Geeinte Kirche in der geteilten Stadt
Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs teilten die Siegermächte Berlin in vier Sektoren auf. Diesen Sonderstatus als Vier-Sektoren-Stadt behielt Berlin auch nach der Gründung der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) 1949. Die drei von den Alliierten geführten Sektoren Berlins wurden von einer gemeinsamen Senatsverwaltung geführt. Der Ostteil der Stadt, den die DDR als ihre Hauptstadt bezeichnete, wurde von einem Magistrat verwaltet. Trotz der politischen Teilung der Stadt blieb das Leben der Berlinerinnen und Berliner aufgrund von verwandtschaftlichen Beziehungen, Arbeitsverhältnissen oder Gemeindemitgliedschaften miteinander verflochten. Denn solange die innerstädtische Grenze geöffnet war, konnten sich Familienangehörige und Freunde innerhalb des Stadtgebietes besuchen; arbeiteten Ost-Berliner in West-Berlin und war es West-Berliner Gemeindemitgliedern möglich, an Gottesdiensten im Osten der Stadt teilzunehmen oder umgekehrt. Das alles änderte sich am Tag des Mauerbaus. In der Nacht zum 13. August 1961 ließ die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die Grenze zu West-Berlin abriegeln. Die beiden Stadthälften waren nun auch physisch geteilt: Menschen verloren ihre Arbeitsplätze, Familien wurden zerrissen, Kirchengemeinden durch Stacheldraht getrennt.
Der evangelische Bischof Dibelius aber erklärte nur wenige Tage nach dem Bau der Mauer, dass sich an der Situation der Christen nichts geändert habe und die Einheit der Kirchen trotz aller staatlichen Trennungsversuche fortbestehen werde. Die katholische Kirchenzeitung West-Berlins, das Petrusblatt, reagierte in ganz ähnlicher Weise auf den Mauerbau. Unter dem Mut machenden und zugleich mahnenden Titel „Wir gehören zusammen!“ erklärten die Redakteure des Blattes den Berliner Katholikinnen und Katholiken:
„Schwere Sorgen haben die jüngsten Ereignisse den Menschen diesseits und jenseits des Brandenburger Tores aufgebürdet. [...] Umso mehr aber kommt es jetzt darauf an, die innere Einheit des Berliner Bistums zu wahren. Diese innere Einheit ist von politischen Grenzziehungen unabhängig.“
Das Bistum Berlin im Kalten Krieg
Die Reaktionen der Kirchenleitungen und der kirchlichen Medien auf den Mauerbau täuschen darüber hinweg, dass die Einheit der Berliner Diözese und der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (EKiBB) längst fragil geworden war. Denn dass sich die Einheit der kirchlichen Amtsgebiete in Berlin nur zum Mindestpreis einer organisatorischen Trennung aufrechterhalten lassen würde, war schon in der Gründungsphase der beiden deutschen Staaten deutlich geworden.
Das Bistum Berlin reagierte frühzeitig darauf und nahm strukturelle Veränderungen vor. Bereits 1948 teilte die Diözese ihre Finanzverwaltung in eine Ost- und eine West-Verwaltung auf, da sie die Besoldung der kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach der Währungsreform in den von den Alliierten geführten Zonen nicht mehr einheitlich regeln konnte. Ab 1953 verfügte auch das Bischöfliche Ordinariat, also die Verwaltung der Diözese, über zwei Adressen: einer in Ost- und einer in West-Berlin. Außerdem gab es ab 1967 zwei Generalvikare. Das Bistum hatte damit zwei, statt wie üblich einen obersten Verwalter.
Ebenso waren Laienorganisationen wie der Domchor der St. Hedwigs-Kathedrale in Ost-Berlin von Neustrukturierungen betroffen. Dieser wurde ebenfalls geteilt: In West-Berlin probte der „Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin“, der bis in die 1970er Jahre gar nicht in seiner Ost-Berliner Bischofskirche auftreten durfte; derweil wurde im Ostteil der „Domchor von St. Hedwig Berlin“ aufgebaut.
Auch anhand der Priesterausbildung wird deutlich, welche weitreichenden Anpassungsmaßnahmen die SED mit ihrer Repressions- und Abschottungspolitik erzwang. Denn weil die DDR es nicht zuließ, dass Ost-Berliner Priesteramtsanwärter ein Studium in West-Berlin aufnahmen, wurden die Ost-Berliner Theologen seit 1952 im Erfurter Priesterseminar ausgebildet, während die West-Berliner Kandidaten in Paderborn studierten. Die Priester desselben Diözesanklerus erhielten damit nicht nur unterschiedliche Ausbildungen – viel schwerer wog: selbst sie kannten sich nicht mehr.
Parallelstrukturen und diözesane Einheit
Zwar dienten alle diese Veränderungen theoretisch der Aufrechterhaltung der diözesanen Einheit, doch führten sie gleichzeitig zur Herausbildung von Parallelstrukturen und förderten Entfremdungstendenzen. Wenngleich die katholischen Diözesan-Mitglieder über die Person des Bischofs, der seit 1961 in Ost-Berlin residierte und monatlich erst drei, später zehn Tage in West-Berlin verbringen durfte, miteinander verbunden blieben – im Alltag unterschied sich das kirchliche Leben in Ost- und West-Berlin zusehends voneinander. Einerseits waren die Ost-Berliner Katholiken „konservativen“ Traditionen verhaftet, gleichzeitig befanden sie sich in der Situation einer Subgesellschaft, die nicht auf etablierte Milieustrukturen zurückgreifen konnte und somit auf neue, innovative Praktiken angewiesen war.
All das deutet bereits darauf hin, dass sich der Einheitsbegriff im Zeitverlauf wandelte und zunehmend abstrakt verstanden wurde, ohne länger Einfluss auf das kirchliche Leben vor Ort zu nehmen. Vielmehr verfestigte sich die Teilung im Kirchenalltag bis 1989/90. So findet sich auch in der Ost-Berliner Bistumszeitung Hedwigsblatt vom 11. März 1990 die Frage, wie lange es wohl dauern würde, bis das Bistum wieder zusammenwachse. Das Blatt verwies damit auf jene tiefen Risse, die seit Jahrzehnten zwischen den Bistumshälften verliefen.
Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg wappnet sich
Während das Bistum Berlin bis zum Mauerfall nicht getrennt wurde, entschied sich die EKiBB für einen anderen Weg. Sie gab ihre staatskirchenrechtliche Einheit in den 1960er Jahren vorerst auf. Entlang der Systemgrenze wurde die EKiBB in zwei Bereiche – Ost und West – aufgeteilt; ab 1972 unterstanden diese jeweils einem eigenen Bischof. Tatsächlich hatte sich die Gesamtberliner Synode schon 1959 auf einen solchen Schritt vorbereitet. Die Synodalen aus Ost- und West-Berlin hatten gemeinsam eine Notverordnung erlassen, die es im Fall einer länger andauernden räumlichen Trennung regionalen Synoden ermöglichen sollte, getrennt voneinander Entscheidungen zu treffen, um handlungsfähig zu bleiben. Zwar sollte es sich bei diesem Entschluss nur um eine pragmatische, keine endgültige Trennung handeln, Wirklichkeit war sie damit aber trotzdem geworden.
Zudem hatten sich die evangelischen Gemeinden in Ost- und West-Berlin schon früher auseinanderentwickelt. Das lässt sich anhand sogenannter Visitationsberichte nachvollziehen. Visitationen sind regelmäßige Besuche von Kirchenleitungsmitgliedern in den einzelnen Kirchengemeinden, die dazu dienen sollen, den Ist-Zustand zu erfassen und davon ausgehend Lösungs- oder Verbesserungsvorschläge für die Gemeinden zu erarbeiten. Aus den Berichten geht vor allem hervor, dass sich die Alltagsprobleme der Kirchenmitglieder in Ost- und West-Berlin immer mehr voneinander unterschieden.
Deutlich wird das unter anderem am Umgang mit der Jugendweihe. Zwar wurde dieses nicht-kirchliche Initiationsritual, bei dem der Übergang ins Erwachsenalter gefeiert wird, bereits seit der Jahrhundertwende in Deutschland praktiziert, doch ab Mitte der 1950er Jahre war die Teilnahme daran in der DDR quasi staatlich verordnet: Jugendliche wurden in den staatlichen Massenorganisationen und in der Schule dazu angehalten, an der Jugendweihe teilzunehmen. Andernfalls drohten ihnen schulische und berufliche Nachteile. Da die Jugendweihe etwa zeitgleich mit der Konfirmation stattfand, trat sie in direkte Konkurrenz zum kirchlichen Übertritt ins Erwachsenenalter. Jedoch gerieten die Gemeindemitglieder nicht nur staatlicherseits unter Druck. Die Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg wies ihre Pfarrer 1955 an, alle Kinder, die zur Jugendweihe gegangen waren oder gehen wollten, nicht zu konfirmieren, was einem Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft gleichkam.
Selbstverständlichkeiten und Herausforderungen
Die Visitationsberichte belegen: Was in West-Berlin als Selbstverständlichkeit verstanden wurde, stellte für die evangelischen Gemeinden in Ost-Berlin häufig ein existentielles Problem dar. Das zeigt auch ein Blick auf den Religionsunterricht. In Ost-Berlin und in der DDR war es Aufgabe der Kirchengemeinden, diesen zu organisieren. Sie mussten entsprechendes Personal einstellen und finanzieren. Darüber hinaus wurde der Religionsunterricht aus den Räumen der öffentlichen Schulen verdrängt, was bedeutete, dass dieser außerhalb der Schulzeit und in kirchlichen Räumen stattfinden musste, an denen es oft mangelte. Beschreibungen wie aus der Brandenburger Gemeinde Zeesen sind deshalb keine Seltenheit:
„In einem engen Raum mit niedriger Decke und schrägen Wänden müssen über 20 Kinder gleichzeitig unterrichtet werden. Als Sitzgelegenheit muß sogar das Bett der Katechetin [evangelische Religionslehrerin] dienen.“
Doch sollen diese Beispiele nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das kirchliche Leben in West-Berlin ebenfalls veränderte und sich dort neue Schwerpunkte kirchlicher Arbeit vor allem im sozialen Bereich etablierten. Viele dieser Initiativen gingen über die Kerngemeinde hinaus. Einige Gemeinden konzentrierten sich etwa auf die Arbeit mit Suchtkranken, während in anderen Gemeinden die Integration von Migrantinnen und Migranten im Vordergrund stand. Die West-Berliner Kirchenleitung nahm diese Diversität in den Gemeinden ambivalent wahr: Sie befürwortete das soziale Engagement der Gemeindemitglieder, gleichzeitig kritisierte sie aber, dass die West-Berliner Kirche ihr christliches Profil zunehmend verliere. Infolgedessen beanstandeten Mitglieder der Kirchenleitung, dass die Gemeinden in Kreuzberg zum Beispiel so sehr mit sich selbst beschäftigt seien, dass sie kaum mehr über die eigenen Bezirksgrenzen hinausschauen könnten und nicht in der Lage seien, Missionsarbeit zu leisten. In Berlin-Grunewald hingegen entstünde der Eindruck, dass die Gemeinde unbedingt
„eine ‚moderne‘ Gemeinde sein will mit ihrem ganzen ‚make-up‘ bis hin zu dem Versuch so zu tun, als ob man nicht Kirche sei; deshalb die Vielzahl von Veranstaltungen bis zur Gefahr des Aktionismus.“
Das heißt aber nicht, dass sich die Menschen in den beiden Stadthälften nicht beobachteten, miteinander kommunizierten oder aufeinander Bezug nahmen. Auch wenn die Gemeinden schon vor der Trennung der evangelischen Kirche keine Einheit mehr bildeten, blieben sie einander trotzdem in besonderer Weise verbunden – sei es durch den Berliner Kirchenfunk, der in Ost- und West-Berlin empfangen werden konnte, die gemeinsame Liturgie oder Gemeindepartnerschaften, die Gemeinden aus Ost- und West-Berlin miteinander verbanden.
Inwiefern daher der katholische Entschluss „durchzuhalten“, im Gegensatz zu einer quasi amtskirchlichen Trennung, wie die EKiBB sie schließlich vollzog, etwas über das Einheitsverständnis und den kirchlichen Alltag der Berliner Christen im Kalten Krieg aussagt, ist erst einmal fraglich. Die beobachteten Konfliktlinien jedenfalls verliefen nicht nur entlang der Grenze zwischen Ost und West oder zwischen Kirche und Staat, sondern auch zwischen Stadt- und Landgemeinden, Geistlichen und Laien oder der Kirchenleitung und der Kirchenbasis. Es genügt somit nicht, das kirchliche Leben im geteilten Berlin allein und eindeutig entlang der Systemgrenzen voneinander zu unterscheiden, wie im Folgenden am Beispiel der zeitgenössischen Berliner Kirchenzeitungen verdeutlicht werden soll.
Getrennte Kirchenzeitungen: die Grenzen des Gemeinsamen
Zwar kann ein Vergleich der Ost- und West-Berliner Kirchenzeitungen im Kalten Krieg kirchliche Gemeinschaft nicht vollständig abbilden, aber er wirft doch Schlaglichter auf verhandelte innerkirchliche, interkonfessionelle oder überkonfessionelle Alltagsthemen und theologische Diskurse. Zudem geben Kirchenzeitungen kirchliche und kirchenpolitische Diskussionen wieder, ohne auf nationale oder internationale Inhalte festgelegt zu sein.
Beide Konfessionen versuchten 1945 an ihre kirchliche Medienarbeit in der Weimarer Republik anzuknüpfen. Sowohl die evangelische, als auch die katholische Kirche bemühten sich um den Aufbau eines möglichst unabhängigen Mediensystems, wobei zunächst die Herstellung von Printerzeugnissen im Vordergrund stand. Dem Bistum Berlin gelang es bereits am 2. Dezember 1945, das 1938 von den Nationalsozialisten verbotene Petrusblatt wieder aufzulegen. Die Lizenz dafür hatte der katholische Bischof von den amerikanischen Besatzungsbehörden erhalten. Die wöchentlich erscheinende Zeitung wurde in allen vier Sektoren der Stadt Berlin vertrieben und konnte per Post oder Kurier auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bezogen werden. Das Petrusblatt erfreute sich großer Beliebtheit und schon ein Jahr nach Erscheinen erlaubten die US-Amerikanischen Behörden eine Auflagensteigerung um 50 Prozent auf 30.000 Exemplare. Die Amerikaner wollten das Petrusblatt auch deshalb unterstützen, weil sie bemerkt hatten, dass sich die vielen politischen Artikel darin oftmals gegen die Sowjetunion richteten und weil sie wussten, dass die zusätzlichen Ausgaben vor allem in die SBZ geliefert werden sollten. Diese Form der politischen Einflussnahme auf die Menschen in der SBZ missfiel den dortigen Machthabern. Mit einem Verweis auf dezidiert antikommunistische Artikel verboten sie das Petrusblatt außerhalb Berlins zum ersten Mal. Basierend auf einem Geheimbefehl der Landesregierung des Landes Brandenburg durften zwischen Frühjahr und August 1947 keine Petrusblattausgaben mehr in die SBZ geliefert werden. Bald darauf folgte das endgültige Aus der Zeitung. 1953 verbot die SED sowohl die Einfuhr des Petrusblattes in die Diasporagebiete außerhalb der Stadtgrenzen als auch nach Ost-Berlin.
Ein eigenes Blatt für den Ostteil
Stattdessen erhielt der amtierende katholische Bischof, Wilhelm Weskamm, die Lizenz zur Gründung einer eigenen Ost-Berliner Kirchenzeitung: dem Hedwigsblatt. Diese Wochenzeitung erschien erstmalig am 3. Januar 1954 und umfasste in der Erstauflage 25.000 Exemplare. Das Hedwigsblatt war ausschließlich über den Postzeitungsvertrieb zu abonnieren, weshalb die DDR die Abnehmerkreise der Zeitung sehr gut kontrollieren konnte. Diese Kontrolle der Abnehmer sowie die Nachzensur der Zeitung durch die DDR-Behörden beeinflussten die inhaltliche Gestaltung des Blattes massiv. Um kein Publikationsverbot zu provozieren, verzichtete die Redaktion im Gegensatz zu ihrem West-Berliner Pendant auf politische Kommentare und ging selten auf tagesaktuelle Ereignisse ein. Dementsprechend vermied das Hedwigsblatt beispielsweise im August 1961 jede Erwähnung der Berliner Mauer, welche die Führung der DDR als „Antifaschistischen Schutzwall“ feierte, obwohl die Berliner Katholiken sie einheitlich ablehnten.
Doch auch wenn es darüber hinaus gelegentliche Versuche gab, aktuelle Nachrichten mit Camouflage-Techniken zu verschlüsseln, indem die Redakteure mit biblischen Metaphern arbeiteten, fehlte es der Zeitung offenkundig an Aktualität und gegenwärtigen Handlungsempfehlungen für die Gläubigen. So ist es nicht verwunderlich, dass das Petrusblatt vor allem in den 1950er Jahren versuchte, ein Gegengewicht zur Berichterstattung des Hedwigsblattes darzustellen. Was in der Ost-Berliner Zeitung nicht offen angesprochen werden konnte, prangerten die Redakteure in West-Berlin, wo das Prinzip der Meinungs- und Pressefreiheit galt, umso heftiger an. Ihr Ziel war es, etwaige Informationsdefizite der Ost-Berliner Katholiken zu kompensieren. Jedoch nahmen die wenigsten Katholiken im Ostteil des Bistums die Artikel im Petrusblatt überhaupt zur Kenntnis, da dieses ja nur mehr illegal nach Ost-Berlin und in die DDR eingeführt werden durfte. Und auch diejenigen, die die Texte lasen, begegneten der West-Berliner Kirchenzeitung oftmals mit zwiespältigen Gefühlen. Selbst wenn sie die Meinung der Petrusblattredakteure teilten, fürchteten sie die Konsequenzen solcher Berichte.
Denn nicht ausschließlich Kirchenmitglieder verfolgten, was im West-Berliner Blatt stand. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und das Staatssekretariat für Kirchenfragen in der DDR erfassten die Äußerungen in der West-Berliner Kirchenpresse ebenfalls und machten den Ost-Berliner Katholiken angebliche Falschmeldungen zum Vorwurf. Sie drohten ihnen mit Repressionen, sollte das Petrusblatt weiterhin schlecht über die Situation der Katholiken im Osten berichten.
„Über die Kirche in der DDR wächst ein bedauerliches Wissensdefizit. [...] Wenn aber Wissensbrücken abbrechen, schrumpft auch das Bewußtsein des Miteinanders. Defizit an Information kann allzu leicht zum Defizit an brüderlicher Mitverantwortung und Mitsorge werden.“
Ein Sonntagsblatt?
Die evangelische Kirchenpresse entwickelte sich ganz ähnlich. Die Leitung der EKiBB erhielt zunächst ebenfalls eine Lizenz von der amerikanischen Militärregierung und brachte genau wie die katholische Kirche am 2. Dezember 1945 ihre erste Nachkriegskirchenzeitung, Die Kirche, heraus. Aber auch im Fall der evangelischen Kirche bezogen Mitglieder aus Ost und West nur bis Anfang der 1950er Jahre dieselbe Zeitung. Ab 1952 erschien in West-Berlin das Berliner Sonntagsblatt. Entscheidend ist hier: Sowohl die evangelischen wie katholischen offiziellen Kirchenzeitungen konnten das Kommunikationsbedürfnis der Christen dies- und jenseits der Mauer aus verschiedenen Gründen nicht befriedigen, zumal sie in dem Ruf standen, tendenziell einseitig, im Interesse der oftmals autoritär wahrgenommenen Kirchenleitungen zu berichten. Seit den späten 1960er Jahren versuchten West-Berliner Kirchenmitglieder deshalb immer wieder, das Informationsmonopol der Kirchenzeitungen aufzubrechen. Vor allem Personen aus dem studentischen Milieu gründeten alternative Kirchenzeitungen mithilfe derer sie innerkirchliche Demokratisierungsprozesse vorantreiben wollten.
Im Osten sah die Situation anders aus, dort erklärten die offiziellen Kirchenzeitungen die Nichtveröffentlichung kontroverser Artikel zu Recht damit, dass sie kein staatliches Verbot ihrer Zeitungen riskieren wollten. Noch viel mehr als die West-Berliner, bemühten sie sich daher, die Geschlossenheit der christlichen Gemeinschaft in Ost-Berlin darzustellen, anstatt auf bestehende innerkirchliche Konflikte einzugehen.
Derweil waren politische Statements dieser Art in den offiziellen Ost-Berliner Kirchenzeitungen konfessionsübergreifend nicht denkbar. Erst in den 1980er Jahren wichen die inhaltlichen Schwerpunkte zwischen evangelischer und katholischer Presse in Ost-Berlin – sieht man von den Nachkriegsjahren einmal ab – wieder deutlicher voneinander ab. Die in der evangelischen Presse zu beobachtende Politisierung der Beiträge fand im katholischen Hedwigsblatt nicht statt. Dieses Vorgehen der Kirchenzeitungsredaktionen entsprach dem Verhalten vieler Kirchenmitglieder. Denn während sich oppositionelle Bewegungen unter dem Dach der evangelischen Kirche versammelten und deren Mitglieder damit zumindest herausforderten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, verharrte die katholische Kirche lange in Schweigen – die Katholiken in der DDR und Ost-Berlin brachten ihre Unzufriedenheit sehr viel seltener offen beziehungsweise im kirchlichen Raum zum Ausdruck. Allerhöchstens die katholischen Bischöfe hatten den Anspruch, auf Unrecht und Missstände hinzuweisen.
Nicht geeint, aber einander verbunden
Ganz gleich, welchen Weg sie einschlugen: Die amtskirchliche Einheit zu verteidigen und der DDR damit die offizielle Anerkennung zu verweigern oder die Macht des Faktischen anzuerkennen und formal getrennte Wege zu gehen – die Berliner Kirchen blieben in besonderem Maße miteinander verflochten und nahmen immer wieder Bezug aufeinander. Dabei lassen sich unter diesen – räumlichen, personellen und medialen – Verflechtungen gleichermaßen Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Konkurrenzmomente verstehen. Schließlich konnte auch eine bewusste Ab- und Ausgrenzung vom Anderen dazu dienen, kirchliches Leben im Alltag zu erleichtern.
Zwar lässt sich bei der Lektüre der Kirchenzeitungen durchaus feststellen, dass die christlichen Gemeinschaften beiderseits der Mauer grenzübergreifende Themen bewegten: Der Wiederaufbau zerstörter Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg, steigende Austrittszahlen oder die Situation der Menschen in der sogenannten „Dritten Welt“ sind hier als Beispiele zu nennen. Auch erinnerten die Kirchenzeitungen durchgängig und konfessionsübergreifend an den Widerstand von evangelischen und katholischen Christen in der Zeit des Nationalsozialismus. Wobei erwähnt werden muss, dass demgegenüber eine kritische Auseinandersetzung mit den Deutschen Christen oder Katholiken, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten, ausblieb.
Gleichzeitig wird aber ebenso deutlich, dass sich viele Lösungsansätze aufgrund von Systemdifferenzen voneinander unterschieden, ja in der Praxis sogar unterscheiden mussten: Die Kirchenzeitungen im Osten konnten nicht so offen und kritisch berichten, wie sie vielleicht wollten, da ihnen jederzeit Publikationsverbote drohten. Die Ost-Berliner Leserschaft wusste um diese Schwierigkeiten. Sie hatte sich in der Regel ohnehin darauf verlegt, politisch brisante Debatten im privaten Raum zu führen und diese nicht in die Öffentlichkeit zu tragen. Demgegenüber forderten katholische Laien in West-Berlin entsprechend der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Westen mehr Mitspracherechte und setzen sich unter anderem für den Abdruck von Leserstimmen ein, um kontroverse Diskussionen in der Kirche anzustoßen. Aus ihrer Perspektive war deshalb nicht nachvollziehbar, warum der Bischof ihnen Informationen oder Leserbriefe im West-Berliner Petrusblatt mit Verweis auf die Verhältnisse in Ost-Berlin noch in den 1960er Jahren vorenthielt.
Erst in den 1970er Jahren wurden die Laienkontakte zwischen Ost- und West-Berlinern langsam wiederbelebt. Jüngere Generationen begannen sich für das kirchliche Leben in der jeweils anderen Stadthälfte zu interessieren. Das belegen unter anderem die „Informationsabende DDR“, die in der Evangelischen Akademie in West-Berlin zu Themen wie „Jugend und Freizeit in der DDR“ oder „Schule und Gesellschaft in der DDR“ stattfanden.
Zitierweise: Maria Neumann, „Wir gehören zusammen!“ Christliche Gemeinschaft und kirchliche Zeitungen im geteilten Berlin, in: Deutschland Archiv, 6.12.2017, Link: www.bpb.de/259675