Stellen Sie sich vor, Sie werden aufgefordert, sich an die eigene Schulzeit zu erinnern. Woran denken Sie zuerst? Vielleicht denken Sie „eigentlich an die Dinge in der Freizeit, an den Sport und das, was wir immer unternommen haben.”
Und möglicherweise würden Sie Ihre Schulzeit aus heutiger Sicht anders bewerten, als Sie es damals getan hätten, und denken ähnlich wie dieser Proband: „Früher hat es einen nicht gestört zu FDJ und Pionierveranstaltungen zu gehen, aber aus der heutigen Sicht war das ein Eingriff in die Person.”
Die Diskrepanz von Erfahrung und Erinnerung erforschen
Besonders auffällig beim Wandel der Erinnerung an die Schule in der DDR ist, dass die Diskrepanz zwischen den Bewertungen während der Schulzeit und der nachträglichen Einordnung relativ hoch ist. So schätzte die Mehrzahl der Teilnehmenden an der Sächsischen Längsschnittstudie (SLS) seit vielen Jahren das heutige, bundesrepublikanische Schulsystem im Vergleich zum DDR-Schulsystem als qualitativ schlechter ein. Zuletzt waren es 70 Prozent der Befragten, die die Schulbildung in der DDR besser bewerten.
Das Anliegen dieses Beitrages ist es, die Vielschichtigkeit von Erfahrung und Erinnerung herauszuarbeiten sowie den Wandel von Erinnerung als Grundlage für die Verständigung über historische Abläufe und deren Einordnung in der Gegenwart anzuerkennen. Gerade die Nuancen und unterschiedlichen Aspekte einer nachträglichen Bewertung als auch die Unterscheidung zwischen Erfahrung und Erinnerung können zu einem versachlichenden Blick auf die DDR-Schule beitragen, getreu dem Motto der Forschungsgruppe „Die lange Geschichte der ,Wende‘“: Differenzierung ist die neue Meistererzählung.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie der Wandel von Erinnerung überhaupt empirisch nachvollzogen werden kann. Als ein analytisches Vorgehen wird hier die Zweitauswertung einer sozialwissenschaftlichen Längsschnittstudie aus zeithistorischer Perspektive vorgestellt. Aus diesem Material wurden drei Fallbeispiele herausgearbeitet, anhand derer sich unterschiedliche Verlaufsformen der Erinnerung und Bewertung der Schulzeit in der DDR und in der Transformation in einer langen Perspektive zeigen lassen.
Wie für fast alle Lebensbereiche, die sich während der „Wendezeit” wandelten, gilt für die Schule eine besondere Spannung: die Friedliche Revolution, die Volkskammerwahl, die Öffnung der Grenzen zur Bundesrepublik und der Umbau des Bildungssystems fanden bei laufendem Schulbetrieb statt. Beim Übergang von einem System zum anderen handelte es sich also keineswegs um einen großen Knall oder eine „Stunde Null”, musste der Schulalltag doch irgendwie aufrechterhalten werden. Da dieser Wandel in fast allen gesellschaftlichen Bereichen stattfand, sprechen wir in der Forschungsgruppe von einer Gleichzeitigkeit der Unsicherheiten (siehe Ergebnis 2 im Gesamtfazit). Der Autor Peter Richter hat dies in seinem Roman „89/90“ anschaulich formuliert: „Was bleibt dir denn, wenn du zum Fall der Mauer beiträgst, aber am nächsten Tag trotzdem eine Mathe-Arbeit schreiben musst [...]?”
Die Sächsische Längsschnittstudie als Quelle
Die Menschen, die hier im Fokus stehen, eignen sich als Untersuchungsgruppe zu den Erfahrungen mit der Umstrukturierung des Bildungswesens besonders gut: Sie haben in beiden Bildungssystemen Einblicke in die Schule und vor allem in ihre Transformation gewonnen. Im Sommer 1989 besuchten sie die 10. Klasse verschiedener Polytechnischer Oberschulen (POS)
Die schriftlich verfassten Antworten auf die offen gestellten Fragen der Sozialwissenschaftler zeichnen sich durch eine Unmittelbarkeit aus, die in rückblickenden Erinnerungsberichten nicht gegeben ist. Sie bieten daher die Möglichkeit, auf Informationen über das damals aktuelle Erleben, die Primärerfahrung der damals Jugendlichen, zurückzugreifen.
Der bereits genannte statistische Befund, dass das DDR-Schulsystem gegenwärtig von 70 Prozent der Befragten besser angesehen wird als das bundesrepublikanischen System, gibt wenig Auskunft darüber, auf welche Aspekte des Schulwesens sich diese Einschätzungen beziehen und wie sich diese Einschätzung bei einzelnen Personen festgesetzt oder verändert hat. Drei Bewertungsmuster werden dazu exemplarisch herangezogen. Sie decken die Bandbreite von einer unveränderten Bewertung (Person A), den Wandel von negativer zu positiver Einschätzung (Person B) und unentschiedener Einschätzung (Person C) ab.
Gemeinschaftsgefühl und Stabilität. Gleichbleibend positive Bewertung der Schulzeit
Person A steht beispielhaft für eine mehr oder weniger konstant positive Einschätzung der Schule vor der Wende und danach. Im Zentrum der Äußerungen zur Schule stehen sowohl in dem schriftlich verfassten Beitrag von 1990 als auch in einem 1997 geführten qualitativen Interview das Gemeinschaftsgefühl und der Zusammenhalt in der Abiturstufe. Den Übergang von der POS, der genau zum Schuljahreswechsel im Sommer 1989 stattfand, beschreibt die Person als „schon etwas schwierig” und begründet dies vor allem mit den gestiegenen Lernanforderungen und der Gewöhnung an einen neuen sozialen Zusammenhang.
„Meine Klassenkameraden und ich waren alle bemüht ein gutes Kollektiv so schnell wie möglich aufzubauen, was durch viele gemeinsame Unternehmungen auch gut gelang. Z.B. war unsere Klassenfahrt im Oktober einfach spitze. Rundum ein tolles Erlebnis. Mit unserer Klassenlehrerin haben wir auch ein sehr gutes Verhältnis, was sehr schön ist. Man könnte sagen: Mit ihr kann man Pferde klauen. Sie ist streng, aber gerecht und stets für einen Spaß zu haben. Mit diesem tollen Verhältnis haben wir viele Probleme gemeistert.”
Sieben Jahre später wird diese Erinnerung fast eins zu eins im Interview wiedergegeben: Interviewer: „Wenn Du an Deine Schulzeit zurückdenkst: Woran erinnerst Du Dich besonders gern?" Person A: „Speziell auf die Abi-Klasse bezogen hat mir halt sehr gefallen, wie wir uns zusammengeschweißt haben in den zwei Jahren. Man kam ja dorthin, neue Lehrer, neue Schüler, neue Unterrichtsmethoden, alles neu und da fand ich es gut, wie wir uns zusammengefunden haben. Wir haben auch viel nach der Schule zusammen gemacht und dann auch die Klassenfahrten und so, das war alles halt schön, gerade der Zusammenhalt, der sich entwickelt hat.”
Besonders deutlich werden hier die Rolle der Lehrkraft und das Gemeinschaftsgefühl in der Klasse beim Umgang mit dem Umbruch 1989/90. Den Lehrkräften kommt nicht mehr die Aufgabe der „Einfädelung der Schüler in die sozialistische Gesellschaft”
So beschreibt Person A vor allem den Kontakt zu anderen Lehrkräften und Mitschülerinnen und Mitschülern als besonders wertvolle Erfahrung. Aus dem im Jahr 1990 ausgefüllten Fragebogen lässt sich deutlich die große Unsicherheit hinsichtlich der künftigen Berufsbiographie, aber auch die Angst vor Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Drogen und Perspektivlosigkeit für ostdeutsche Jugendliche ablesen.
So wird die Politisierung des Schulalltags in diesem Fallbeispiel zwar benannt, aber nicht als prägende Erfahrung eingeordnet. Im Gegensatz dazu nimmt Person A im Verlauf der Zeit an, dass der Wegfall der Jugendarbeit in den 1990er Jahren ein Problem darstellt. Und so verfestigt sich die Erinnerung, eigentlich gerne in die Schule gegangen zu sein und dort Unterstützung in einer unsicheren Situation erfahren zu haben. Während die politische Ausrichtung und außerunterrichtlichen Angebote von Person A in den Fragebögen von 1990 und 1994 als sehr kritikwürdig eingestuft wurden, relativiert die befragte Person dies im Interview von 1997, wenn es heißt:
„Ja gut, was jetzt die FDJ und die Pioniere betrifft, das hat einen schon irgendwo genervt. Man musste halt das eine oder das andere Mal zum Pioniernachmittag, auch wenn es einem nicht gefiel. Aber aus heutiger Sicht muss ich sagen, es war ziemlich gut, auch bezogen darauf, weil jetzt viele Jugendliche auf der Straße herumhängen und nachmittags nichts zu tun haben. Daraus entwickelt sich auch eine gewisse Kriminalität oder eben auch Perspektivlosigkeit, weil sie eben nichts kennenlernen. Diese Nachmittage haben auch viel genützt aufgrund der Beziehungen, wo halt viele Elternteile gearbeitet haben, [wir haben, Anm. d. Verf.] auch viele Sachen gesehen, wo halt nicht jeder rein kam. Deshalb fand ich die Organisation in der Hinsicht auch nicht ganz verkehrt. Ich denke auch mal, daß ich mit meinen Lehrern an sich viel Glück gehabt habe.”
Hinsichtlich der Bildungsziele, Unterrichtsgestaltung, materiell- technischen Ausstattung und der Gesamteffektivität wird die Schule in der DDR als wenig kritikwürdig eingeordnet (Frage im Fragebogen 1990 mit Skalenangabe [hier evtl. Abbildung der Frage aus dem Fragebogen einfügen].) Diese individuelle Einschätzung steht gängigen Topoi der Erinnerung an die DDR-Schule gegenüber, die den Fokus stärker auf die Unterdrückungs-, Disziplinierungs- und Indoktrinationselemente legen. In dieser Erzählung dominiert die Schule als ideologische Indoktrinationsanstalt, in der die Kinder durch Kontrolle und Propaganda zu sozialistischen Persönlichkeiten erzogen werden sollten.
Vom „unverantwortlichen Staatsbürgerkundeunterricht” zum „Laberfach” – Unterricht im Zentrum der Erinnerung
In den Jahren 1989 und 1990 wurden einzelne Unterrichtsfächer von den Teilnehmenden der SLS vermehrt kritisch erwähnt. Dazu gehören vor allem Fächer, die der Vermittlung der politisch gewollten sozialistischen Haltung dienten, wie Geschichte und Staatsbürgerkunde, aber auch Russisch.
„Durch die Wende in der DDR ist der Lehrstoff z.B. in Geschichte viel interessanter geworden. Der bis dahin unverantwortliche Staatsbürgerkundeunterricht ist glücklicherweise abgeschafft worden”.
Weiterhin stuft die befragte Person die Schule der DDR 1990 in allen abgefragten Teilaspekten (Bildungsziele, Unterrichtsgestaltung, außerunterrichtliche Angebote, politische Ausrichtung, materiell-technische Ausstattung, Gesamteffektivität) als sehr kritikwürdig ein. Die Einschätzung der Schule und insbesondere der genannten Fächer wandelte sich Mitte der 1990er Jahre zum Positiven. Im Interview von 1997 formuliert sie: „Ich habe eigentlich keine schlechte Erinnerung. Teilweise habe ich Sport gehasst.”
„Ich kann nicht einmal sagen, dass mir Stabü irgendwie missfallen hat. Das war ein Fach, dass alle geliebt haben, weil es ein Laberfach war, weil da nichts war. Gute Zensuren hast du eben bekommen, wenn du geschrieben hast, was alle wollten, und da waren sie zufrieden, und wenn du vielleicht noch selber daran geglaubt hast, war es noch besser.”
Ab Mitte der 1990er Jahre veränderte sich auch die Einschätzung zu der Frage, ob das Bildungswesen vor oder nach der „Wende” besser gewesen sei. So kreuzte Person B in den Befragungen von 1990 bis 1997 „nach der Wende besser” und danach „vor der Wende besser” an. In diesem Fall lässt sich also ein ganz deutlicher Wandel der Erinnerung bzw. eine rückblickende Neubewertung der Situation ausmachen, der sich auf den Fachunterricht und die politische Ausrichtung des Unterrichts bezieht. Über die Gründe dieses Wandels lässt sich nur spekulieren. Eine mögliche Deutung wäre der erneute Kontakt zum Schulsystem, diesmal in der Elternrolle. Hier könnte der Abgleich mit der eigenen Schulzeit und der heutigen Perspektive auf die Schule aus Elternsicht die sich wandelnde Einstellung zur DDR-Schule erklären. Inwieweit die heutige Bewertung der Schule mit dem eigenen sozialen Status und dem biographischen Verlauf zusammenhängt, gilt es in den Blick zu nehmen. Weiterhin fand ab dem Jahr 2000 in Deutschland eine bildungspolitische Debatte statt, die durch die Ergebnisse der PISA-Studie ausgelöst wurde. In diesem Zusammenhang wurde auch diskutiert, inwieweit die Ergebnisse im Ländervergleich mit der DDR-Vergangenheit und dem Konzept von Gesamtschulen zusammenhingen.
Eine weitere Interpretationsmöglichkeit für das Umschwenken könnte darin bestehen, dass die Bewertung des Schulsystems eine Stellvertreterfunktion einnimmt und über das positive Bewerten der DDR die eigene Biographie und vor allem negativ bewertete Erfahrungen als Ostdeutscher in der Nach-„Wendezeit” kompensiert werden. Dieser Zusammenhang lässt sich zukünftig vertiefend durch die Kombination qualitativer und quantitativer Daten zum Thema Schule anhand der SLS analysieren. Es bleibt dabei eine methodische Herausforderung, herauszufiltern, auf welche Bereiche des Schulwesens sich die Bewertungen beziehen und genauer zu differenzieren, inwiefern die Bewertung der Schule stellvertretend für das Gesellschaftssystem steht.
„Kann ich nicht beurteilen” – Differenzierte Bewertung der Schulzeit vor, während und nach der „Wende”
Während Person B ihre Meinung in Bezug auf die Schule vor der „Wende” lediglich einmal verändert und in den darauffolgenden Befragungswellen bei einer Position bleibt, schwankt bei Person C die Meinung mit jeder Welle. Alle Antwortmöglichkeiten werden im Verlauf der Zeit angekreuzt. Es überwiegt allerdings die Eintragung „kann ich nicht beurteilen”. Auch in den schriftlichen Äußerungen zeigt sich, dass die befragte Person sich um Differenziertheit bemüht. So beschreibt sie 1990, dass ihr der Übergang von der POS zur Erweiterten Oberschule (EOS) leichter gefallen sei, als sie es sich vorgestellt habe.
„Sie [die Freunde, Anm. d. Verf.] sind das Positive an der EOS! Sie geben Halt und vermitteln das Gefühl, nicht umsonst da zu sein, sondern auch wichtig für Andere zu sein. Negativ hervorzuheben ist, dass sich trotz der Wende kaum etwas an dem Unterrichtsinhalt geändert hat. Vor allem in Deutsch wird das deutlich. Mit diesem (altstalinistischen Lehrer) ist dieses schöne Fach manchmal unerträglich, da seine Ansichten oftmals weit an der Realität vorbeigehen.”
Auch hier wird also der systemunabhängige bzw. systemübergreifende Faktor der sozialen Beziehungen mit der eigenen Peergroup benannt, während die Fächer und in diesem Falle die politische Ausrichtung einzelner Fächer negativ ins Gewicht fallen. Ebenso wird die Fortführung der Politisierung des Unterrichts, hier im Fach Deutsch, durch eine einzelne Lehrkraft kritisch herausgehoben. Diese Einschätzung zeigt sich auch im quantitativen Teil, in dem sowohl 1990 und 1994 die politisch konnotierten Fächer wie Geschichte, Staatsbürgerkunde und Wehrunterricht als ausschließlich oder überwiegend negativ bewertet werden.
Dynamische Erinnerungen einordnen und anerkennen
Anhand der Fallbeispiele konnte gezeigt werden, dass sich die Bewertungen und Erinnerungen an die Schulzeit vor allem auf den Fachunterricht und das mit der Schulzeit verbundene erlebte Gemeinschaftsgefühl beziehen. Weiterhin zeigt der Blick in die Quellen wie dynamisch sich Erinnerung entwickelt. Nicht zuletzt ist aus methodischen Gesichtspunkten zu berücksichtigen, dass die hier untersuchten Menschen sowohl zu unterschiedlichen Zeitpunkten als auch mit unterschiedlichen Erhebungsinstrumenten befragt wurden. Dementsprechend ist bei der Zweitauswertung von sozialwissenschaftlichen, aber auch allen anderen Studien eine quellenkritische Einordnung des Materials, die auch die Wissensgeschichte berücksichtigt, notwendig.
Weiterhin zeigt sich auch am Beispiel Schule, dass verschiedene Settings oder Rahmen des Erzählens das Gesagte beeinflussen. Die Veränderung der Erinnerung an die Schulzeit ist somit ein Beispiel für die Unterschiede zwischen Erfahrung und Erinnerung. Dies zu berücksichtigen, liefert ein differenziertes Bild von der Schulzeit in der DDR. Das ist vor allem dann notwendig, wenn Erinnerungen oder nachträgliche Bewertungen der Schulen in Ostdeutschland in heutige bildungspolitische Debatten einfließen. Die Unterscheidung zwischen Erfahrung und Erinnerung kann zur Differenzierung beitragen. Erinnerung als etwas Dynamisches anzuerkennen und reflektiert damit umzugehen, wird in diesem umstrittenen Feld weiterhin die gemeinsame Aufgabe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und den Mitlebenden (Rothfels) sein, denn „zunächst einmal muss es um eine selbstbewusste und differenzierte Aneignung der Geschichte gehen, jenseits von Verteufelung oder Verherrlichung der DDR.”
Zu Idee und Anlage der Forschungsgruppe und zu Gesamtergebnissen
Zitierweise: Kathrin Zöller, "Erinnerung, Wandel und Neubewertung – Die Schulzeit in der langen Geschichte der „Wende” ", in: Deutschland Archiv, 18.09.2020, Link: www.bpb.de/315771