Politische Prozesse in der DDR sind oft als „Drehbuch-Prozesse“ bezeichnet worden – mit festgelegten Rollen und vorher feststehendem Strafmaß. Und wirklich taten Rechtsanwälte oft wenig dafür, ihre Mandanten zu verteidigen. Die Gründe dafür waren aber weit komplexer, als oft angenommen wird.
Im goldenen Käfig: Die politische Justiz und die Anwälte in der Arä Honecker
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Ob und wie ein Staat die Freiheitsrechte seiner Bürger einschränkt, sagt viel über den Charakter des Systems, auch des Justizsystems aus. Daher ist eine eher trockene Materie, das Strafprozessrecht, auch als „Seismograf der Staatsverfassung“
In den 1980er Jahren gab es nur etwa 600 Anwälte gegenüber rund 3000 Anwälten vor dem Krieg auf damals mitteldeutschem Gebiet. Diese Reduzierung war zunächst eine Folge der Entnazifizierung unter stalinistischen Vorzeichen, die auch politisch Andersdenkende traf, und weiterer Umstrukturierungen der Anwaltschaft wie die mehrheitliche Einbettung in bezirkliche Anwaltskollegien. Im Westen Deutschlands verlief der Trend langfristig genau umgekehrt, und allein dieser Rückgang zeigt, wie gering die SED-Justizpolitiker Individualrechte schätzten. Nach ihrer Rechtsauffassung waren die Rechte des Einzelnen durch den Staat der Werktätigen repräsentiert, im Gerichtssaal vor allem durch Staatsanwälte und Richter. Offenbar wurde sogar darüber nachgedacht, die Anwaltschaft abzuschaffen.
In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurde das Leitbild des „sozialistischen Anwaltes“ vorgegeben,
Gehorsame Justizfunktionäre oder Interessenvertreter ihrer Mandanten?
Wie sich dieser neue Typ eines Anwaltes in politischen Verfahren verhielt, war bisher nur für Einzelfälle beschrieben. Daher wurden Akten zu rund 1800 Personen untersucht
Für manche Variablen zum Anwaltsverhalten gab es so geringe Fallzahlen, dass sie für die weitere statistische Auswertung ausgeschlossen werden mussten. Allerdings sind auch gerade diese Befunde interessant. So wurden nur in neun Fällen seitens der Verteidigung eigene Beweisanträge im Verfahren gestellt. Auch die ausdrückliche Bewertung von Beweisen während des Verfahrens ist mit elf Fällen selten (2,8 Prozent).
Der zunächst wichtigste Befund: Anwälte in der DDR rügten so gut wie nie Verfahrensfehler oder stellten Befangenheitsanträge, was beispielsweise bei Staatsschutzprozessen gegen politisch motivierte Terroristen in der Bundesrepublik an der Tagesordnung war.
Eingegrenzt durch rechtliche Vorgaben und die zumeist kurz getaktete Verfahrensdauer bewiesen Anwälte im Schnitt nur wenig Engagement in derartigen Verfahren. In deutlich mehr als der Hälfte der Fälle zeigten die Anwälte nur sehr geringe, niedrige oder mäßige Aktivitäten.
Es gab nicht wenige Verfahren, die so kurz waren, dass der Anwalt das Geschehen weitestgehend dem Richter und Staatsanwalt überließ und sich im Schlussplädoyer zustimmend zum Sachvortrag der Staatsanwaltschaft äußerte. Oft beschränkte sich der Anwalt nach einigen Worten zur Biografie des Angeklagten darauf, für eine „milde“, zuweilen sogar „gerechte“
In Einzelfällen distanzierten sich Anwälte sogar im Gerichtssaal vom Tun ihres Mandanten. So im Fall des bekannten Dissidenten Rudolf Bahro. Dessen Verteidiger Gregor Gysi bezeichnete das Verhalten seines Mandanten als „gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR“
„sein Verhalten […] nicht angemessen und würdig eines Menschen [sei], der in der sozialistischen [...] Gesellschaft aufgewachsen ist. [Das] Motiv einer solchen Straftat ist, die DDR zu schädigen“.
Rahmenbedingungen
Juristisch wie wissenschaftlich ist fraglich, ob man in solchen Fällen überhaupt noch von einem Prozess sprechen kann. Diese Termine wirken eher wie ein Verwaltungsverfahren mit verteilten Rollen zwischen Festnahme und Freikauf durch die Bundesrepublik Deutschland. Spätestens seit 1973 war der Häftlingsfreikauf zu einer Routine zwischen beiden deutschen Staaten geworden, da die SED um ihr internationales Ansehen fürchtete und Devisen immer knapp waren.
Der Frage nach den Motiven der Anwälte wurde durch eine ausführliche Analyse der Rahmenbedingungen anwaltlichen Handelns nachgegangen:
Die IM-Frage
Gerade MfS-Belastungen von bekannten Anwälten wie Wolfgang Schnur, der mehr als 20 Jahre lang inoffizieller Mitarbeiter (IM) des MfS war, ließen es plausibel erscheinen, dass das MfS solche konspirativen Beziehungen für Absprachen nutzte. In der Tat zeigte sich, dass 16,9 Prozent der Anwälte in den DDR-Bezirken und sogar 34,8 Prozent der Anwälte der 1970er und 1980er Jahre in Ostberlin eine IM-Registrierung oder eine ähnliche Beziehung zum MfS aufwiesen.
Das Ermittlungsverfahren
Das Gerichtsverfahren war stark durch das Ermittlungsverfahren präjudiziert. Die Beschuldigten saßen ganz überwiegend in MfS-Untersuchungshaft. Sie wurden dort isoliert gefangen gehalten. Die Untersuchungsführer des MfS erhofften sich, dadurch möglichst schnell Geständnisse aus ihnen herauszupressen. Man sprach vom „Erstangriff“. In der Tat gelang es in den 1980er Jahren in 95 Prozent der Fälle bei den Erstvernehmungen, ein Geständnis oder Teilgeständnis zu erzielen.
In der Regel kamen die Anwälte relativ spät in das Verfahren. Es ist übertrieben zu sagen, dass dies erst nach Fertigstellung der Anklageschrift der Fall war,
Vor der Anklage, oft sogar schon vor dem Anwaltstermin, sollten die Beschuldigten ein handschriftliches Geständnis formulieren. Offenbar ließ man sie frei formulieren, Hauptsache, sie gaben etwas zu. Zum zweiten – das ist bislang übersehen worden – wurde den Inhaftierten eine vorformulierte strafprozessuale Erklärung vorgelegt. Darin hieß es: „Ich wurde am heutigen Tage nochmals über die […] vorliegenden Beweismittel in Kenntnis gesetzt.“ Es folgte unter anderem eine Aufzählung der Vernehmungsprotokolle. Indirekt bestätigte der Inhaftierte die Korrektheit dieser Beweise, denn er versicherte gleichzeitig: „Beweisanträge möchte ich nicht stellen“. Weiter hieß es: „von meinem […] Beschwerderecht möchte ich keinen Gebrauch machen. Ich wurde durch das Untersuchungsorgan korrekt behandelt.“
Mit dieser Erklärung hatte der Angeklagte seine Verteidigungsmöglichkeiten eigentlich schon weitgehend aus der Hand gegeben. Ein Verteidiger, der nun Beweisanträge stellen wollte oder den Mandanten zum Geständniswiderruf überredete, machte sich schnell verdächtig, das Verfahren aufzuhalten, ja den Gang der Justiz infrage zu stellen. Ein derartiger Verstoß gegen berufsrechtliche Vorstellungen konnte zu Beschwerden oder gar Disziplinierungsmaßnahmen führen.
Prozessökonomie
Die strafprozessualen Rechte in der DDR sind bislang wenig untersucht,
Das Prozessrecht, auch wenn es in der DDR nur selten verändert wurde, durchlief in der Praxis doch unterschiedliche Phasen. Gerade der Anfang der Herrschaft Honeckers ist durch eine rigidere Handhabe des Prozessrechtes bestimmt, die der Legende vom liberalen Anfang Honeckers endgültig den Garaus machen müsste. Den Hardlinern unter den SED-Funktionären in den Justiz- und Ermittlungsorganen waren die Justizreformen unter Ulbricht in den 1960er Jahren zu weit gegangen, die den Richtern, Verteidigern und Staatsanwälten mehr Spielräume gewährt und auch die Arbeitskollektive in die Beurteilung des Angeklagten eingebunden hatten. Die Prozesse dauerten ihnen durch die Teilnahme der Kollektivvertreter und die erweiterten Rechte der übrigen Verfahrensbeteiligten zu lange. Unter dem Stichwort der „Rationalisierung“ der Prozesse sollte dieser Trend zurückgedreht werden. Auch wurden Anwälte verstärkt Anfang der 1970er Jahre, aber auch noch später, in Beschwerden der Richter oder Expertisen des Justizministeriums namentlich kritisiert, wenn sie angeblich unsinnige Fragen oder Anträge gestellt hatten. Die Verfahren wurden in der Folge insgesamt deutlich kürzer. Von 1972 bis 1988 nahm die Prozessdauer in den MfS-ermittelten Verfahren von sechs auf 3,4 Stunden ab. Zwar gab es durchaus Unterschiede bei unterschiedlichen Delikten, es ist aber auffällig, dass gerade bei der Kanzlei Vogel, die vor allem Menschen betreute, die die DDR verlassen wollten, die Prozessdauer am stärksten schrumpfte. Bei der Hälfte der Prozesse lag sie unter einer Stunde.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Anwälte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre offensiver wurden. Die SED und die Staatsanwaltschaft hatten die Verfahrensbeteiligen in internen Sitzungen nach diversen Fehlurteilen bei der allgemeinen Kriminalität dazu ermuntert, ihre jeweilige Rolle intensiver wahrzunehmen. Das konnten auch die Anwälte nutzen. Man kann feststellen, dass offensivere Verteidigungen und die Zahl der Freispruchplädoyers zunahmen. Doch auf die Urteile hatte das kaum Auswirkungen. Da die Aktiveren oft zu den eher systemnahen Anwälten gehörten, deuten sich hier unterschiedliche Strategien im herrschenden Lager an, die erst 1989 im Umfeld der friedlichen Revolution zur vollen Entfaltung kommen sollten.
Politische Steuerung von Beginn an statt Drehbuchprozess
Die MfS-ermittelten Prozesse unterlagen einer starken Steuerung. Allerdings scheinen die Vorstellungen über die politische Beeinflussung dieser Verfahren zuweilen etwas einfach zu sein. Oft wurde davon ausgegangen, dass die Staatsanwälte dem MfS untergeordnet, ja letztlich nur „Erfüllungsgehilfen“ des MfS waren.
Justizlenkung
Auch wenn sicher nicht alles verschriftet oder überliefert ist, was es an direkten Abstimmungen zwischen den Verfahrensbeteiligten gab, scheinen die Verfahren doch insgesamt normengesteuerter gewesen zu sein als oft angenommen. Diese Normen waren an sich politisiert. Sie wurden in einem Gremium entwickelt, das in keiner Verfassung und keinem Gesetz der DDR erwähnt war und geheim tagte: den sogenannten Leiterberatungen. In diesen waren die Spitzen des Obersten Gerichtes, der Generalstaatsanwaltschaft, des Justizministeriums und der Ermittlungsorgane, MfS und Innenministerium versammelt. Bei Bedarf konnten andere hinzugezogen werden. Die Abteilung für Staat und Rechtsfragen im Zentralkomitee der SED war zumeist mit ihrem Sektorenleiter Justiz vertreten. Unterhalb der Leiter gab es noch die Stellvertreterberatungen, es konnten auch Facharbeitsgruppen gebildet werden. 1973 mit dem strikteren „neuen justizpolitischen Kurs“
Die in den Leiterberatungen abgestimmten Gesetzesinterpretationen führten zu „gemeinsamen Standpunkten“ oder „Orientierungen“. Diese wurden von den jeweiligen Leitern in ihren Institutionen durchgesetzt. Statt der gelegentlich vertretenen Ansicht, die Partei oder das MfS hätten im Einzelfall Richter und Staatsanwälte beeinflusst, muss in der Regel eher von einer vertikalen Beeinflussung in den jeweiligen Institutionen selbst ausgegangen werden. Die Staatsanwälte mussten über Verfahrensstände und Anträge schriftlich berichten und konnten förmlich angewiesen werden. Sie ließen sich in politischen Verfahren ihre Strafanträge vorher schriftlich von der übergeordneten Instanz absegnen. Bei den Richtern war das Verfahren konsultativer. Aber auch hier war es systemtypisch, dass sich bei wichtigen Verfahren die obere Instanz schon vor dem Urteil mit der unteren über die herrschende Rechtsauffassung austauschte. Hier dürfte, neben den engen Vorgaben aus den Leiterberatungen, die wichtigste Einengung der richterlichen Unabhängigkeit zu suchen sein, die formal auch in der DDR galt. Die Urteile waren zwar nur selten mit den Strafanträgen der Staatsanwaltschaft identisch, Urteile nach Antrag (UNA), aber sie wichen in der Berliner Stichprobe in MfS-gesteuerten Verfahren 1988 beim Urteil im Durchschnitt nur vier Prozent vom Strafantrag des Staatsanwaltes ab.
Dieses geschilderte „normale“ Prozedere galt vor allem für die Massenverfahren, die sich von 1976 bis 1988 zu drei Viertel gegen Personen richteten, die die DDR verlassen wollten und führte zu relativ stereotypen Verfahrensabläufen.
Die Anwälte auf der anderen Seite gingen davon aus, dass es für bestimmte Straftatbestände übliche Straf-„Tarife“ gäbe.
Auswahl der Anwälte
Das Idealbild vom sozialistischen Anwalt war sicher eine Konstruktion der herrschenden Justizfunktionäre, dennoch hinterließen die Veränderungen im Justizwesen der DDR auch ihre Spuren bei den Anwälten. Im Vergleich zur Richter- und Staatsanwaltschaft, die in den Anfangsjahren der DDR weitgehend durch Hilfsjuristen mit Volksrichterausbildung ersetzt worden waren, hielt man sich bei Ersetzung von Anwälten durch neue Kader stärker zurück. Während die Staatsanwaltschaft schließlich zu 100 Prozent aus SED-Mitgliedern bestand, überschritt die SED-Zugehörigkeit der Anwälte die 50-Prozent-Grenze erst Anfang der 1970er Jahre, in Berlin waren gegen Ende der DDR fast 70 Prozent der Anwälte Parteimitglieder.
Selbstdisziplinierung der Anwaltschaft
Die Disziplinierung der Anwaltschaft ist ein komplexer Prozess, bei dem das MfS eine eher untergeordnete Rolle spielte. Beschwerden bei den Kollegien über ein zu großes Engagement zugunsten von Angeklagten gingen ausweislich der Justizakten eher von Richtern und Staatsanwälten, deutlich seltener vom MfS aus. Für die Disziplinierung war in den meisten Fällen das Anwaltskollegium im Bezirk selbst zuständig. Das Ministerium der Justiz (MdJ) musste seit Ende der 1950er Jahre alle wichtigen Beschlüsse, sei es in Personal- Finanz- oder Disziplinarfragen, bestätigen. Es konnte „Hinweise und Empfehlungen“ geben.
Gemäß der stalinistischen Devise, dass Kaderfragen das Allerwichtige seien,
Wichtige Leitlinien, die die Anwaltsfunktionäre im Benehmen mit anderen Justizorganen formulierten, konnten im Extremfall auch eine disziplinarrechtliche Wirkung haben. Als die Berliner Anwaltschaft 1985 wegen des engagierten Verhaltens einer Anwältin von der Generalstaatsanwaltschaft unter Druck gesetzt wurde, formulierte Gregor Gysi, damals SED-Parteisekretär des Kollegiums: „Nicht ungefragt“
Fazit
In der Regel beförderten also nicht Einzelweisungen oder IM-Beziehungen sondern all diese Faktoren zusammengenommen ein Anwaltsverhalten im politischen Prozess der DDR, das in den Bahnen ungeschriebener Regeln blieb, auch wenn es durchaus bemerkenswerte wie interpretationsbedürftige Ausnahmen gab. Ein Mehr an Engagement konnte sehr unterschiedliche Gründe haben. Manchmal hatte die DDR-Justiz explizit ein Interesse daran, die anwaltliche Vertretung demonstrativ herauszustellen, dann wieder sah das MfS dies als ein Mittel, das Vertrauen des Mandanten und seines Umfeldes zu erlangen. In einigen Fällen entwickelten Anwälte ein Mehr an Eigensinn, die weniger in die Disziplin eingebunden waren. Insgesamt wirkt die Prozesskultur im politischen Prozess aber eher verarmt. Sicher waren die Verfahren stärker verregelt und nicht mehr so willkürlich wie in den 1950er Jahren. Dennoch sollte man vorsichtig sein, undifferenziert und uneingeschränkt von „Verrechtlichung“ zu sprechen. Die Verteidigungsrechte waren in der Praxis eher gering entwickelt und sie wurden durch zahlreiche informelle Praktiken im Stadium des Ermittlungsverfahrens und durch die parteiliche Rechtsinterpretation der Leiterberatungen ausgehöhlt. Insofern blieben die formal verbürgten Bürgerrechte bis zum Ende der DDR stark unterentwickelt.
Dafür, dass die Anwälte in diesem Spiel mitmachten, gab es noch einen besonderen Anreiz: Ein fleißiger Anwalt konnte sehr gut verdienen, etwa zweieinhalb bis dreimal so viel wie ein Facharbeiter. 1988 waren dies im Schnitt brutto über 3500 DDR-Mark im Monat
Zitierweise: Christian Booß, Im goldenen Käfig: Die politische Justiz und die Anwälte in der Arä Honecker, in: Deutschland Archiv, 18.12.2017, Link: www.bpb.de/261887
Dr.; Historiker, Journalist und wissenschaftlicher Projektleiter in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU).
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