etwa die bereits erwähnten Wandbilder José Renaus oder der "Wissenschaftler-Würfel" von Gerhard Geyer
Die vordergründige Uniformität der Stadtgestalt und die Gleichheit der Lebensbedingungen verbanden sich mit einer kompromisslosen Orientierung auf eine Eindeutigkeit des Denkens der in der Stadt Lebenden. Letzteres war zwar nicht allein für Halle-Neustadt typisch, aber in der sozialistischen Planstadt hatte dieser Wille die Chance, verwirklicht zu werden. In diesem Sinne war die symbolische Stadtkonstruktion Halle-Neustadts radikal intentionalistisch, nämlich an eine zu realisierende Utopie gekoppelt, und sie vollzog sich in einem kybernetischen Modus. Beides zielte im ersten Zugriff auf die Realisierung eines "sozialistischen Wohnkonzepts" und einer "sozialistischen Lebensweise". Der neue Mensch, so die Annahme, müsse dann zwangsläufig daraus entstehen.
Intentionalistisch war die Stadtkonstruktion insofern, als die Stadt ein exemplarisch gedachter Bestandteil eines Gesellschaftsprojekts war, das sein vermeintlich objektives Ziel kannte. Um dieses Ziel zu erreichen waren die Akteure dieses Projekts gewillt, jegliche Irritationen als irrelevant zu ignorieren oder gegebenenfalls aus dem Weg zu räumen – statt sie zu bearbeiten. Dem entsprach eine Produktion des Stadtleitbildes, die das Bewusstsein der Menschen über ihre Stadt formatieren wollte, um es aufnahmefähig für die politisch erwünschten Ideen zu machen. Entgegen heutiger Absurditätswahrnehmungen folgte dies einer spezifischen Rationalität: Die SED als führende "Partei der Arbeiterklasse" sah sich als Vollstreckerin eines historischen Gesetzes, das die Entfaltung einer Epoche der Ausbeutungsfreiheit auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Der Gedanke, diesem historischen Gesetz im politischen Handeln nicht zu entsprechen, erschien seinerseits als absurd.
Kybernetisch war der Modus, in dem diese Intention umgesetzt wurde, in doppelter Hinsicht: Die Stadt wurde als ein selbstregulierendes Subsystem geplant und gebaut, in welchem funktionale Eindeutigkeiten das störungsfreie Voranschreiten zum sozialistischen Leben und Streben ermöglichen sollten. Zugleich sollten steuernde Interventionen politischer oder ideologischer Natur, die vom übergeordneten System ausgingen, gleichsam algorithmisch in Abläufe und Selbstbild der Stadt implementiert werden: "Durch den Generalbebauungsplan soll die Entwicklung der Stadt so geleitet werden, daß sie sich zwangsläufig [!] mit pulsierendem Leben erfüllt."
Insofern war das implizite Leitbild für Halle-Neustadt die eindeutige Stadt, eine architektonisch wie kulturell gebändigte Stadt. Diese Stadtkonstruktion zielte darauf, Deutungsoffenheiten, konkurrierende Deutungen, Normenkonflikte, alternative Optionen, Paradoxien oder Zielkonflikte systematisch auszuschließen. Halle-Neustadt war eine gebändigte Stadt, welche die Ideosynkrasien der alten Städte vermeiden sollte. Zonen des Unkontrollierten und der Autonomie, wie sie (alte) Städte typischerweise kennzeichnen, waren weder vorgesehen noch erwünscht. Der Subtext des expliziten Stadtleitbildes "Sozialistische Chemiearbeiterstadt" transportierte das implizite Stadtleitbild, die eindeutige Stadt.
2.3. Konflikte
Konflikte gab es nicht in, sondern allenfalls über die Halle-Neustadt-Kunst. Sie bezogen sich vornehmlich darauf, ob die künstlerische Ausstattung eher den städtebaulichen Gehalt steigern oder ihn lediglich ornamentieren, also die etwas spröde Plattenbauästhetik aufhübschen sollte.
Bereits 1967 hatten Architekten "vielen der nachträglich an- oder eingebrachten Kunstwerke" einen "Charakter des Austauschbaren" attestiert und gefordert: "Das Kunstwerk im Städtischen Raum, am Äußeren oder im Inneren eines Gebäudes muss neben seiner ideologischen auch wieder eine raumgestaltende Funktion erhalten."
Josep (José) Renau Berenguer, Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik, 1974, Wandbild (© Peer Pasternack)
Josep (José) Renau Berenguer, Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik, 1974, Wandbild (© Peer Pasternack)
Im Einzelfall scheute der Auftraggeber auch inhaltliche Auseinandersetzungen nicht, sofern ihm die künstlerischen Botschaften Zweifel zuließen. So gerieten etwa die drei Großwandgemälde, die der in der DDR lebende spanische Maler José Renau im Bildungszentrum realisierte, zum Gegenstand von Interventionen des Auftraggebers: Die ideologische Eindeutigkeit erschien ihm in den ersten Entwürfen noch unzulänglich. Renau hatte vier Bilder mit den Titeln "Ungebändigte Natur", "Vom Menschen beherrschte Natur", "Marsch der Jugend" und "Der in die Natur integrierte Mensch" entworfen. Dem Auftraggeber erschien "der Kontrast freier und beherrschter Naturgewalten offenbar zu unbedeutend".
Eine konkrete Auseinandersetzung über das zulässige Maß an Abstraktheit betraf etwa eine Durchgangsgestaltung am Block 10 (Willi Neubert, 1967). Dort wurden flächige Stahlbleche aus Industrieemaille nach Intervention der Kulturabteilung des SED-Zentralkomitees wieder abgenommen. Ein neuer Entwurf des Künstlers in reliefartig-plastischer Gestaltung blieb zwar ebenso abstrakt, wurde gleichwohl akzeptiert: Diesen Platten "fehlte die Wirkung und der vermutete Anspruch eines abstrakten Bildes. Sie galten als bloße Dekoration".
Wilfried Fitzenreiter, Schwimmerin, 1969, Halle-Neustädter Abguss (© Nachlass Fitzenreiter)
Wilfried Fitzenreiter, Schwimmerin, 1969, Halle-Neustädter Abguss (© Nachlass Fitzenreiter)
1969 war eine Plastik von Wilfried Fitzenreiter, "Schwimmerin", nach Bevölkerungsprotesten wieder abgebaut worden. Sie galt wohl als zu expressiv, doch die Unpopularität resultierte vor allem aus der Sockelhöhe von 2,20 Meter.
1989 missfiel dem Auftraggeber eine Figurengruppe von Klaus Friedrich Messerschmidt mit dem Titel "Reflexion, Geschichte", sodass sie nicht errichtet wurde: Vier Personen stehen mit dem Rücken zueinander und können offensichtlich wenig miteinander anfangen. Als die Plastik dann im Jahr 2000 doch noch aufgestellt wurde, bedang sich der Künstler aus, sie nunmehr an den Füßen hängend, also verkehrt herum zu präsentieren.
Im Einzelfall gelang es auch einzelnen Künstlern, die Vorgaben erfolgreich zu unterlaufen. Das Rahmenthema "Die Rolle der Chemieindustrie für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt" beispielsweise füllte Martin Wetzel 1968 mit einem "Alchimistenbrunnen".
Martin Wetzel, Alchimistenbrunnen, 1968 (© Herbert Lachmann)
Martin Wetzel, Alchimistenbrunnen, 1968 (© Herbert Lachmann)
Rosemarie und Werner Rataiczyk schufen 1977 ein Gobelin "Die lernende Frau", das wenig Optimismus versprüht: Die Frau, die nun auch noch lernen soll oder möchte, ist zerrissen in der Rollenkomplexität, die sich aus der modernen Anforderungsvielfalt ergibt. Mit "Rufen und Hören" gelangte 1989 im Stadtzentrum eine Doppelplastik von Wolfgang Dreysse zur Aufstellung, die einen kritischen Kommentar zum Generationskonflikt darstellt.
Ein spezieller Aspekt der Wirkungen der Halle-Neustädter Kunstpolitik schließlich war, was von vornherein keine Wirkungschancen hatte. Für die eindrucksvollste künstlerische Auseinandersetzung mit Halle-Neustadt selbst fand sich nirgends ein Platz im öffentlichen Raum der Stadt: Uwe Pfeifer war durch den Zufall einer Wohnungszuweisung nach Halle-Neustadt gelangt, und ihm wurde die Stadt zu einem Dauersujet für Entfremdungsdarstellungen von klinischer Schönheit, die den Stadtkörper hyperrealistisch sezieren. In der DDR reüssierte er auf den Dresdner Kunstausstellungen, aber niemals in der Stadt, für die er eine ganz eigene Bildprogrammatik entwarf.
2.4. Wirkungen
Aktivierende Wirkungen, so sie ernsthaft erwartet worden waren, gingen von den Werken allerdings wohl kaum aus: "Der vergrößerte 'Freizeitfonds' wurde nicht etwa in das Studium marxistischer Klassiker investiert, sondern vor dem Fernseher, im Kleingarten oder mit der mühevollen Individualisierung der Plattenbauwohnungen verbracht."
Ein Kunstführer, 1982 vom Rat der Stadt herausgegeben, formulierte die Rolle der Kunst im öffentlichen Raum denn auch wesentlich vorsichtiger: Es ginge um "die Kraft der Kunst zur Freisetzung von Phantasie" und darum, "wie durch die Begegnung mit Kunst ein freies geistiges Spiel in Gang gesetzt werden kann".
Einen ideologischen Auftrag, eine agitatorische Funktion der Kunst entdeckt man hier – 1982 – nicht mehr. Zwischen den Zeilen lassen sich geradezu eine Sorge der Kommune "um die geistige Verfassung der EinwohnerInnenschaft" und deren mangelnde Identifikation mit der Stadt herauslesen.
Im Übrigen fielen diese eher zurückhaltenden Äußerungen auch in einer Zeit, als die Intensivphase der künstlerischen Stadtraumversorgung zu Ende ging. In den 80er-Jahren kam es offenkundig zu einer Erschöpfung in den Bemühungen, den Stadtraum künstlerisch aufzuwerten. Dies entsprach der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmungslage: Der utopische Überschuss, der von sukzessiven Verbesserungen der allgemeinen Lebensbedingungen in den 60er- und 70er-Jahren beglaubigt worden war, schien aufgebraucht – 1989 war er es dann endgültig.