Zu selbstzufrieden?
Das Grundgesetz und die Verfassungsdebatten seit 1989. Ein Denkanstoß über verpasste Chancen der Verfassungsreform.
Kerstin Brückweh
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Unter dem Titel "Nachruf auf ein Nicht-Ereignis" formulierte der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr 1994 seine Verärgerung über die nur halbherzig durchgeführte Verfassungsreform Anfang der 1990er-Jahre. Er verwies auf Machtverhältnisse und westdeutsche Selbstzufriedenheit und sagte voraus: Dass dieser einmalige Zeitpunkt nicht für eine Verfassungsdebatte genutzt worden ist, stellt fast so etwas wie eine verborgene Katastrophe dar. Später nicht mehr verrechenbare unerklärliche politische Kosten dürften darin ihre späterhin von fast niemandem mehr bemerkte Ursachen finden.
Tatsächlich ist die deutsche Vereinigung nicht die eindeutige Erfolgsgeschichte, für die sie zunächst gehalten wurde – das ist mittlerweile auch in den politischen Institutionen angekommen.
"Absaugende Transformation"
Über die Gründe für die negativen Folgen der Vereinigung – so wird mit südkoreanischen Blick auf Deutschland in Diskussionen zum Beispiel von „absaugender Transformation“ gesprochen – besteht derzeit noch wenig Einigkeit. Unter den üblichen Verdächtigen ist der enorme Zeitdruck, unter dem die deutsche Einheit vollzogen wurde. Zur Verdeutlichung, dass es aber auch ein fehlender westdeutscher Wille gewesen sei, der Veränderungen verhindert habe, wird in den letzten Jahren vermehrt auf die Verfassungsdebatte der 1990er verwiesen.
Denn, selbst wenn der enorme Zeitdruck zugestanden wird, gab es bei der Verfassung eine Besonderheit, die dieses Argument schwächt: Der Beitritt erfolgte nach Artikel 23 des Grundgesetzes, das war nicht mehr zu ändern. Artikel 146 blieb jedoch in veränderter Form im Grundgesetz und eine gemeinsame Verfassung wäre auch nach dem Beitritt noch möglich gewesen. Dazu kam es aber bekanntermaßen nicht. Wann aber sollte für seine Anwendung der richtige Zeitpunkt sein, wenn nicht nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990? Diese Frage ist mehrfach in den letzten knapp 30 Jahren gestellt worden.
Eindrücklich zeigen die Quellen aus der unmittelbaren Zeit des Systemwechsels 1989/90, welche Belastung die unglaubliche Geschwindigkeit der Ereignisse und die Gleichzeitigkeit der Veränderungen in fast allen Lebensbereichen für Ostdeutsche darstellten, und die Quellen zeigen auch, wie die Folgen des schnellen Systemwechsels bis weit in die 1990er-Jahre und darüber hinaus nachwirkten. Dagegen konnten Westdeutsche einfach zusehen oder mussten sich gar nicht interessieren.
Pauschalisierungen in Ost- und Westdeutsche sind schwierig und schon früh wurden aus verschiedensten Richtungen vorausschauende Gedanken formuliert. So schrieb der Historiker Heinrich August Winkler am 28. September 1990, dass die Westdeutschen, um die Teilung zu überwinden, nicht nur materielle Opfer bringen müssten:
Sie müssen, was viel schwerer ist, sich in vielerlei Hinsicht innerlich umstellen. Sie müssen ihren Verfassungspatriotismus weiterentwickeln zu einem Patriotismus der Solidarität. Dazu gehört, dass sie nicht alles und jedes so belassen, wie es ist, nur weil es nun einmal so ist. Das gilt für die gesamtdeutsche Verfassung, die sicherlich weitgehend mit dem Grundgesetz von 1949 übereinstimmen wird und doch, um der demokratischen Legitimation des neuen Gemeinwesens willen, zum Gegenstand einer Volksabstimmung gemacht werden sollte.
Vier Tage später wagte der damalige Vizepräsident der DDR-Volkskammer und künftige Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Reinhard Höppner, in der DDR-Volkskammer ein Bild für die Zukunft:
„Morgen feiern wir Hochzeit. Jeder weiß, eine gute Ehe wird es nur, wenn beide Seiten sich ändern, aufeinander zuwachsen und in der Gütergemeinschaft hinterher nicht ständig darüber diskutiert wird, wer was in die Ehe eingebracht hat.“
Die sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten offenbarenden Ehekrisen sind nicht zu übersehen und zeigen einen Hang zur Wiederholung. So kamen in den letzten Jahren – teilweise bewusstprovokativ oder polemisch vorgetragen – die Argumente der 1990er wieder auf und im Kern geht es um die Folgen des Beitritts nach Artikel 23: Kolonisierung, Landnahme und Übernahme waren und sind die gängigen Schlagworte. Interessant wird das Thema nicht zuletzt dann, wenn die Forderung der Auseinandersetzung mit der Verfassungsfrage, abseits der teils sprachlich rau vorgetragenen persönlichen Enttäuschungen, im Kern ernst genommen und sachlich betrachtet wird.
I. Forschungsfragen zum „Nicht-Ereignis“
Als Erstes soll es um eine Erklärung des „Nicht-Ereignisses“ gehen. Warum blieb eine umfassende Verfassungsdebatte und -reform unter Einbeziehung der Vorschläge aus Ostdeutschland und der Volksabstimmung über die Verfassung aus? Es reicht an dieser Stelle nicht, die Stärken des Grundgesetzes hervorzuheben, denn darüber gab es auf der Seite der für Ostdeutschland Argumentierenden – die sich auch in Westdeutschland fanden und finden – keinen Dissens. Auch das vereinfachte, weil das Wahlkreuz überfrachtende, Argument, „die“ Ostdeutschen hätten durch die Wahl am 18. März 1990 den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes legitimiert, hilft nur bedingt für die Erklärung des „Nicht-Ereignisses“. Vielmehr geht es darum, die Zusammensetzung der historischen Akteure sowie die Inhalte und Orte der Diskussionen um die Verfassung nach 1989 zu analysieren. Dadurch werden die Machtverhältnisse und historischen Kontexte mit rechts- und geschichtswissenschaftlichem Handwerkszeug untersucht und sich damit der Beantwortung der Frage angenähert, wie sich das „Nicht-Ereignis“ erklären lässt.
Diese Frage soll mit einer zweiten verbunden werden, die der Journalist Stephan Detjen 2009 zum 60-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes stellte: „Welche Geschichten der Verfassung erzählen wir uns? Wie erkennen wir die deutsche Nachkriegsgeschichte im vielfach veränderten Text unserer Verfassung wieder?“
Zwei Narrative beherrschen derzeit die Sicht auf die Debatten seit 1989 : einerseits das der „Übernahme“ des Ostens durch den Westen und andererseits das Narrativ des guten Grundgesetzes, das keiner umfassenden Änderung oder einer Legitimation über eine Volksabstimmung bedurfte.
Diese Situation ist für das Gemeinwesen nicht produktiv oder wie es Stephan Detjen formulierte:
Für eine zunehmend heterogene Gesellschaft ist die Besinnung auf die Verfassung und ihre Geschichte eine Chance. […] Umso mehr bietet das Gespräch über das Grundgesetz die Möglichkeit einer Verständigung über Grundlagen des Gemeinwesens, die über den reinen Normtext hinausweist. Das Potenzial einer in diesem Sinne verstandenen Verfassungsgeschichtsschreibung haben sowohl Juristen als auch Historiker bisher kaum erschlossen.
Auch der 175. Jahrestag der Deutschen Nationalversammlung, die am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche zusammengetretenen war und 2023 als Geburtsstunde der deutschen Demokratie gefeiert wurde, bildet einen Referenzpunkt – spielte doch die Frankfurter Paulskirche eine Rolle als ideeller Ort in den Verfassungsentwürfen der frühen 1990er-Jahre, so zum Beispiel in der so genannten Paulskirchenerklärung des „Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“ vom 16. Juni 1991.
II. Ereignisse und Forschungsstand
Mit den Verfassungsfragen im Zuge der deutschen Vereinigung hat sich die historische Forschung bisher wenig beschäftigt. Generell wurde ihr vom langjährigen Richter am Bundesverfassungsgerichts, Dieter Grimm, vor Kurzem ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt. Jüngst ist nun die Monografie von Christina Morina erschienen, die in Teilen auf die Verfassungsdebatten zurückgreift, um eine politische Kulturgeschichte „von unten“ zu schreiben.
Zwar gibt es aus rechtswissenschaftlicher Sicht mehr Forschung, aber zwischen den beiden Disziplinen und über diese hinaus besteht noch viel Verständigungsbedarf. Auch zum Hintergrund der Verfassungsdebatten, die im Anschluss an die friedliche Revolution in der DDR vom Herbst 1989 bis ins Jahr 1994 geführt wurden. Der ereignisgeschichtliche Rahmen lässt sich klar umreißen: Es gab in erster Linie drei sehr unterschiedliche Initiativen, die in eine halbherzige Verfassungsreform 1994 mündeten. Am 4. April 1990 legten die ostdeutschen Akteure des Zentralen Runden Tisches ihren Verfassungsentwurf für die erneuerte DDR vor. Am 29. Juni 1991 folgte der Entwurf der deutsch-deutschen Bürgerinitiative Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder und am 16. Januar 1992 wurde die Gemeinsame Verfassungskommission GVK durch die Präsidentin des Deutschen Bundestages und den Präsidenten des Bundesrates konstituiert. Hintergrund waren die Artikel 4 und 5 des Einigungsvertrages, die sich mit Verfassungsänderungen beschäftigten. Der Kommissionsbericht wurde am 5. November 1993 als Drucksache 12/6000 veröffentlicht.
Sehr deutlich wird einerseits die ungeheure Geschwindigkeit der Ereignisse – zwar wurde der Verfassungsentwurf noch in der DDR vorgelegt, aber die Wahlkreuze vom 18. März 1990 wurden damals schon als Zustimmung zum Beitritt zur Bundesrepublik interpretiert. Zugleich wird deutlich, mit welchem Engagement sich einige für ein neues Gemeinwesen einsetzten und wie groß ihre Enttäuschung über die geringe Beweglichkeit in den westdeutschen Bundesländern war. Das war 1991 noch anders, denn damals gab es mit dem Verfassungsentwurfs des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder eine deutsch-deutsche Initiative für eine neue Verfassung in einem historisch besonderen Moment der deutschen Geschichte. Aber auch diese war nicht von Erfolg gekrönt. [...]
Dennoch ist die Qualität des Grundgesetzes sicherlich ein Grund, der dazu berechtigt, dies heute zu feiern. Allerdings wäre es für unser Zusammenleben geschickter, wenn dabei nicht durch sprachliche Wendungen erneut Erzählungen so gestrickt werden, das sich Menschen ausgeschlossen fühlen können.
"75 Jahre Grundgesetz – ein Grund zum Feiern". Dieser Satz steht auf der Homepage der Bundesregierung, obwohl das Grundgesetz nur in einem Teil unseres Landes seit 75 Jahren gilt. Dieser Slogan spiegelt eine westdeutsche Erfolgsgeschichte wider und schließt ostdeutsche Erfahrungen nur bedingt ein. Daher sollten wir uns als Gesellschaft die Frage stellen: Wie kann unser Grundgesetz auch wirklich als gesamtdeutsche Verfassung wahrgenommen werden?
Im 35. Jahr der Vereinigung sollten wir von allen Seiten in dieser Frage offener zu- und miteinander sein. Ich hatte gehofft, dass wir da - mehr als eine Generation nach dem Sturz der Mauer 1989 - eigentlich schon weiter wären.
Cover Brückweh Verfassungsbuch
Der Beitrag von Kerstin Brückweh ist weitgehend dem von ihr herausgegeben Buch entnommen: Die Wiederbelebung eines "Nicht-Ereignisses"?, Tübingen 2024.
Der Beitrag von Kerstin Brückweh ist weitgehend dem von ihr herausgegeben Buch entnommen: Die Wiederbelebung eines "Nicht-Ereignisses"?, Tübingen 2024.
Zitierweise: Kerstin Brückweh, „Zu selbstzufrieden?", in: Deutschland Archiv, 23.05.2024. Link: www.bpb.de/548629. Kerstin Brückweh ist Professorin für Historische Stadt- und Raumforschung an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und Forschungsschwerpunktleiterin am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung in Erkner bei Berlin. Der Text basiert auf ihrem Einleitungskapitel in: Die Wiederbelebung eines „Nicht-Ereignisses“? Das Grundgesetz und die Verfassungsdebatten von 1989 bis 1994, herausgegeben von Kerstin Brückweh. Eine Veröffentlichung aus dem Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, erschienen bei Mohr Siebeck, Tübingen 2024. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Kerstin Brückweh ist Professorin für Historische Stadt- und Raumforschung an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und Forschungsschwerpunktleiterin am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung in Erkner bei Berlin. Der Text ist ihrem Buch entnommen: Die Wiederbelebung eines „Nicht-Ereignisses“? Das Grundgesetz und die Verfassungsdebatten von 1989 bis 1994, herausgegeben von Kerstin Brückweh. Eine Veröffentlichung aus dem Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, erschienen bei Mohr Siebeck Tübingen 2024.
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