Jerusalem, Karl Wilhelm

Lebensdaten
1747 – 1772
Geburtsort
Wolfenbüttel
Sterbeort
Wetzlar
Beruf/Funktion
philosophischer Schriftsteller ; Jurist
Konfession
lutherisch
Normdaten
GND: 118776150 | OGND | VIAF: 50021235
Namensvarianten

  • Jerusalem, Karl Wilhelm
  • Jerusalem, Carl Wilhelm
  • Jerusalem, Karl W.
  • Jerusalem, Carl W.

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Zitierweise

Jerusalem, Karl Wilhelm, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118776150.html [12.11.2024].

CC0

  • Jerusalem, Karl Wilhelm

    philosophischer Schriftsteller, * 21.3.1747 Wolfenbüttel, (Freitod) 30.10.1772 Wetzlar. (lutherisch)

  • Genealogie

    V Joh. Friedrich Wilhelm (s. 1);
    Schw Friederike Magdalene (1759–1836), Stiftsdame im Kloster Wülfinghausen, veröff. 1783 Gedichte (o. O. u. o. Gesamttitel), Mitarbeiterin am Voss. Musenalm. (s. L); - ledig.

  • Biographie

    1760-65 besuchte J. das Collegium Carolinum in Braunschweig. Neben seinem Vater waren dort N. D. Giseke, J. A. Ebert, K. Chr. Gärtner und F. W. Zachariae seine Lehrer. In Leipzig, wo er zum Winter 1765 das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften begann, schloß er Freundschaft mit Joh. Joach. Eschenburg. Goethe lernte er dort nur flüchtig kennen. 1767-69 setzte er sein Studium in Göttingen fort. Nachdem die Hoffnungen auf eine Tätigkeit bei den braunschweig. Gesandtschaften in London oder Wien sich nicht erfüllt hatten, erhielt J. im Mai 1770 eine Anstellung als Assessor an der Justizkanzlei in Wolfenbüttel. Seine schon in Leipzig begonnenen philosophischen Studien empfingen während des folgenden Jahres durch den Umgang mit Lessing nachhaltige Förderung. Im Sept. 1771 wurde J. dem braunschweig. Gesandten Joh. Jakob v. Höfler als Legationssekretär bei der Visitationsbehörde am Reichskammergericht in Wetzlar zugeteilt. Die Beschränkung auf subalterne Aufgaben führte sehr bald zu Mißhelligkeiten zwischen J. und seinem Vorgesetzten, in deren Verlauf Höfler um Abberufung J.s nachsuchte. Daß er wegen seines bürgerlichen Standes aus einer adligen Gesellschaft bei dem Senatspräsidenten Gf. Bassenheim verwiesen wurde, empfand J. als tiefe persönliche Kränkung. Unter dem Namen Masuren gehörte er zwar dem von A. S. v. Goué in Wetzlar gegründeten Ritterorden an, fand jedoch nur zu dem ihm in seinem Hang zur Melancholie wesensverwandten Chr. A. v. Kielmannsegg ein näheres Verhältnis, während sich seine Beziehungen zu Goethe, J. Chr. Kestner und F. W. Gotter auf gelegentliche Begegnungen beschränkten. Berufliche Unzufriedenheit, philosophischer Skeptizismus, vielleicht auch, wie Goethe annahm, Bevormundung durch den Vater trieben ihn immer drückender in Menschenverachtung und Lebensüberdruß hinein. Die Ausweglosigkeit einer unerwiderten Liebe zu Elisabeth Herd, der Gattin des kurpfälz. Legationssekretärs, ließ in ihm den Entschluß reifen, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Über die Umstände seines Todes verfaßte J. Chr. Kestner einen ausführlichen Bericht und sandte ihn an Goethe, der sich für den Schlußteil der „Leiden des jungen Werthers“ eng daran angeschlossen hat. Das in „Dichtung und Wahrheit“ (12. u. 13. Buch) 1813 von Goethe entworfene Charakterbild J.s bestätigte die sogleich nach dem Erscheinen des „Werther“ trotz aller Bemühungen des Dichters um Distanz in der Öffentlichkeit herrschende Auffassung, daß J.s Selbstmord die unmittelbare Veranlassung zur Niederschrift des Romans gegeben habe. Dem Wertherfieber der folgenden Jahre gingen ein Trostgedicht Eschenburgs für J.s Vater und Friedrich Wilhelm Gotters „Epistel über die Starkgeisterey“ („Der Teutsche Merkur“ III, 1. Juli 1773) mit Gedenkversen für J. voraus. Im Anschluß an Goethes Roman versuchte A. S. v. Goué 1775 eine Dramatisierung in dem Trauerspiel „Masuren oder der junge Werther“, dessen Personen die Ordensnamen der Wetzlarer Rittertafel tragen. Lessings scharfe Ablehnung des „Werther“ brachte ihn zu dem Entschluß, die hinterlassenen philosophischen Aufsätze J.s herauszugeben. Er begleitete sie mit einer apologetischen Vorrede und mit Zusätzen, die das Unausgereifte in ihnen erläutern sollten. J.s Fragestellungen, die den Ursprung der Sprache, das Verhältnis der allgemeinen Begriffe zum Abstraktionsvermögen, die Willensfreiheit und die Theorie der Empfindungen betreffen, sind aus der Beschäftigung mit Wolff, Leibniz und Mendelssohn hervorgegangen. Den von ihm vertretenen Determinismus suchte J. mit Hilfe der Leibnizschen Metaphysik gegen den Vorwurf der Entwertung ethischer Forderungen zu verteidigen. Ansätze zu religionsphilosophischen Erwägungen, die in die Richtung der Lessingschen „Erziehung des Menschengeschlechts“ und spinozistischer Gedankengänge weisen, mögen auf J.s Wolfenbütteler Gespräche mit Lessing zurückzuführen sein.

  • Werke

    Phil. Aufsätze, hrsg. v. G. E. Lessing, 1776, Neudr. hrsg. v. P. Beer, 1900;
    Aufsätze u. Briefe, hrsg. v. H. Schneider, 1925.

  • Literatur

    ADB 13;
    F. Koldewey, Werthers Urbild, in: ders., Lebens- u. Charakterbilder, 1881;
    V. Loewe, Neue Btrr. z. Charakteristik d. jungen J., in: Euphorion 8, 1901 (2 Briefe d. Vaters: 31.8., 23.11.1772);
    Goethe, Kestner u. Lotte, Briefwechsel u. Äußerungen, hrsg. v. E. Berend, 1914 (darin: Kestners Ber. üb. J.s Tod);
    K. Schüddekopf (Hrsg.), A. S. v. Goue, Ausw., Einf. v. H. Gloël, 1917 (darin: Masuren od. d. junge Werther);
    C. M. Weber, Zur Vorgesch. v. Goethes „Werther“, in: Jb. d. Goethe-Ges. 14, 1928;
    H. Gloël, Silhouetten a. d. Reichskammergerichts- u. Wertherstadt, 1932 (P);
    W. Krogmann, Goethes Ringen mit Wetzlar, 1932;
    Heinr. Schneider, Werther-J. als Freund Lessings, in: ders., Lessing, 12 biograph. Stud. 1951 (darin: Eschenburgs Trostgedicht, S. 108 f.);
    Der junge Goethe, neu bearb. Ausg. hrsg. v. H. Fischer-Lamberg, III, 1966, S. 3-62, 407-31, IV, 1968, S. 349-63;
    Lessing im Gespräch, Berr. u. Urteile v. Freunden u. Zeitgenossen, hrsg. v. R. Daunicht, 1971;
    H.-H. Reuter, Der gekreuzigte Prometheus: Goethes Roman „Die Leiden d. jungen Werthers“, in: Goethe-Jb. 89, 1972;
    Goedeke IV, 1, S. 444;
    |Kosch, Lit.-Lex. - Zu Schw Friederike Magdalene:
    Goedeke IV, 1, S. 1094 f.;
    M. Mendheim, Lyriker u. Epiker d. Mass. Periode, 1. T., S. 296 f. (Kürschners Dt. Nat. Lit., Bd. 135, 1. Abt.).

  • Porträts

    Knabenbildnis (Weimar, Goethe-Nat.mus.), Abb. b. Könnecke, F. Neubert, Goethe u. s. Kreis, 1919, u. H. Wahl u. A. Kippenberg, Goethe u. s. Welt, 1932;
    Pastellgem. a. d. Wetzlarer Zeit (ebd.);
    Silhouette (Wetzlar, Mus.), Abb. b. H. Gloël, 1932, Tafel 4, s. L.

  • Autor/in

    Adalbert Elschenbroich
  • Zitierweise

    Elschenbroich, Adalbert, "Jerusalem, Karl Wilhelm" in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 416-418 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118776150.html#ndbcontent

    CC-BY-NC-SA

  • Jerusalem, Karl Wilhelm

  • Biographie

    Jerusalem: Karl Wilhelm J. ist mehr durch sein trauriges Ende und Goethe's „Leiden des jungen Werther“, als durch seine philosophischen Schriften bekannt geworden. Als Sohn des berühmten Theologen Johann Friedrich|Wilhelm J. (s. o.) am 21. März 1747 zu Wolfenbüttel geboren, studirte er seit Ostern 1765 in Leipzig die Rechte, wo er mit Eschenburg Freundschaft schloß und im Vorbeigehen auch Goethe begegnete. Schon in Göttingen, wohin er im Herbst 1767 ging, finden wir ihn in der melancholischen, selbstquälerischen Stimmung, in welcher er in allen Vorfällen seines engen Lebens nichts als Sekkatur, in sich selbst und den Menschen nur „lustige Sekkatoren“ findet. Aber während sich diese innere Unruhe und Unzufriedenheit in den Briefen an Eschenburg ausspricht, der J. deshalb seinen wunderlichen Freund zu nennen liebte, — zeigt sich derselbe im persönlichen Verkehre mit Lessing ganz von der entgegengesetzten Seite. Im Juni 1770 wurde er als Assessor bei der Justizkanzlei in Wolfenbüttel angestellt; und Lessing lernte an ihm „einen wahren, nachdenkenden, kalten Philosophen“ schätzen. Ein Jahr später (Sept. 1771) wurde J. dem braunschw.-wolfenbüttelschen Subdelegatus bei der Kammergerichts-Visitation in Wetzlar, v. Höfler, als Secretär beigegeben und hier fanden sich alle die Motive zusammen, welche sein tragisches Ende veranlaßten. Goethe hat dieselben im zweiten Buche seines Werther nach authentischen mündlichen und schriftlichen Nachrichten geschildert. Eine gesellschaftliche Zurücksetzung, welche dem Subalternbeamten in der „noblen Gesellschaft“ bei dem Grafen Bassenheim (vgl. Werther, 2. Buch, Brief vom 15. März) widerfuhr, nahm J. als erwünschten Anlaß, sich in seiner beliebten Abneigung gegen die Gesellschaft und die Menschen zu bestärken. J. war von dem Freundschaftsenthusiasmus der Zeit mehr als andere angesteckt; aber er fand seine empfindsamen Bedürfnisse nirgends befriedigt. Nicht einmal seinem besten Freunde, dem Freiherrn von Kielmannsegge, vertraute er sich ganz an; in Goethe, mit dem er manchmal bei Freunden zusammentraf, fand er nur einen Zeitungsschreiber; noch härter urtheilt er über Gotter, der ihm aufrichtige Freundschaft entgegengebracht zu haben scheint und durch seinen Tod zu der berühmten Epistel über „Starkgeisterei“ (Merkur 1773, Julius 3—28) veranlaßt wurde. So fühlt er sich auf einsamen Spaziergängen im Walde und bei Mondenschein immer mehr verlassen; er lebt ganz ohne Geschöpfe, mit denen er auch nur eine einzige Empfindung theilen könnte. Wetzlar wird ihm immer mehr verhaßt; in vorahnendem Geiste nennt er den Schauplatz von „Werther's Leiden“ eine Sekkopolis (Leidensstadt). Als Sohn eines wohlhabenden Mannes scheint J. niemals besondern Ernst und Ausdauer in seinen Geschäften gezeigt zu haben. Seine Thätigkeit bei der Gesandtschaft erschien ihm zu gering, er sah keine Nothwendigkeit in ihr und fand sie nur für die Nachwelt der Ratzen im herzogl. braunschweigischen Archive nützlich und gut genug. Das Mißverhältniß zu seinem Chef erregte vollends einen Ueberdruß und Ekel an jeder Arbeit in ihm (vgl. Werther, 2. Buch, Brief vom 17. Februar), sodaß der Gesandte nach vielen Zerwürfnissen mit J. endlich bei seinem Hof auf dessen Abberufung drang. Innere Unzufriedenheit mit sich selbst, ein allzu ängstliches Bestreben nach Wahrheit und Güte, endlich eine unglückliche Liebe zu der Frau des kurpsälzischen Geheimsecretärs Herd kamen hinzu und drängten ihn endlich zu dem Entschlusse, seinem Leben ein Ende zu machen. In der Nacht vom 29. auf den 30. Octbr. 1772 erschoß er sich unter Umständen, welche in Goethe's Roman getreu auf die Nachwelt gekommen sind. J. ist nicht an einem blos persönlichen Zwiespalte zu Grunde gegangen, es stritten sich zwei Zeitströmungen in seiner Brust: die Periode der Aufklärung und die des Sturmes und Dranges. Er ist das erste der vielen Opfer gewesen, welche der neue Geist des Sturmes und Dranges unter den schwächern Zeitgenossen erlangte. Durch Goethe's Roman, dessen thatsächlichen Beziehungen man sogleich bei seinem Erscheinen eifrig nachspürte, wurde der Tod Jerusalems in ganz Deutschland zu einem vielbeweinten alle. Lessing, der J. nur von der einen Seite als Philosophen der Aufklärung kennen|gelernt hatte, gab in Opposition gegen Goethe's Roman die „Philosophischen Aufsätze“ von J. heraus (Braunschweig 1776). Er rühmt in der Vorrede an seinem Freunde die Neigung zu deutlicher Erkenntniß, den Geist der kalten Betrachtung. Wie Mendelssohn's Phädon neben den Schriften Leibnitz' Jerusalems Lieblingslektüre war, so steht er hier ganz auf dem Boden der Aufklärungsphilosophie; überall anknüpfend an Mendelssohn oder die damals vielberührte Preisfrage der Berliner Akademie über den Ursprung der Sprache etc., immer nach den Grundsätzen der Leibnitz’schen Philosophie entwickelnd und widerlegend. Aber besser als ihn Lessing in vertrautem Verkehre in einem Zeitraume von einem Jahre kennen gelernt hatte, trat die wahre Gestalt Jerusalems Goethen, der seit sieben Jahren neben ihm herging, ohne sich ihm zu nähern, aus den Berichten der Freunde hervor. Der Verfasser der „Philosophischen Aufsätze“, der Jünger der Aufklärungsphilosophie wird bei Goethe zum Kraftgenie, zum Helden eines Sturm- und Drangromanes. Damit hat Goethe die andere Seite Jerusalems, welche Lessing unverstanden geblieben war, dargestellt. In der That hatte J., der Goethe verächtlich als Frankfurter Zeitungsschreiber bezeichnet hatte, gegen das Ende seines Lebens noch Gefallen an dem emancipirten Tone der Frankfurter gelehrten Anzeigen gefunden. Er klagt in faustischer Ueberhebung über die engen Grenzen, welche dem menschlichen Verstande gesetzt sind und trägt den Schmerz über die Unzulänglichkeit seiner Erkenntniß mit sich herum. So konnte J. mit Recht den späteren Genies als ein Vorbild dienen, welches sie bis auf die Aeußerlichkeiten der Kleidung nachzuahmen suchten.

  • Literatur

    Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig, in der Buchhandlung des fürstl. Waisenhauses, 1776. — Goethe und Werther. Briefe Goethe's, meistens aus seiner Jugendzeit, mit erläuternden Dokumenten. Herausgegeben von A. Kestner, königl. hannov. Legationsrath, Ministerresident bei dem päpstlichen Stuhle in Rom. Stuttgart u. Tübingen, Cotta’scher Verlag, 1854. — J. W. Appell, Werther und seine Zeit. Zur Goethe-Litteratur. Neue verbesserte und vermehrte Ausgabe, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann, 1865, —
    Elf Briefe von Jerusalem-Werther: Im neuen Reich, 1874, Nr. 25, 970 ff. —
    „Lessing u. Goethe“ von J. Minor in d. (Wiener) N. Fr. Presse v. 5. März 1881, Abendbl. Nr. 5938, S. 4. — W. Herbst, Goethe in Wetzlar, Gotha 1881, S. 59—76.

  • Autor/in

    Jacob , Minor.
  • Zitierweise

    Minor, Jacob, "Jerusalem, Karl Wilhelm" in: Allgemeine Deutsche Biographie 13 (1881), S. 783-785 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118776150.html#adbcontent

    CC-BY-NC-SA