Die Essays von Esther Dischereit beschreiben den deutsch-jüdischen Alltag, thematisieren rassistisches Denken in Behörden und anderen Institutionen, und berichten von persönlichen Erfahrungen in den 1990er Jahren zwischen Ost und West. Ihre Texte stellen sich der Frage, wie demokratische und solidarische Prozesse vorankommen können. Die Autorin äußert sich zu Flucht und Gewalt, zum Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur 2019. Ihre Beobachtungen im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zur Untersuchung der Verbrechen des NSU fließen in einen Werkstattbericht über ihre literarische Arbeit zu diesem Thema ein. Dischereit bezieht auch Position zu Israel und Palästina.
Im hier zur Veröffentlichung ausgewählten Kapitel „Mama darf ich das Deutschlandlied singen“ berichtet die Autorin über Prozesse der Zuschreibung und Selbst-Zuschreibung, über Zugehörigkeit und deren Verweigerung, über in Deutschland lebende jüdische Menschen unterschiedlicher Generationen in einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft auch vor dem Hintergrund der Shoah:
Eines Tages bemerkte ich, dass ich mein fünftes oder sechstes Buch über jüdische Personen und Zustände geschrieben hatte, viele Hörstücke, ein Theaterstück, Gedichte … Es existierten auch andere Stücke, andere Bücher zu anderen Themen, aber deutlich weniger.
In den USA stellte ich Übungen jüdisch zu sein und Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte vor. Egon Schwarz, der Nestor der amerikanischen Germanistik und unter anderem Autor des Buchs Keine Zeit für Eichendorff, in dem er seinen Weg von Wien ins Exil beschreibt, spricht mit mir: »Warum bewegt Sie das so?« Ich: »Wie kommen Sie darauf?« Nach dem Erscheinen von Mit Eichmann an der Börse. In jüdischen und anderen Angelegenheiten, meint ein Freund: »Ich wusste nicht, dass dich diese Dinge derart beschäftigen.« Die Lektorin ist anwesend. Zu ihr gewendet, sage ich: »Diese Dinge beschäftigen mich gar nicht dermaßen.« »Dann spielen Sie alles«, antwortet sie und glaubt mir nicht. Ich gab mich geschlagen und wollte keine Betrügerin gewesen sein. Warum schrieb ich diese Dinge? Manchmal benötigt man lange Wege, um eine einfache Sache zu klären. Sie steht mir vielleicht am nächsten; auch was die Kompetenz betrifft.
Mit dem Judentum lebe ich immerhin schon, seit ich geboren bin. Das ist eine lange Zeit, um sich Kenntnisse anzueignen oder zumindest eine Vertrautheit zu erwerben. Unsere Beziehungen sind mal enger, mal weiter. Eine Weile lang schien es, als wäre die Beziehung abgebrochen. Wie sich herausstellte, stimmte es nicht.
Immer wieder machte ich den Versuch, das Thema zu verlassen. Mit wechselndem Erfolg. Das jüdische Thema verließ mich nicht. Ich schreibe es, solange es bei mir ist. Ich »pflege« mein Jüdisch-Sein nicht. Es bedarf keiner besonderen Sorge. Es ist. Und ist dabei weder so noch so. Es ist; so wie der Stein ist, der Mensch oder der Geist. Ich spreche vom Jüdisch-Sein im Sinne einer echten oder gewissermaßen »anständigen« Identität nicht. Meine Darstellung geht eher von Vielgestalt(igkeit)en aus, bei denen es darum geht, die Persönlichkeiten in eine zusammenzuführen und gleichzeitig damit auszukommen, dass sie separate Leben führen. Es geht um die Wahrnehmung verschiedener Stimmen und Zustände der Gegenwart, Stimmen aus der Geschichte; Stimmen derer, die ermordet wurden.
Zugrunde liegt dem eine Auffassung von Identität, die es unmöglich macht, sie ein für allemal zu haben wie ein Beutestück oder ein gleichsam natürliches Gut. Es ist nicht von Belang, dass eine Kongruenz zwischen der Person und der Identität erreicht werde; zumindest nicht als ständiger oder zuverlässiger Zustand. Ich gebe zu, diese Konstruktion trägt auch absurde Züge.
Person: ein Mädchen, 17 Jahre alt, deutsch, 2000: »Sagen Sie« – sie spricht leise – »sagen Sie, müssen Sie immer jüdisch sein?« Dieser Satz hängt im Versammlungsraum, an dessen Eingangsseite ein Christusbild angebracht ist. Golden barocke Engel bewegen ein Deckenbild; marmorne Säulen an den Seitenwänden. Das Mädchen sitzt inmitten ihrer Klassenkamerad*innen. In dieser Gegend sind die meisten katholisch erzogen. Zwei sitzen in der ersten Reihe nebeneinander. Sie tragen kleine Kreuze um den Hals. Ich sehe mich um nach dem Klassenlehrer. Später wird er sagen, es sei alles ein bisschen traurig, was ich schreibe. Der Satz wiederholt sich in meinem Mund. »Müssen Sie immer jüdisch sein?« Der Zeiger an der Wanduhr bewegt sich. Das Mädchen wartet. Ich sage: »Beim Frühstücken lässt das allmählich nach.«
Person: ein Mädchen, 10 Jahre alt, jüdisch, 2001: In der Schule gibt es die Hausaufgabe: Auswendiglernen der Nationalhymne. Sie stellt ihre Schultasche ab und sieht nach, ob ihre Mutter zuhause ist. »Mama, darf ich das Deutschlandlied singen?« Die Mutter denkt nach. Auch die ältere Schwester war in einer der Grundschulklassen mit dieser Aufgabe eines Tages nach Hause gekommen. Sie steht im Lehrplan. Wenn das Kind nicht mitsingen möchte, wird es einen Brief mitbekommen. Das Mädchen hat den Verdacht, dass sich das Absingen des Deutschlandlieds mit seinem Jüdisch-Sein nicht vertrage; dass es als Jüdin vielleicht beleidigt werde. Es ist bereit, die Position des Kollektivs, der Mehrheit, sofort zu verlassen, wenn sich sein Verdacht bestätigen sollte. Das Kind ist davon befremdet, dass es ein Lied in der Schule lernen soll, von dessen zunehmendem Gebrauch in einem nationalistischen und rechtsradikalen Milieu es weiß und dessen Bedrohlichkeit es bereits kennt.
Es kann hier nicht darum gehen, den ursprünglichen, historischen Gehalt dieses Textes von Heinrich August Hoffmann (von Fallersleben), der das »Lied der Deutschen«, auch »Deutschlandlied« genannt, 1841 verfasste, zu besprechen. Das Lied wurde zur Zeit der Weimarer Republik auf Vorschlag des Sozialdemokraten Friedrich Ebert zur Nationalhymne erklärt. Es wurde von 1933 bis 1945 weitergesungen, nun obligatorisch in der Verbindung mit dem Horst-Wessel-Lied. Dessen Text besteht aus dem Gedicht des Bezirksleiters und Führers des SA Sturm 5, Berlin, Horst Wessel und wurde in Der unbekannte SA-Mann, Beiblatt zu Der Angriff, Parteiorgan der SA, 1929 veröffentlicht. Als Lied gewann es nach dem Tod Wessels, 1930, jene Popularität, die es zur inoffiziellen Nazi-Hymne werden ließ. Nach 1945 wurde das Absingen im Rahmen des Verbotes von Kennzeichen und Symbolen der NSDAP untersagt.
Seit 1952 wird in der Bundesrepublik die dritte Strophe des Deutschlandlieds als Nationalhymne erlernt; die Intonation des »dabeigewesenen« Horst-Wessel-Lieds gelingt jedoch ohne weiteres erneut, wie sich beispielsweise anlässlich der Vorführung des Films »Triumph des Willens« von Leni Riefenstahl in der Urania, Berlin, im Jahr 2002, unter den annähernd tausend Besucher*innen zeigte. Nicht wenige summten spontan mit. Die einstigen ideologischen Anbindungen gehen wegen der Veränderung der Staatsform im musikalischen Gedächtnis nicht verloren. Auch die erste Strophe des Deutschlandlieds dürfte noch immer geläufiger sein als die dritte.
Wie weit ist die Frage des jüdischen Mädchens, das im Alter von 10 Jahren seine Mutter fragt, ob es das Deutschlandlied singen dürfe, von gesellschaftlichen Zuständen entfernt, in denen es darum ging, dass Juden in Deutschland die Nationalhymne singen und mitsingen dürfen …, und sie sangen sie mit Inbrunst und lauter als die anderen. Dann änderten sich die Zeiten, und es wurde dem Kind und vielleicht noch einem in der Klasse verwehrt, mitzusingen, bis keine jüdischen Kinder mehr sangen.
Die Frage des Mädchens, gestellt nach 1989, dem Fall der Mauer, bringt nach Meinung von Frank Stern auch einen anderen Zustand zum Ausdruck: »Die Juden in Deutschland sind da, wo sie seit der Aufklärung sein wollen, in einer demokratisch geordneten Zivilgesellschaft, wo eben jeder nach seiner Façon selig werden kann – wenn man ihn denn lässt. Es ist wohl auch etwas Wesentliches in dieser Zivilgesellschaft, dass sie sich nicht von selbst ergibt. […] Sie ist, wie jede Bewegung gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, gegen Antisemitismus und Geschichtslügen beweist, ständig aktiv zu gestalten, insofern geistiges Kind der Aufklärung.«
Nicht nur »der Aufklärung«, füge ich an, sondern auch der Studentenrevolte, der 68er Bewegung, die am nachhaltigsten die Autorität des Staates, hier der Schule, infragestellte. Das Kind nimmt selbstverständlich an, dass sich seine Jüdischkeit mit dem deutschen »Kollektiv« nicht vertragen könnte und setzt sich selbst als Subjekt; sicher, dass es sich hierin in Übereinstimmung mit der Mutter befinden, und gewiss darin, dass auch diese sich möglicherweise hier in Abweichung gegenüber der durch die Schule repräsentierten Mehrheitsposition bewegen werde. Eine deutliche Distanz zur Identifikation im (Mehrheits-)Deutschen schwingt mit. Das Mädchen weiß sich als das Andere, folgt seiner anderen Selbstverständlichkeit des gesellschaftlichen Orts. Seine Identifikation mit der Mutter als Jüdin – und der Familie – steht außer Frage gegenüber den Instanzen des gesellschaftlichen »Außen«.
In Übungen jüdisch zu sein formulierte ich: Die Roma und Sinti sind mir andere Andere. Was uns verbindet, sind unsere Mehrfach-Identitäten, die in einem Umfeld gelebt werden, das sich mehrheitlich monokulturell verstanden wissen möchte. Und es verbindet uns die Tatsache, in Deutschland zu leben. Der Anstand einer »normalen« Identität als »Jüdin im Nationalen« geht mir ab. »Etwas anderes« – aber was? Leider kann ich da seit Martin Buber nicht weiterhelfen und bleibe gewissermaßen »unsichtbar«.
Diese »Setzung« des Kindes geschieht jedoch nicht nur, weil es sich als Jüdin bewegt, sondern ebenso, indem es sich als civis, Bürger*in, setzt; eben mit der gebotenen Distanz zu den Instanzen der Staatsmacht. Die Frage nach der jüdischen Identität könnte hiernach ebenso gut oder ebenso schlecht als Frage nach dem Spezifischen jüdischer Musik, jüdischen Schreibens, jüdischen Atmens oder Lebens gestellt werden, womit ich nicht meine, dass diese Fragen zu stellen absurd oder blöde sei, obwohl sich absurde und blöde darunter befinden. Nur ist ihre Beantwortung eben eine komplexe und nichteindeutige Sache, wie Astrid Deuber-Mankowsky in Fragen zur jüdischen Philosophie heute zeigt.
Es stellt sich die Frage, ob eine Suche nach Identität überhaupt wünschenswert ist oder weniger Identität ihre Vorteile hätte. Jedenfalls handelt es sich offensichtlich um einen anstrengenden Zustand. Das Genre der Identitätssuche wird in der Generation, die nach 1945 und später geboren ist, deutlich heftiger gepflegt als in der älteren Generation. »Sie ist ein Closet-Jew«, pflegt ein fünfunddreißigjähriger Mann über seine Mutter zu sagen, die die Nazi-Zeit als Kind im Versteck überlebt hat. Er wiederholt das – er tut es nicht selten –, und mir wollte es so vorkommen, als würde er seinen Körper jedes Mal, wenn er das sagte, ein wenig strecken, und dabei etwas größer werden. Er bringt mehr religiöse Riten nach Hause, als seine Mutter jemals kennengelernt oder ausgeübt hat.
Lebt seine Mutter als child survivor weiterhin »versteckt« und wird sie empathisch von ihrem Sohn dabei im Stich gelassen – was ein eigenes Thema wäre – oder nimmt sie die Jüdischkeit der assimilierten (Frank Stern hätte Einwände gegen diese Ausdrucksweise) Verhältnisse vor 1933 für sich in Anspruch, in der es gestattet war, weniger oder anders jüdisch zu sein, was schließlich auch möglich sein sollte. Sie heißt auch nicht Deborah, sondern Hannelore. Die children of survivors, second oder third generation erringen sich diese Mehrgestaltigkeit legitimer jüdischer Zustände über den Weg anstrengender Selbstklärungen, die auch nicht dadurch weniger anstrengend werden, dass es sie vor 1933 schon einmal gegeben hat.
Möglicherweise auch ein Schlüssel zu meinem Schreiben. Und ein Versuch zu erklären, warum es so lange dauert, eine einfache Sache zu besprechen. An dieser Stelle muss ich die Normalität einführen, Normalität im Sinne einer Gewöhnlichkeit, einer gesellschaftlich allgemein wahrgenommenen Gewöhnlichkeit. Vom Jüdisch-Sein kann ich in Deutschland keine Gewöhnlichkeit bekommen, außer, ich würde es leugnen, vergessen, nicht beachten – auch das würde wenig nützen. Es würde sich schon wer finden, der einem die entgangene Jüdischkeit beachtete. In diesem Sinne existiert Identität hier immer schon als Zuschreibung. In Übungen jüdisch zu sein heißt es in dem Aufsatz »Kein Ausgang aus diesem Judentum«: Der Mehrheitsdeutsche, der Heiler, der Heiland – und der Kranke – dem jüdischen Kranken wird die Krankheit gar verziehen. Diese Pose nehmen die Deutschen qua Definition überhaupt gegenüber allem nicht Mehrheitsdeutschen ein. Der Andere ist das Nicht-Deutsche, defizitär gegenüber dem Deutschen. Ganz so wie der Mann den Menschen schlechthin darzustellen hat, demgegenüber die Frau nichts ist als sein Defizit.
Und weiter heißt es: Meines Erachtens kann sich kein Jude einbilden, »sicher« – sofern es das geben könnte – als Bürger unter Bürgern leben zu können, solange sich am Status der bürgerrechtlich ausgeschlossenen Anderen nichts ändert. Inzwischen gibt es weitere bürgerrechtliche Schritte, ein Zustand, der allerdings von Égalité unverändert weit entfernt ist. Ich bin knalldeutsch und so erschreckend gewöhnlich, könnte ich sagen, wissend, dass es stimmt und dass es niemanden gibt, der das wirklich sein will – nur manches Mal eben, manches Mal, dann, wenn man irgendwo in Brandenburg alleine unterwegs ist zum Beispiel.
Ich vernachlässige die Frage, inwiefern ich selbst mit dem jüdischen Nicht-Gewöhnlichen zur Koketterie neige, es also eine Ambivalenz gäbe zwischen der Suche nach dem Gewöhnlichen und dem eigenen Goutieren des Ungewöhnlichen, trotz und obwohl die Gefährdung stets »mitläuft«. Alain Finkielkraut hat darüber geschrieben. Sein und werden zu wollen wie der Mehrheitsdeutsche – falls man das klären kann, wie der heute ist – scheidet aus historischen Gründen identifikatorisch aus. Es bliebe, sich zu jenen Anderen zu rechnen, von denen hier die Rede ist. Dies geschieht in Deutschland in den Vertretungen des Judentums nicht; wahrscheinlich vor allem deshalb nicht, weil die öffentliche Wahrnehmung der jüdischen Angelegenheiten die Befassung mit denen jener Anderen bei weitem übersteigt und mit deutlicher Freundlichkeit begleitet wird, auch wenn diese Freundlichkeit keine zufriedenstellende Entsprechung in politisch relevanten Handlungen etwa bei der Frage der Zwangsarbeiterentschädigung, Restitution etc. findet. Diese Haltung wird in nicht durchschaubarer Regelmäßigkeit durch antisemitisch begleitete Ausfälle verschiedener in der Öffentlichkeit stehender Personen durchbrochen.
Wer wenig Lust hat, Identität »ungebunden« – um nicht zu sagen, vagabundierend – zu leben, hätte demnach nur die religiöse oder Israel-angebundene Option, sich selbst zu definieren. Es tritt dabei ein Phänomen auf, das Michael A. Meyer in Jüdische Identität in der Moderne bei einer jüdischen Gemeinde aus dem 17. Jahrhundert beschrieb: Die sefardischen Juden von Amsterdam hatten etwas von dem streng autoritären religiösen System der iberisch-katholischen Umgebung angenommen, vor dem sie geflohen waren. Sie waren wie die Inquisition wenig tolerant gegenüber Abweichungen. Doch ihre eigene Identität war nicht stabil. Einige waren Marranen gewesen, die sich heimlich als Juden bekannten, aber nur ein unvollkommenes Wissen über das Judentum besaßen und unfähig waren, es richtig zu leben.
So kann die Aussage eines amtierenden Rabbiners in Berlin, der im Jahre 2001 während einer religiösen Zeremonie ausrief »Der Tempelberg ist unser« und »Wehret unseren Feinden«, nicht beanspruchen, den originären Standpunkt des Judentums zu formulieren, auch wenn die Einbindung in die Liturgie diese Interpretation nahelegen sollte. Wenn es dieses Judentum nicht ist, dem ich den Pachtvertrag über »Identität« zugestehe, welches ist es dann? In Mit Eichmann an der Börse, in der Geschichte »Ein Tag. Oder ein Tag« sagt jemand: Ich überlege, ob es heißen soll: ein jüdischer Tag. Eigentlich kann es das nicht geben. Die Zeit »Tag« ist weder feminin noch jüdisch, auch nicht afrodeutsch. Andererseits gibt es Tage, die jüdischer sind als andere. Das hat mit allen möglichen Umständen zu tun. Tage, die sozusagen hinter dem Rücken der Akteure so und so werden. Wie es auch Tage gibt, an denen man wahrscheinlich überwiegend als Mutter gelebt hat. Um solch einen unpassenden Vergleich zu wählen.Wie es kam, dass der Tag jüdische Gestalt annahm? Mir hat an diesem Tag wieder jemand am Telefon gesagt, er wolle jetzt das Positive am Judentum vermitteln. Der Schrecken müsse aufhören.
Eine Frau in dem Hörstück Ich ziehe mir die Farben aus der Haut versucht es. »Hab ich eine Geschichte?«, sagt sie. »Nein. Ohne, wenn’s geht. Nicht. Bei uns nicht. Leider geht es nicht. Es geht nicht.« In dem Stück Anschriften fragt eine deutsche Frau: »Kommst du mit ins Museum?«. Ihre jüdische Freundin antwortet: »Nein, ich bin schon drin.« Offenbar gibt es Schwierigkeiten bei der Platzierung in der Zeit. Mit medizinischem Terminus wird das Post-Traumatic Stress Disorder oder Second / Third Generation Children of Survivors Syndrome genannt.
In Als mir mein Golem öffnete heißt es:
Jahrgang 52
Das Zimmer ist mein Land
Ich spreche Deutsch
mit meiner Schreibmaschine
Einen Fetzen an den Rand
Das Zimmer ist mein Land.
Die gesprochene Sprache bleibt im privaten Raum stehen. Es gibt kein Gegenüber, das antworten oder hören würde. Und schließlich in Rauhreifiger Mund oder andere Nachrichten, vier Jahre später:
In den Steinen der Synagoge
stecken weiße Papiere,
die ich nicht abgeschickt
habe. Ein junger Mensch tritt ein.
Die Stimme der
Sängerin klingt
in den Räumen.
Orgelmusik
treibt Inn und Donau herauf.
Worauf warte ich eigentlich?
Wer sind sie, die Sänger*innen, Nachbar*innen, Weber*innen und Trinker*innen? Dieses Oszillieren um den einen Punkt, die Jüdischkeit, könnte zusammengefasst werden in dem Satz: »Eigentlich weiß ich nur, dass ich es bin. Jüdisch eben.« Darüberhinausgehend teilt Mr. Boe aus dem Hörstück Ein Huhn für Mr. Boe mit:
Mr. Boe: »Ich werde mich doch von den Deutschen nicht zum Juden machen lassen.«
Ich: »Sie wollten kein Jude sein?«
Mr. Boe: »Ich bin immer noch keiner.«
Ich: »Wenn Sie meinen.«
Andererseits verbindet Mr. Boe, den älteren jüdischen Mann, etwas mit jener jüngeren jüdischen Frau, wovon zwischen den beiden nicht gesprochen und was von beiden jedoch gleichermaßen gewusst wird. »Ich«, eine nach der Shoah geborene jüngere Frau, sagt:
»Er weiß, dass wir jetzt keine deutsche Frau an unserem Tisch gebrauchen können. Wir haben etwas vor zusammen – das kann man mit Deutschen nicht bereden, was wir bereden werden. Ich weiß, ich wusste es immer und er – ich gucke ihn an – er weiß es auch, natürlich weiß er es auch … würde er sagen ›deutsch‹ – ich würde das gar nicht so sagen, aber … es gibt kein Wort für diesen Zustand des Deutsch-Seins, mit dem wir nicht Miteinander-Deutsch sind …«
An anderer Stelle fährt »Ich« fort: »Das ist ja übrigens die Schwierigkeit, das zittrige Alte und das Deutsche und die Güte zusammenzubringen … ich meine, das Deutsche als Ort, als Ort, wo ich eben wohne … hab ich mir ja nicht ausgesucht, dass ich hier wohne …«
Mr. Boe, der den Nationalsozialismus in der »Illegalität« in Deutschland überlebte, redet dann weiter in einer Tirade gegen die Philosemiten. Auch er fragt seine Gesprächspartnerin zuletzt:
Mr. Boe: »Aber sagen Sie mal, warum beschäftigt Sie das so?«
Ich: »Er hatte doch keinen Zweifel – er wusste doch, wer er war. Da brauchte er nichts ablegen oder bekennen oder was … Ich muss doch Jude sein, ich muss doch, oder? Ich meine, ich übe. Ich übe es eben.«
Was das Schreiben in diesen Zusammenhängen betrifft, so gibt es ein sehr grundsätzliches Problem. In Übungen jüdisch zu sein schrieb ich unter dem Titel »Vom Verschwinden der Worte«: »Ich bin, also rede ich. Ich kann nicht reden, also schreibe ich. Hätte ich Worte, ich würde nicht schreiben.« Unsere Eltern oder auch Großeltern sprechen wenig oder gar nicht über die Shoah, über ihre Verletzungen, erlittenen Demütigungen und Kränkungen. In Tu mir eine Liebe – Meine Mamme, werden verschiedene Personen des jüdischen Lebens nach ihren Müttern und dem Verhältnis zu ihnen befragt. Unter den Interviewten sprechen einige davon, dass sie es als zweite Generation der nach der Shoah Geborenen nicht wagten, über die Shoah zu sprechen oder darüber Fragen zu stellen, weil sie fürchteten, die Mutter würde schon bei der Erwähnung krank werden und sterben.
Savyon Liebrecht, israelische Autorin, 1948 in München als Tochter polnisch-jüdischer Shoah-Überlebender geboren, formuliert als Motiv ihres Schreibens: »Mein Schreiben ist das Ergebnis des Schweigens zwischen mir und meinen Eltern.« Der Film Ima, auch gezeigt unter dem ursprünglichen Titel Matrilineal von Caterina Klusemann handelt von dem zähen Ringen einer jungen Jüdin der third generation mit ihrer Großmutter, damit sie sprechen möge.
Folgt man Léon Wurmser, so beruht »aller menschliche Diskurs […] auf dem Vertrauen zum Wort«. Das Schreiben tritt an die Stelle des Wortes, das nicht gesprochen wurde. Das geschriebene Wort hätte nicht gesprochen oder besprochen werden können, es hätte nicht geteilt oder mitgeteilt werden können.
»Dann nehme ich Bleistift und Heft und schreibe, was ich niemandem zu sagen vermöchte«, schrieb Primo Levi in Ist das ein Mensch?. Dass er zu niemandem wird sprechen können, sieht er im Traum bereits voraus. Sodass er, obwohl er sich »zuhause« befindet, »mitten unter befreundeten Leuten« nicht gehört werden würde. Im Konzentrationslager eingesperrt, sich die Freiheit vorstellend, sieht er voraus, »meine Zuhörer folgen mir nicht, ja sie sind überhaupt nicht bei der Sache. Sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden. Meine Schwester schaut mich an, steht auf und geht, ohne ein Wort zu sagen«. Während Primo Levi die Verwandlung der Menschen in Gespenster, in Gliederpuppen beschreibt, verschwinden seine Worte: »Da merken wir zum ersten Mal, dass unsere Sprache keine Worte hat, diese Schmach zu äußern, dies Vernichten eines Menschen.« Und wie die Sprache verschwindet, so fürchtet er um das Verschwinden des Namens: »… müssen dafür Sorge tragen, dass über den Namen hinaus etwas von uns verbleibe, von dem, wie wir einmal gewesen.« »Damals, in der Stunde der Entscheidung, sagten wir uns Dinge, die man unter Lebenden nicht sagt.« Die, die unter Lebende zurückkehrten, erstickten gleichsam an der Nicht-Mitteilbarkeit.
Die Worte selbst blieben nicht die Worte, die sie vordem gewesen waren. Paul Celan spricht das in dem Gedicht »Ein Blatt«, von 1968 und 1970 erstmalig veröffentlicht, an, wenn er einen Gedanken von Bertolt Brecht aufnimmt. Bertolt Brecht hatte geschrieben:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?
Paul Celan: Was sind das für Zeiten,
wo ein Gespräch
beinah ein Verbrechen ist,
weil es soviel Gesagtes
mit einschließt?
Im Schreiben wird es für die nachfolgende Generation möglich, mit den angehörenden Anderen verbunden zu sein; auch wenn im Schreiben hin und wieder ein geradezu zwanghaftes Bedürfnis nach Leichtigkeit zu erkennen ist. In Ein Huhn für Mr. Boe spricht »Ich« am Ende: »Ich führe die Klage wieder ein. Irgendjemand muss das tun. Ich klage an seiner Statt und weiß nicht, an wessen noch. Vielleicht hört mich der alte Mann dann, oder sehen, wenigstens sehen könnte er mich.«
Das Schreiben tritt an die Stelle des privaten und persönlichen Sprechens. Es bleibt generalisierend, um die Distanz zu wahren, und wird öffentlich, bevor es privat gewesen wäre. Mit dieser Veröffentlichung des im Privaten Verborgenen und in Schach gehaltenen Traumatischen geht gleichzeitig etwas Unanständiges einher. Vor einem nicht-jüdischen deutschen Publikum erhält dieses Schreiben einen prostitutiven Zug. Wie das Ausziehen einer Frau vor den Augen der Männer. Ich weiß es, aber ich sehe keine Alternative.
Für die zweite und dritte Generation hat dieses Schreiben auch einen trotzigen Zug angenommen. Wer sich öffentlich äußert, ist immerhin da. Noch immer kann Hannahs Tochter, die literarische Ich-Erzählerin aus Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte nicht selbstverständlich passieren: Wieder dieses blöde Aufmerken: ein Händler in Pitigliano offeriert ihr Sederwein. Was hat ein Händler in Pitigliano Sederwein zu offerieren? Im Wein schimmert dann unverhofft ein Rest von Leben – wo notfalls ein Zuhause sei.
In Ein Huhn für Mr. Boe misslingt am Ende die Transaktion. Die jüngere Frau wollte doch unbedingt ein koscheres Huhn für ihn mitbringen, für den Juden, der keiner war und als Jude Deutschland überlebte. Widrige Umstände verhindern das seltene Geschenk. Mr. Boe hätte sich vermutlich nicht viel daraus gemacht. Aber das tut nichts zur Sache.
Aus einer jüdisch-deutschen Sicht ist es von Belang, ob und wo es ein koscheres Huhn gibt – oder eben jenen Sederwein, der vielleicht nicht gekauft wird. Im Angebot der koscheren Waren wird die Möglichkeit der Polyphonie jüdischen Lebens symbolisiert; auch in der Verneinung, deren Konsequenz lautet: Es müsste doch für einen Juden möglich sein, nicht Jude zu sein.
Das Buch von Esther Dischereit Mama darf ich das Deutschlandlied singen ist 2020 im Externer Link: Mandelbaum Verlag erschienen.
Außerdem erschien im Jahr 2020 mit Esther Dischereits Gedichtband Sometimes a Single Leaf in deutscher und englischer Sprache, übers. ins Englische von Iain Galbraith, bei Arc Publications eine Auswahl ihrer Gedichtbände Als mir mein Golem öffnete, Rauhreifiger Mund oder andere Nachrichten, Im Toaster steckt eine Scheibe Brot und neuerer Gedichte.
Auf der Veranstaltung Prosa der Verhältnisse #17 am 9. November 2020 im Berliner Gorki Theater sprach Deniz Utlu mit Esther Dischereit über ihr Buch. Die Externer Link: Aufzeichnung des Gesprächs können Sie sich hier ansehen.
Radio Berlin-Brandenburg: Externer Link: Esther Dischereit im Gespräch mit Frank Meyer