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Artikel „Richter, Friedrich“ von Franz Muncker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 467–485, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Jean_Paul&oldid=- (Version vom 12. November 2024, 02:36 Uhr UTC)
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Band 28 (1889), S. 467–485 (Quelle).
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Richter: Johann Paul Friedrich R., als Schriftsteller gewöhnlich Jean Paul genannt, war eine der eigenthümlichsten, wenn auch nicht immer erfreulichsten Erscheinungen in unserem Geistesleben. Ueberaus vielthätig, einst maßlos überschätzt und mit schwärmerischem Entzücken gelesen, wirkte er auf die folgenden Geschlechter nachhaltig ein, so daß die Spuren seines litterarischen Einflusses noch jetzt bei uns deutlich zu erkennen sind, da doch die unmittelbare Theilnahme unseres Volkes an ihm und seinen Schriften längst verraucht ist.

R. wurde am 21. März 1763 zu Wunsiedel (zwischen Bayreuth und Hof) als ältester Sohn des dortigen Tertius und Organisten Johann Christian Christoph R. (1727–1779) aus Neustadt am Kulm und seiner Gattin Sophia Rosina geb. Kuhn aus Hof († 1797) geboren. Schon 1765 wurde der Vater als Pfarrer nach dem Dorfe Joditz bei Hof versetzt. Hier besucht R. zuerst die Dorfschule; dann erhielt er mit den jüngern Brüdern vom Vater Privatunterricht. Das trockene Auswendiglernen befriedigte jedoch seinen Verstand und seine Phantasie wenig. Gierig las er die paar Bücher, die ihm in die Hand kamen; zur Musik zog ihn die innigste Liebe; daneben aber bildete sich im unbeschränkten Verkehr mit der ländlichen Natur sein lebhafter Natursinn aus, und häufige Besuche in den Nachbardörfern und bei den Großeltern in Hof [468] gaben seiner Einbildungskraft mannichfache Nahrung. Sogar zärtliche Empfindungen regten sich schon in seinem später mit Frauenliebe so reich gesegneten Herzen. Als sein Vater im Januar 1776 die Joditzer Stelle mit der eines Pfarrers in dem Städtchen Schwarzenbach bei Hof vertauschte, entwickelte sich dieses Phantasie- und Gemüthsleben Jean Paul’s unter den veränderten Umständen nur kräftiger weiter; zugleich wurden seinem Geiste wieder in regelmäßigem Schulunterricht neue Kenntnisse eingeprägt, die, so unzulänglich und unmethodisch sie auch dem Knaben mitunter überliefert wurden, doch seinen Lerneifer erfolgreich anspornten. Als er zu Ostern 1779, um sich auf das Studium der Theologie vorzubereiten in das Gymnasium zu Hof eintrat, konnte der tüchtig vorgebildete Jüngling sofort in die oberste Classe Aufnahme finden. Bei den neuen Lehrern und neuen Kameraden wurde es ihm nicht gleich behaglich; doch gewann er bald an dem reichen, dichterisch angelegten, zu empfindsamer Schwärmerei neigenden Lorenz v. Oerthel († 1789), an dem armen, realistisch-herben, ja bisweilen cynischen Johann Bernhard Hermann († 1790) und an dem gleichfalls wohlhabenden, besonnenen, feinfühligen Christian Otto (1763–1828) innige Freunde, die den damals geschlossenen Bund treu durch das ganze Leben hindurch bewahrten. Diese verschieden gearteten Charaktere wirkten verschieden auf R. ein, und seine noch auf dem Gymnasium verfaßten theils poetischen, theils kritisch-philosophischen Erstlingsschriften, ein Roman „Abelard und Heloise“ nach dem Muster des „Werther“, ruhig überdachte und klar vorgetragene Schulreden über pädagogische oder geschichtliche Themen und Aufsätze über ethische und religiöse Fragen, in denen er besonders die Früchte seines Studiums Lessing’s und der Berliner Aufklärer reifte, zeigten den wechselnden Einfluß dieser Freunde. Zu Ostern 1781 bestand er die Gymnasialprüfung vor dem Consistorium in Bayreuth und bezog im Mai darauf als angehender Theologe die Universität Leipzig. Bald aber setzte er die theologischen Vorlesungen den philologischen und philosophischen, namentlich denen Platners, nach, las und exerpirte dabei für sich auf das emsigste deutsche, französische und englische philosophische und dichterische Schriften, die ihn meistens noch weiter von der orthodoxen Kirchenlehre ablenkten, und fuhr fort, Aufsätze über philosophische und religiöse Gegenstände, nunmehr aber auch satirische und ironische Versuche („Lob der Dummheit“ u. dgl.) abzufassen, die für ihn Vorläufer seines ersten gedruckten größeren Werkes, der „Grönländischen Processe oder satirischen Skizzen“ (anonym erschienen in zwei Bänden zu Berlin 1783) bildeten. Er bekannte später selbst, daß ihn namentlich Erasmus, Pope und Young zu der bittern, zum Theil revolutionäre Tendenzen bekundenden Satire angeregt hatten, die er hier in mehreren nicht zusammenhängenden Aufsätzen voll Geist und Laune über allerlei Stände und Lebensverhältnisse, über die Fehler der Schriftsteller, über die Auswüchse der Theologie, über Schwächen der Frauen und Stutzer, über den Ahnenstolz, die Bücherverbote u. s. w. ausgoß. Unbeschränkt waltete in dem Werke die Phantasie, weit mächtiger als der logisch gliedernde Verstand. Eine geradezu verblüffende Fülle von Bildern, die rasch einander ablösten oder ganz in einander überflossen, oft aber weit hergeholt oder erkünstelt waren, trat dem Leser darin entgegen; abstoßende Derbheiten, deren Vorbilder der junge, sittlich vollkommen reine Verfasser bei den englischen Satirikern fand, waren nicht gespart; das bedenklichste aber war das ermüdende Uebermaß, mit dem er seine witzigen Einfälle ins Endlose und keineswegs immer gleichmäßig fesselnd fortsetzte. Daraus erklärte sich denn auch die geringe Theilnahme, welche die Kritik wie die Leserwelt seiner Erstlingsschrift entgegenbrachte. Gleichwohl machte er sich alsbald an eine neue, wiederum satirische Arbeit, die „Auswahl aus des Teufels Papieren“, für die er damals noch keinen Verleger fand. Und doch hatte er gehofft, von dem [469] Ertrag des Buches seine Schulden bezahlen und sein entbehrungsreiches Leben weiter zu fristen. In seiner Bedrängniß entfloh er zuletzt im November 1784 aus Leipzig und kehrte nach Hof in die arme Stube seiner Mutter zurück.

In seinen ersten Hoffnungen getäuscht, von der eignen Familie und vollends von seinen Hofer Mitbürgern nicht verstanden, durchlebte er hier zwei Jahre der bittersten Armuth, ohne jedoch je in der Arbeit zu erlahmen. Seine Lage schien sich etwas zu bessern, als er um Neujahr 1787 in das Haus seines Freundes Oerthel zu Töpen bei Hof als Lehrer für dessen jüngsten Bruder einzog; aber die Talentlosigkeit und geringe Zuneigung des Knaben, der Hochmuth, die Rauhheit und Rücksichtslosigkeit seines Vaters und dazu die Anfeindungen des unduldsamen Ortsgeistlichen bereiteten ihm neuerdings schwere Tage. In kleineren Aufsätzen, von denen er mit Mühe einige in Zeitschriften unterbrachte, trat er für die Rechte des niedern Volkes und überhaupt für freiheitliche Anschauungen und Bestrebungen auf politischem, litterarischem und religiösem Gebiete kräftig ein; ebenso in den „Teufelspapieren“, die nach langer Mühe und manchem Aerger endlich 1789 mit dem Pseudonym Hasus zu Gera im Druck erschienen. Nach denselben englischen Mustern wie in den „Grönländischen Processen“ bot R. hier wieder tolle Phantasiestücke voll der abenteuerlichsten Laune dar, denen wir, obgleich sie sich beständig auf wirkliche Verhältnisse des Lebens beziehen, doch nur geringes menschliches Interesse abgewinnen können. Die neuen Versuche waren vielseitiger und noch sarkastischer als die Satiren in seiner ersten Sammlung, aber trotz ihrer Breite nur in den wenigsten einzelnen Stellen von bleibendem Werth, und wurden deßhalb von den gleichzeitigen Lesern noch herber abgelehnt als das frühere Werk. Um dieselbe Zeit kehrte Jean Paul, den der Tod seines Freundes Oerthel um die wichtigste Stütze in seiner unerquicklichen Hauslehrerstellung brachte, nach Hof zurück (im Sommer 1789), um im März des folgenden Jahres wieder ein Lehramt, in Schwarzenbach, anzutreten. Nach eigenartiger Methode unterrichtete er hier mit unermüdlichem Fleiße sieben an Alter und Geschlecht verschiedene Kinder seiner Freunde; dafür lohnte ihn jetzt aber die unbegrenzte Liebe seiner Zöglinge, die Achtung und Freundschaft ihrer Eltern, und immerhin blieb ihm Muße genug, um im frischen Genusse der Natur Feld und Wald zu durchstreifen oder zum Besuche der Mutter, eines Kreises von empfindsamen Freundinnen, unter denen vornehmlich Renata Wirth und Amöne Herold während ihres ganzen Lebens im innigen Verkehr mit ihm blieben, und seines treuen Christian Otto, der von nun an recht eigentlich sein Gewissens- und Geistesberather wurde, nach dem nahen Hof zu wandern. Eine Reihe von schriftstellerischen Arbeiten wurde begonnen, die zum Theil überhaupt ungedruckt blieben, zum Theil später in größere Werke eingewoben wurden, am vollendetsten darunter die Satire „Des Rectors Florian Fälbel’s und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg“, die Humoreske „Des Amtsvogts Josua Freudel Klaglibell gegen seinen verfluchten Dämon“, beide 1796 im Anhang zum „Quintus Fixlein“ mitgetheilt, und die Idylle „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auental“. In diesen kleinen Erzählungen oder Skizzen von Erzählungen trat R. zum ersten Mal als Dichter, als Bildner scharf charakterisirter Gestalten, als Maler lebendig angeschauter, farbenreicher Situationen auf. So schilderte er den geschmacklosen Schulpedanten Fälbel, den liebenswürdigen, in seiner Armuth und Einfalt glücklichen Wuz, den zerstreuten Pechvogel Freudel. Eigne Erfahrungen verwendete er hier, wie in seinen spätern großen Romanen in mehr oder minder künstlerischer Weise. Wie viel er aber auch vom Stoffe seiner Geschichten dem wirklichen Leben entlehnte, zu einem realistischen Stil der Darstellung ließ es die schrankenlose Subjectivität seines schriftstellerischen Wesens mit ihren beständigen Sprüngen, [470] Abschweifungen, humoristischen Zwischenreden und Randbemerkungen fast nie kommen. Er selbst betrachtete diese kleineren Versuche nur als Vorstudien für einen großen Roman, den er in elf Monaten vom März 1791 bis zum Februar 1792 vollendete, „Die unsichtbare Loge“. Das fertige Manuscript sandte er an den Verfasser des „Anton Reiser“, Karl Philipp Moritz, der, aufs höchste entzückt, dem Buche sogleich einen tüchtigen Verleger verschaffte. So erschien es zusammen mit dem „Schulmeisterlein Wuz“ 1793 in zwei Bänden zu Berlin. Zum ersten Male nannte sich R. hier auf dem Titelblatt, wie fortan stets, Jean Paul.

Nach dem Muster Sterne’s und seiner deutschen Nachahmer, für die er es nicht an Worten der Verehrung fehlen ließ, aber auch unter dem Einfluß des Wielandischen „Agathon“ und des Goethe’schen „Werther“ lieferte R. in der „Unsichtbaren Loge“ eine Entwicklungsgeschichte, welche die Erziehung des durchaus sentimentalen, in der wirklichen Welt fremden Helden zum Leben schildern soll, aber nach verschiednen, zum Theil vortrefflichen, idyllischen und elegischen Scenen ohne richtigen Abschluß und ohne erschöpfende Lösung des Problems abbricht. Trotz der mitunter meisterlichen Charakteristik einzelner Personen steht doch die feste Gestaltungskraft des Dichters, die geordnete Klarheit seiner Darstellung weit zurück hinter dem Reichthum von Gemüth, Phantasie, Laune, Humor, den der Roman offenbart. Die bloße Erzählung erscheint als Nebenzweck, überall drängt sich das Ich des Verfassers mit seinen von Augenblick zu Augenblick wechselnden und anders schillernden Stimmungen hervor; daher die beständigen Einschaltungen von Extraseiten, Zwischenwörtern und dgl. in die Geschichte, daher die unablässigen Sprünge vom Höchsten in’s Niedrigste, vom Ernst in den Scherz, von empfindsamer Schwärmerei in cynische Derbheit, daher die ganze Verschwommenheit des Stils. Auch die Sprache, die Jean Paul mit der Genialität, aber auch mit der Willkür eines Fischart behandelt, leidet bei allem Wohllaut, bei allem Glanz, bei aller Fülle doch unter dieser immerwährenden Mischung der verschiedenartigsten Elemente, besonders unter dem fortgesetzten Zusammenfluß unvereinbarer Bilder und Gleichnisse. Zu einem reinen Kunstgenuß läßt uns „Die Unsichtbare Loge“, deren Titel übrigens aus dem Roman kaum zu erklären ist und gleichfalls nur einer humoristischen Grille des Verfassers entstammt, ebensowenig kommen wie Jean Paul’s folgendes Werk, welches im Grunde nur das gleiche Thema, aber auf einer höheren Stufe und mit reiferer Kunst fortführt, „Hesperus oder fünfundvierzig Hundsposttage“.

Vom 21. September 1792 bis zum 21. Juni 1794 arbeitete R. diesen Roman aus, während er gleichzeitig schon den Grund zu mehreren seiner späteren größten Werke legte. 1795 erschien der „Hesperus“ zu Berlin in drei Bänden. Der Roman zeichnet sich vor der „Unsichtbaren Loge“ durch einen geschickteren Aufbau, eine trotz allen Wiederholungen stetig fortschreitende Entwicklung, besonders durch eine viel klarere, sichrere Charakteristik des Helden wie der vielen, zum Theil sehr liebenswürdigen Nebenpersonen aus. Er zeigt uns ein größeres Bild des Welttreibens, durchaus nach dem Leben gemalt. Laut seinem eignen Bekenntniß hat R. den Helden der Geschichte „ein wenig nach sich selbst gebosselt“ und „überhaupt in dieser ganzen Lebensbeschreibung als Supernumerarcopist der Natur allezeit die Wirklichkeit abgeschrieben“. Dabei verallgemeinerte und idealisirte er freilich überall. Er ließ es an wirkungsvollen, fast theatralisch erregten Scenen, auch an einigem drastischen Apparat selbst mit einem leichten criminalistischen Anstrich nicht fehlen, ohne dadurch aber die ruhige epische Darstellung zu stören. Viel mehr wird diese wieder durch seine zahlosen Abschweifungen, barocken und abenteuerlichen Einfälle, überhaupt durch die gerade hier ungebändigt waltende Willkür seiner humoristischen Subjectivität unterbrochen. [471] Die weiche Empfindsamkeit des Verfassers und seiner Gestalten, die Abkehr von aller gesunden Sinnlichkeit ist hier noch ungleich stärker als in der „Unsichtbaren Loge“. Freilich verdanken wir dieser Hypersentimentalität mehrere der schönsten, dichterisch ergreifendsten, wenn auch nicht immer sehr wahrscheinlich begründeten Scenen des Romans; wir verdanken ihr auch mit die wunderbar weiche, innige und lebendige Naturschilderung, sowie die zarte Stimmungsmalerei, die schon die gleichzeitigen Leser aufs höchste entzückte. Der „Hesperus“ (in spätern Auflagen noch vielfältig im einzelnen ausgebessert) begründete Jean Paul’s Weltruhm; er ebnete ihm vor allem auch die Bahnen, die ihn künftig zu neuen, behaglicheren Wirkungsstätten führen sollten.

Im Mai 1794, als die meisten seiner Zöglinge in das Bayreuther Gymnasium eintraten, war er nach Hof zurückgekehrt, wo er fürs erste, ähnlich wie in Schwarzenbach, einige Kinder unterrichtete. Vom Herbst an wanderte er öfters nach Bayreuth. Wahres Verständniß, das er in Hof so sehr entbehrte, wurde ihm hier entgegengebracht; Damen der hohen Aristokratie zogen ihn verehrungsvoll in ihre Kreise; an dem reichen jüdischen Geschäftsmann Emanuel Osmund gewann er einen geistig nicht unbedeutenden, besonders aber moralisch vorzüglichen Freund, der von da an in unvergleichlich liebenswürdiger Weise an allem, was den Dichter und später seine Familie betraf, den herzlichsten Antheil nahm.

Durch den unerwarteten Erfolg des „Hesperus“ angespornt, vollendete R. rasch einen neuen, kürzeren Roman, „Leben des Quintus Fixlein, aus funfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußtheil und einigen Jus de tablette“, der 1796 zu Bayreuth erschien und nach Jahresfrist schon wieder aufgelegt werden mußte. Wie im „Wuz“, lieferte Jean Paul hier wieder eine Schulmeisteridylle, nur breiter ausgeführt, farben- und figurenreicher, mit lebhafterer Handlung, im einzelnen zwar auch voll rührender Empfindsamkeit, aber heitrer ausmündend, zugleich reicher an Humor, an Witz, an Satire gegen private und öffentliche Zustände. Die Geschichte selbst ist einfach und hübsch erfunden und gut aufgebaut, die Charakteristik der Haupt- und Nebenpersonen durchaus gelungen; die Fülle lieblicher Genrebilder und gemüthlich erfreuender Scenen gibt dem Ganzen einen unvergänglichen Reiz. Freilich stört auch hier wieder die Verschwommenheit des allzu phantastischen und allzu subjectiven Stils. Ein Uebermaß von Phantasie und weicher Empfindsamkeit steckt besonders in den beiden als „Mußtheil für Mädchen“ vorausgeschickten kleinen Erzählungen, während der Anhang, die „Jus de tablette für Mannpersonen“, neben einem Aufsatz über die natürliche Magie der Phantasie, der durchaus den feinsinnigen Aesthetiker bekundet, treffliche satirische und humoristische Geschichten enthält. Die umfangreiche, gesucht humoristische Vorrede zur zweiten Auflage wandte sich ablehnend gegen die einseitige Verehrung des Alterthums und gegen die von Weimar aus verkündigten Kunstanschauungen; mit besonderem Spott aber traf sie August Wilhelm Schlegel, den „gräcisirenden Formschneider“.

Unvollendet blieb ein zweites Werk, dessen erster Band gleichfalls 1796 zu Berlin erschien, „Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin“, eine empfindsame, an Handlung dürftige, aber mit Humor und Satire überreich gewürzte Geschichte, in der am meisten die Charakteristik des Helden, eine Vorstudie zum „Titan“, einen Fortschritt gegen früher bezeichnete. Hingegen war die als „Appendix“ beigefügte „Salatkirchweih in Obersees“ ein Meisterstück einer humoristisch-realistischen Idylle. Das dritte größere Werk des Jahres 1795 reichte mit seinen Anfängen in eine frühere Zeit zurück, „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvocaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel“ (3 Bändchen, Berlin [472] 1796 f.; vollständig umgearbeitet in der vierbändigen zweiten Auflage 1818). Was R. im „Wuz“ und „Quintus Fixlein“ als Idylle dargestellt hatte, das erhielt hier durch den bedeutenderen, problematischen Charakter des Titelhelden eine tragische Färbung. Der Roman schildert den Kampf eines genialen Menschen mit den Beschränktheiten seiner kleinbürgerlichen Verhältnisse, aus denen gleichwohl Siebenkäs nicht in folgerichtig strenger Arbeit herauszustreben vermag, sondern lieber durch einen lügenhaften Gaunerstreich listig sich herausschleicht, nachdem er lange in satirischem Humor oder phantastischen Träumereien einen vorübergehenden Trost gefunden hat. Die Geschichte ist etwas lang gedehnt, doch auch im einzelnen überall anziehend; bald ergreift sie den Leser gewaltsam, bald unterhält sie ihn gemüthlich oder belustigt ihn gar, und wirkt nur durch ihre zahllosen Abschweifungen und durch die vielfache Verschwommenheit des Stils unerquicklich. Als Meister der Charakterzeichnung bewährte sich Jean Paul hier namentlich an seinen beiden Helden, den Herzensfreunden Siebenkäs und Leibgeber, aber auch an den Nebenpersonen, ja selbst, was ihm sonst so selten gelang, an einer Frauengestalt, an Lenette. Dagegen stößt gegen den Schluß des Werkes nicht nur die unsittliche Betrügerei, durch welche die glückliche Katastrophe herbeigeführt wird, uns ab, sondern auch die Schilderung Nataliens und ihrer Liebe zu Siebenkäs ist zu unbestimmt und allgemein gehalten, um unsern künstlerischen Geschmack zu befriedigen.

Indessen hatten sich die Zeichen der Theilnahme und Verehrung in Deutschland für den unermüdlich schaffenden Dichter rasch gemehrt. Unter anderm erhielt R. von dem hinter falschem Namen versteckten alten Gleim, dem er im „Siebenkäs“ dafür ein bleibendes Denkmal setzte, eine ansehnliche Geldsendung und von Charlotte v. Kalb mit der Versicherung, daß Wieland, Herder, Knebel und Einsiedel zu seinen warmen Anhängern gehörten, die herzliche Einladung, sie in Weimar zu besuchen. Im Juni 1796 trat er die Reise an, die nach seinem eignen Bekenntniß „eine neue Welt in ihm anfieng“. Er fand bei den Frauen, in erster Line bei der Herzogin-Mutter Anna Amalia und bei Frau v. Kalb, die wärmste Aufnahme und schloß mit Herder den Bund inniger Freundschaft. Wieland weilte eben von Weimar fern; Goethe und Schiller verhielten sich äußerlich freundlich, aber kalt gegen den Gast, dessen Wesen und Weltanschauung zu der ihrigen so wenig paßte. Mit beglückenden Erfahrungen bereichert, aber zugleich mit dem bittern Gefühl, das ihn auch später in ähnlichen Lagen immer wieder beschlich, daß er seine Ideale von größern Menschen zum Theil schwinden sehen mußte, kehrte R. nach drei Wochen nach Hof zurück. Die Aufforderung, als Erzieher eines Prinzen und einer Prinzessin von Hohenlohe nach den Rheingegenden überzusiedeln, lehnte er jetzt ab; er fühlte, daß er als Schriftsteller unerschöpflich viel zu leisten habe und diesen seinen Lebensberuf nicht mehr hinter eine andre Thätigkeit zurückdrängen dürfe. So verfaßte er zunächst in den letzten drei Monaten des Jahres 1796 den „Jubelsenior“ (Leipzig 1797), eine hübsche Pfarrhausidylle mit gutem Aufbau der stellenweise dramatisch bewegten Handlung, mit klar und lebendig gezeichneten Charakteren, durchaus humoristisch und liebenswürdig, ohne die früher nicht genug vermiedenen künstlerischen und sittlichen Rohheiten. Er selbst nannte die Geschichte einen Appendix und erklärte sie demgemäß nur für eine sehr entfernte Seitenverwandte des Romans, für dessen Stiefschwester, wenn nicht gar feindliche Stiefmutter; die Digression, nicht die eigentliche Erzählung, sondern die humoristisch-satirische Schilderung sei hier der Hauptzweck in einem noch viel höheren Grade als im älteren englischen und deutschen humoristischen Roman. Stilvoller als zuvor verwies aber Jean Paul diesmal seine launigen Excurse über alles Erdenkliche, was im Leben und in der Schriftstellerei vorkommt, meisten in die „Hirten- [473] und Zirkelbriefe“, welche er den eigentlichen Capiteln der Geschichte, den sogenannten „officiellen Berichten“, regelmäßig folgen ließ. Dicht nach dem „Jubelsenior“, unter den überwältigenden, bald ihn zu entschiednem Widerspruch reizenden Eindruck der kritischen Philosophie Kant’s und Fichte’s vollendete er das sogleich zu Erfurt 1797 gedruckte „Kampanerthal oder über die Unsterblichkeit der Seele, nebst einer Erklärung der Holzschnitte unter den zehn Geboten des Katechismus“. In eine einfache, empfindsame, im einzelnen keineswegs reizlose Erzählung flocht er hier die philosophisch weder besonders originellen noch besonders bedeutenden Gespräche zum Beweis der Unsterblichkeit ein; für die verhältnißmäßige Klarheit und Uebersehbarkeit dieses ersten Theiles seines Buchs entschädigte er sich jedoch durch den zweiten, die „Erklärung der Holzschnitte“, wo er in krauser Verworrenheit alle möglichen Gedanken, Empfindungen, Schlüsse, Witze, Einfälle durcheinander schüttelte.

Das Verhältniß zu den Weimarer Freunden wurde währenddem sorgfältig weiter gepflegt; nur hatten neue, geistig bedeutende, meist empfindsam-schwärmerische Frauen, die ihn leidenschaftlich, aber nur vorübergehend anzogen, Julie v. Krüdener und darnach besonders Emilie v. Berlepsch, das Bild der Frau v. Kalb verdunkelt. Mit Emilie siedelte er nach dem Tode seiner Mutter im October 1797 nach Leipzig über; mit ihr reiste er im folgenden Mai nach Dresden, wo er die ersten großen Eindrücke von der bildenden Kunst empfing. Andre Ausflüge führten ihn damals nach Halle und Halberstadt und wieder nach Weimar. Hier wurde er in dem alten Kreise so herzlich willkommen geheißen, daß er rasch entschlossen im October 1798 von Leipzig ganz nach der Kunststadt an der Ilm herüberzog. Die Beziehungen zu Charlotte v. Kalb gewannen wieder die ehemalige Innigkeit und verloren diese auch nicht, als R. hier, ebenso wie zuvor bei Frau v. Berlepsch, nichts von einer Heirath wissen wollte. Das hinderte jedoch nicht, daß er bald in der Französin Josephine v. Sydow eine glühende Freundin fand, die vorerst sich ihm zwar nur brieflich mittheilte, und daß er seit dem Mai 1799 zu der herzoglichen Hofdame Karoline v. Feuchtersleben in Hildburghausen in das innigste Verhältniß trat: im October 1799 verlobte er sich mit ihr; allein unmittelbar vor der geplanten Hochzeit, im Mai 1800, löste er zu Herder’s Verdruß ruhig wieder den Bund, den er selbst jüngst erst geschlossen hatte.

Trotz dieser mannigfach aufregenden seelischen Erfahrungen blieb ihm in Weimar Zeit und Lust zu den größten schriftstellerischen Arbeiten. In Leipzig hatte er nur (vom November 1797 bis zum März 1798) die „Palingenesien, Jean Pauls Fata und Werke vor und in Nürnberg“ (2 Bände, Leipzig und Gera 1798) vollendet, die er durch diesen Titel schon als eine freilich vollständig umgestaltete und durch reiche Zusätze zu einem durchaus neuen und selbständigen Werke umgeschaffene Wiedergeburt der „Teufelspapiere“ ankündigte. Die äußere Geschichte, in welche er diesmal seine zügellosen Einfälle einkleidete, knüpfte er lose an den „Siebenkäs“ an. Für Herder hatte er auch hier Worte der höchsten Verehrung, während er die Kantianer und die „gräcisirenden Dichter“ – er hatte dabei vornehmlich Goethe im Sinn – mit Schelt- und Spottreden heimsuchte. In Weimar folgten den „Palingenesien“ sogleich „Jean Paul’s Briefe und bevorstehender Lebenslauf“ (Gera und Leipzig 1799), aus glücklichen Stimmungen voller Befriedigung erwachsen. In die regelmäßigen Postscripte zu den Briefen, selbständige kurze Aufsätze voll Phantasie, Satire, Ironie, Moral, die an Umfang und Bedeutung die Briefe selbst meistens übertrafen, nahm R. auch einzelne ältere, schon früher gedruckte Studien und Skizzen umgearbeitet auf, so den „Doppelten Schwur der Besserung“ und die „Neujahrsnacht eines Unglücklichen“ aus dem Bayreuther „Taschenkalender für die Jugend“ [474] 1796. Unter den neu entstandenen Postscripten war der „Brief über die Philosophie, an meinen erstgeborenen Sohn Hans Paul, den er auf der Universität zu lesen hat“, wegen seiner Polemik gegen die Kantianer bedeutsam. Die mit den Briefen zugleich herausgegebene „Conjecturalbiographie“, gleichfalls in Briefe (an Christian Otto) eingekleidet, entwirft ein idyllisch-heitres, liebenswürdiges Bild von dem künftigen Leben ihres Verfassers in bescheidnen, aber glücklichen Familienverhältnissen. Sie verräth mehr empfindsame Weichheit als männliche Kraft und Größe, hält sich aber von krankhaft übertriebener Sentimentalität eben so fern, wie von dem Uebermaß eines phantastisch tollenden Humors und bringt den Dichter namentlich uns menschlich nahe. Das Ende der Biographie wies verehrungsvoll auf den „unsterblichen Wieland“ hin, wie die „Briefe“ mit einem Hymnus auf Herder geschlossen hatten, dessen „Metakritik“ Jean Paul gerade damals in der Handschrift durchsah. Was ihn an Herder’s Schriften so sehr anzog, war die Vereinigung von Religion und Philosophie, dasselbe was er an Friedrich Heinrich Jacobi überschwänglich rühmte. Mit beiden wußte er sich eins im Kampfe gegen die Transcendentalphilosophie: Jacobi widmete er daher die Schrift, die er um Weihnachten 1799 gegen den vermeintlichen Gipfel derselben, gegen Fichte’s Wissenschaftslehre, unter dem Titel „Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana“ verfaßte (gedruckt zu Erfurt 1800). Wie sehr er Fichte auch persönlich schätzte, so überschüttete er seine „potenzierte Scholastik“ doch mit dem schärfsten Spott, parodirte sie und suchte sie ad absurdum zu führen – freilich ohne wirklichen Erfolg. Aehnliche Ideen fanden auch in das Hauptwerk dieser Lebensperiode Eingang, in den „Titan“, von dem der erste Band nebst dem komischen Anhang noch in Weimar vollendet wurde.

Um Frau v. Sydow persönlich kennen zu lernen, reiste R. im Mai 1800 auf einige Wochen nach Berlin. Hier in der „wühlenden und wogenden“ Hauptstadt, in der „Mutterloge deutscher Freiheit“, wo er allerorten Anregung und begeisterte Verehrung fand, fühlte er sich so zufrieden, daß er im October von Weimar zu dauerndem Winteraufenthalt nach Berlin übersiedelte. Am Hofe von der Königin Luise, von den Ministern, von Tieck, Schleiermacher, Fichte, von gesellschaftlich oder geistig hervorragenden Frauen (Frau v. Berg, E. Bernard, Rahel, Helmine v. Chezy, Gräfin Schlabrendorf u. s. w.) wurde er mit Beweisen der Hochachtung und Liebe überhäuft; sein Herz fühlte sich bald vor allem zu Karoline, der zweiten Tochter des Obertribunalrathes Maier, hingezogen, einem philosophisch gebildeten, dabei mit praktischem Sinn ausgestatten und häuslich erzogenen Mädchen, das ihm leidenschaftliche Liebe und Begeisterung entgegenbrachte. Am 9. November verlobte er sich mit ihr; am 27. Mai 1801 fand die Hochzeit statt. Gleich darauf reiste das junge Paar über Weimar und Gotha nach seinem neuen Wohnsitze Meiningen ab. Das Glück der Ehe und das Glück, welches R. in der aufrichtigen Freundschaft des Herzogs und der Besten in seiner Residenz fand, dazu kleine Reisen in die Nachbarstädte oder Besuche willkommener Gäste aus ihnen bescherten ihm frohe Tage. Die edelsten Eigenschaften seines Charakters traten dabei immer bedeutender heraus, die Wärme, die Tiefe, die kindliche Herzlichkeit seines Gemüthes. Rastlos schuf sein Geist. Neben kleineren Arbeiten schrieb er „Das heimliche Klaglied der jetzigen Männer, eine Stadtgeschichte, und die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht“ (Bremen 1801), ersteres eine moralische, empfindsame Geschichte mit Motiven der rührenden Familienromane älterer Zeit, letzteres eine zum Theil humoristische Phantasie mit allerlei verschwommenen Andeutungen vom Ende der Zeiten und der Welt. Namentlich aber vollendete er am 6. December 1802 sein Hauptwerk, den „Titan“, begann schon vorher (am 19. April 1801) die „Flegeljahre“ [475] und plante den Abschluß der „Biographischen Belustigungen“ sowie die Fortsetzung des „Siebenkäs“.

Seit dem December 1792 hatte er sich mit dem Entwurf des „Titan“ getragen; aber erst während der Weimarer Periode reifte das gegen den Titanismus jeder Art gerichtete Werk, in welches er Erfahrungen seines Lebens und Züge von Personen seiner Bekanntschaft massenhaft verarbeitete, völlig aus. Gedruckt erschien es 1800–1803 in vier Bänden zu Berlin, ebenda der „Komische Anhang zum Titan“ 1800 und 1801 in zwei besonderen Bändchen. Als den Grundgedanken des von den Zeitgenossen sehr verschieden beurtheilten Romans, dessen erste Idee er aus Jacobi’s „Allwill“ empfangen haben will, bezeichnet Jean Paul selbst den Streit der Kraft mit der Harmonie. „Titan“, der eigentlich „Antititan“ heißen sollte, sei gegen das irrende Umherbilden ohne punctum saliens, gegen jede genialische Partialität und jede Superfötation gerichtet und solle zeigen, wie verderblich die Macht der zügellosen Phantasie sei (bei kraftgenialischen Stürmern sowohl wie bei empfindsamen oder humoristischen Naturen), wie nur Thaten dem Leben Stärke, nur Maß ihm Reiz verleihen könne. So schildert der Dichter die Entwicklungsgeschichte eines Prinzen, der, mit seinem Stande unbekannt, körperlich und geistig gesund, rein gesinnt, mit reichen Gaben ausgestattet und wahrhaft gebildet, seinem künftigen Beruf in mannigfachen Schicksalen entgegenreift. Um ihn reihen sich die mehr oder minder titanisch ungesunden Naturen, die dem Erdenleben immer mehr sich entfremdende, empfindsame Schwärmerin Liane, die willensstarke, freiheitslustige, leidenschaftliche, extravagante Linda, der edle, aber religionslose, durch die Fichte’sche Philosophie zuletzt dem Wahnsinn in die Arme getriebene Humorist Schoppe, eine geniale Fortbildung Leibgebers, der mephistophelische, in Gedanken, Begierden und Thaten zügellose, weltschmerzlich-atheistische Wollüstling Roquairol. Während sie alle dem Untergange verfallen sind, erlangt der Held schließlich in den Armen einer still und fromm im praktischen Leben Gutes wirkenden, liebevollen, aber von allem titanischen Uebermaß weit entfernten Gemahlin und im Besitze des väterlichen Thrones für sich und seine Unterthanen ein reiches, dauerndes Glück. Der „Titan“ bedeutet einen gewaltigen Fortschritt gegen die früheren großen Romane Jean Paul’s. Klar angeschaute und virtuos gezeichnete Menschen, die auf dem Boden des wirklichen Lebens stehen, treten uns entgegen; statt des beständigen früheren Verweises auf ein alles klärendes und erfüllendes Jenseits werden hier alle Verwicklungen der Geschichte schon im Diesseits gelöst; ohne daß der Verfasser seinen Glauben an Gott und Unsterblichkeit als die höchsten Endziele alles irdischen Seins und Denkens je verleugnet, sucht er jetzt unter dem ihm unbewußten Einflusse Goethe’s, der sich auch sonst gelegentlich im „Titan“ bemerkbar macht, im Inneren des Menschen selbst die Kraft, welche die Zweifel und Kämpfe seines Daseins schlichtet. Dazu läßt er seine Subjectivität mit ihren humoristischen Grillen und Seitensprüngen nur selten mehr den ruhigen, etwas schwerfälligen, aber steten Fluß der Handlung stören. An psychologischen Unwahrscheinlichkeiten besonders im Wesen des Helden und an verletzenden Grausamkeiten in den Schicksalen der weitaus folgerichtiger und glänzender durchgeführten übrigen Charaktere ist zwar kein Mangel; noch reicher aber sind die Schönheiten im einzelnen, die prächtigen Naturschilderungen, die reizvollen idyllischen Scenen, die ergreifend innigen Gemälde echter Herzensleidenschaft. Die humoristisch-satirisch-ironischen Abschweifungen, die R. sich mit wenigen Ausnahmen im „Titan“ versagte, holte er in dem „Komischen Anhang“ zu dem Romane nach, in welchem er alle wesensverwandten humoristischen Personen seiner früheren Romane als einheitlich zusammenwirkend aufführte und überhaupt überall äußerlich an seine frühern humoristischen Darstellungen anknüpfte, aber auch in [476] ernsterer Weise philosophische und künstlerische Fragen wissenschaftlich brauchbar erörterte.

Trotz der angenehmen Verhältnisse fand R. an Meiningen auf die Dauer kein Behagen. Im Juni 1803 verlegte er seinen Wohnsitz nach Coburg, wo er eine größere Bibliothek benützen konnte und mehr Sinn für Dichtkunst und Philosophie unter den Einwohnern erwartete. Auch hier fühlte er sich anfangs überaus zufrieden und besonders, nachdem ihm im November ein Sohn geboren war, überglücklich. Doch bald trieb ihn die alte Unruhe und Verstimmung, wozu Mißverhältnisse zwischen seinen Freunden am Hofe kamen, auch von hier weiter; im August 1804 fand er endlich in Bayreuth die Stätte, die ihm zur zweiten Heimath wurde. Anfangs zwar klagte er auch hier über Mangel an wissenschaftlichem Sinn und Kunstverständniß; doch hielt ihn die Freundschaft zu Osmund und Otto fest, zu denen sich bald mehr liebe Bekannte gesellten, besonders der Hofrath und spätere geheime Medicinalrath Langermann. Später bildete sich sein Leben im Kreise seiner Familie oder in seinem Arbeitsstübchen in dem eine halbe Stunde von der Stadt entfernten Wirthshaus der Frau Rollwenzel immermehr zu der beschränkten, aber glücklichen Idylle aus, die er einst in der „Conjecturalbiographie“ sich gewünscht hatte.

Aus Coburg brachte er bis auf die Vorrede vollendet die „Vorschule der Aesthetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit“ (3 Bände, Hamburg 1804; zweite Auflage 1813) nach Bayreuth mit; von den „Flegeljahren“ war der größte Theil gleichfalls fertig, die „Levana“ und anderes begonnen. Die „Vorschule der Aesthetik“, in Wirklichkeit nur eine Vorschule der Poetik, nicht kunstreich, ja in ihrer zweiten Hälfte nicht einmal klar gegliedert, aber von ungeheurer Belesenheit in der schönen und philosophischen Litteratur und von scharfem, selbständigem Urtheil zeugend, voll der geistreichsten und bedeutendsten Bemerkungen im einzelnen, knüpfte in vielen Dingen an Herder an, dessen Tod während der Ausarbeitung dieses Werkes Jean Paul tief erschütterte und zu dem begeisterten Nachruf am Schlusse desselben veranlaßte; sie setzte desgleichen die ästhetischen Untersuchungen Goethe’s und Schiller’s unmittelbar voraus, hatte aber noch mehr die Anschauungen und Arbeiten der Romantiker über das Wesen der Poesie und Kunst zur philosophischen Grundlage. Auch aus der eignen dichterischen Praxis abstrahirte R. öfters seine Theorien, und so durfte er mit Recht die Abschnitte über das Lächerliche, den Humor, die Ironie und den Witz als die eigenartigsten seines Werkes bezeichnen, denen die spätere Entwicklung unsrer Aesthetik auch positiv am meisten verdankte. Wissenschaftlicher Stil fehlte der „Vorschule“ gänzlich; die eigenthümliche Mischung eines großentheils abstracten Inhaltes und einer übermäßig sinnlichen, bilderreichen Form, dazu das ausgelassene Spiel des Humors und der Ironie namentlich in den letzten Capiteln des Buches that der Klarheit der Darstellung schweren Eintrag und ließ es in ihr nur selten zu dem durch den Stoff geforderten ruhigen Ernste kommen. R. hatte die „Vorschule“ dem Herzog August von Sachsen-Gotha widmen wollen; aber die Censur der philosophischen Facultät zu Jena strich trotz dem Widerspruch des Herzogs die Zueignung, die ihr dem Kanzleistil nicht gemäß genug erschien. Jean Paul rächte sich dafür durch das „Freiheitsbüchlein“ (Tübingen 1805), worin er seinen Briefwechsel mit dem Herzog über die Widmung nebst einer Abhandlung über die Preßfreiheit herausgab. Er wandte sich scheltend gegen die niedrige Kriecherei und ängstliche Schüchternheit der deutschen Schriftsteller in ihren Reden über oder an Fürsten und gestand der Censur höchstens in Kriegszeiten bei politischen Schriften ein Recht zu, wollte sie hingegen bei wissenschaftlichen, religiösen, künstlerischen Werken, auch bei geschichtlichen Büchern, bei Reisebeschreibungen und Schriften über Höfe [477] und Fürsten ganz beseitigt wissen. Der gediegene Inhalt und der männliche Ton dieser Abhandlung würde noch weit kräftiger wirken, wenn die unsägliche Verschwommenheit in den vorausgehenden Briefen Jean Pauls und noch mehr des Herzogs August den Geschmack des Lesers nicht so gröblich verletzen würde.

In den ersten Monaten des Bayreuther Aufenthaltes (bis zum 30. Mai 1805) beendigte R. vorläufig sein zweites, unvollendet gebliebenes Hauptwerk, die „Flegeljahre“, an denen er schon in Berlin und Meiningen, namentlich aber in Coburg fleißig gearbeitet hatte; 1804–1805 erschienen sie in vier Bänden zu Tübingen. Vom „Titan“ war er hier wieder in seine eigentliche Sphäre, auf die „ebene Gasse der Bürgerlichkeit“, gelangt. So schilderte er den Lebenslauf zweier Zwillingsbrüder Walt und Vult, in denen er die beiden Seiten seines eignen menschlichen und dichterischen Wesens schilderte, beide aber mit einer plastischen Gestaltungskraft, die er bis dahin kaum je gezeigt hatte, zu selbständigen Typen ausschuf und durchaus auf den Boden des wirklichen Lebens stellte. Die Handlung der Geschichte war ihm freilich auch hier nur Nebensache, zu einer strengen, bedeutenden Durchführung eines einzigen, großen Grundgedanken kam er auch diesmal nicht, und einzelnen Motiven, so der ganzen, weit ausgedehnten Erbschaftsgeschichte, klebt sogar etwas Läppisches an; desto meisterlicher und folgerichtiger ist die Charakteristik sämmtlicher Personen gelungen. Der weltunläufige, traumbefangene, stets empfindsam schwärmende Walt mit seinem kindlichen Gemüth und seinem warmen, liebevollen Herzen streift zwar hie und da an die Caricatur; desto überzeugender sind der weltgewandte, kraftvolle, kühne, satirische, cynische Vult und die meisten andern, theils wahrhaft liebenswürdigen, theils überaus ergötzlichen Gestalten des Romans gezeichnet. Und jetzt offenbaren sie sich ziemlich alle nicht mehr bloß durch Worte; der Dichter weiß sie sämmtlich in Handlung zu versetzen. Er entzückt uns vor allem wieder durch köstliche Einzelbilder, großentheils humoristische Genregemälde, in denen er manche eigenen Erlebnisse und Gewohnheiten künstlerisch verarbeitete. Freilich findet sich in den „Flegeljahren“ auch wieder die ungesunde Mischung von tugendseliger Empfindsamkeit und cynischer Roheit, von erhabner Poesie und niedriger Prosa, das gelegentliche, oft satirische oder ironische Abschweifen zu allen möglichen, außerhalb der epischen Handlung liegenden Fragen, die Ueberfülle an phantastisch zerfahrenen Bildern und Gleichnissen. In die Erzählung flocht R. (der gerade damals, im Juni 1805, in einem Wechselgesang der Oreaden und Najaden zur Feier des preußischen Königspaars bei seinem Besuch des Alexanderbades bei Wunsiedel seine völlige Unfähigkeit zur metrisch gebundenen Poesie bewies) mehrere sogenannte „Streckverse“ in rhythmischer Prosa ein, ihrem Inhalte nach meisten phantastische Gefühlsergüsse.

Nach dem vorläufigem Abschlusse der „Flegeljahre“ arbeitete R. zunächst sein zweites wissenschaftliches Werk „Levana oder Erziehlehre“ (vom Juli 1805 bis zum October 1806) aus, das 1807, der Königin Karoline von Bayern gewidmet, in drei Bänden zu Braunschweig erschien. Er hatte nicht die Absicht, ein wohlgeordnetes System der Pädagogik nach einem einheitlichen Plane methodisch aufzubauen, sondern gab lieber nach den einleitenden allgemeinen Erörterungen in willkürlicher Ordnung praktische Vorschriften und Rathschläge für die verschiednen einzelnen Fälle und Fragen, die sich für den Pädagogen ergeben. Die Herausbildung des Idealmenschen galt ihm als höchstes Ziel, die Wahrung der Individualität einerseits, die Hinleitung der schrankenlosen individuellen Freiheit und des persönlichen Egoismus zur Hingabe an das Allgemeine andrerseits als wichtigste Aufgabe der Erziehung. So untersuchte er, im einzelnen bald von Rousseau, Pestalozzi und den Aufklärern abhängig, bald gegen sie ankämpfend, die Bildung des Kindes zum Guten, Wahren und Schönen und drang dabei vor [478] allem auf Wahrhaftigkeit als die erste Tugend, die der Erzieher einprägen und selbst üben soll, auf vollkommene Consequenz und leidenschaftslose Besonnenheit in seinem gesammten Handeln, auf richtige Pflege des religiösen Sinnes im Kinde, auf Erweckung der in ihm schlummernden Liebe zu Thieren und Menschen, auf die Anleitung seines Wissens und seiner ganzen Geistesschulung. Feinsinnig unterschied er die Grundsätze der männlichen und weiblichen Erziehung und erfaßte in bedeutsam-schöner Weise das Wesen und den Beruf des Weibes tiefer und richtiger als viele selbst seiner größten Zeitgenossen. Unwichtiger und überflüssiger dagegen waren die breit ausgeführten Anhangscapitel über Fürstenerziehung. Der Stil des Werkes, das zwischen wissenschaftlich schwerer und humoristisch populärer Darstellung schwankte, litt an ähnlichen Mängeln wie der der „Vorschule“; die Fülle geistreicher und praktisch werthvoller Winke verschaffte aber dem Buch eine im ganzen sehr freundliche Aufnahme, sodaß schon 1814 eine neue, vermehrte Auflage nöthig wurde.

Das politische Unglück, das während der Vollendung dieser letzten Werke über Deutschland hereingebrochen war, empfand R. in tiefster Seele innig mit; aber wie es ihn auch persönlich erschütterte, so erhob er sich doch rasch wieder darüber, um tröstend seinem Volk eine bessere Zukunft zu weissagen. So verfaßte er 1808 die „Friedenspredigt an Deutschland“, in der er mehr hoffend als klagend zunächst eine sittliche Läuterung und Erhebung der Deutschen als erste Bedingung ihres politischen Aufschwungs forderte. Er verlangte innere Besserung, mehr Vertrauen auf die eigne Kraft, Mäßigung des Luxus wie alles sonstigen Uebermaßes in Lust und Selbstsucht, entschiednes Streben nach echter Bildung des Geistes und Herzens, aber auch größere politische Freiheit auf Grund des Gesetzes, Umsturz des verjährten geistlosen Formalismus, Aufhebung der Censur, überhaupt eine vernünftige Regelung des Verhältnisses zwischen den Fürsten und dem Volke. Als eine bloße „Vollendung der Friedenspredigt“ ließ R. 1809 die „Dämmerungen für Deutschland“ folgen, im gleichen Sinne patriotisch empfunden ohne einseitig-nationale Vorurtheile und zunächst für sittliche Besserung und social-politische Freiheit wirkend. Die beiden hervorragendsten der hier vereinigten Aufsätze, „Ueber den Gott in der Geschichte und im Leben“ und „Ueber die jetzige Sonnenwende der Religion“ enthielten geschichtsphilosophische Betrachtungen, deren Bedeutung sich nicht allein auf die deutschen Verhältnisse beschränkte.

Ziemlich gleichzeitig mit den „Dämmerungen für Deutschland“ ließ Jean Paul 1809 zu Tübingen erscheinen „Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz mit fortgehenden Noten; nebst der Beichte des Teufels bei einem Staatsmanne“, eine kurze, überaus lustige Geschichte, die durchaus von echtem, bisweilen derbem, aber immer gesundem Humor erfüllt ist, eigentlich nur ein komisches Charakterbild eines Hasenfußes, der überall eingebildete Gefahren sieht, während die angefügte „Beichte des Teufels“ eine bittere Satire auf die Verbrechen hoher Staatsbeamten ist. Einen ähnlichen drolligen Kauz, diesmal einen Arzt, der mit Vorliebe Ekelhaftes und Monströses aufsucht, stellt „Dr. Katzenbergers Badreise“ (Heidelberg 1809, in drei Bänden) dar, in demselben derb-realistischen Stil wie der „Schmelzle“ verfaßt, mit demselben gesunden Humor ausgestattet. Aber bei allen seinen Wunderlichkeiten und Cynismen ist Katzenberger ein tüchtiger, gediegener Charakter, ein Mann der That und Feind des leeren Scheins, grob und rauh, aber voll warmer Liebe im Herzen. Im Gegensatze zu ihm steht seine empfindsam schwärmende Tochter und noch mehr der phantastische Theaterdichter Theudobach, in welchem R. die Helden seiner früheren empfindsamen Romane und sich selbst ironisch carikirte, sowie der schmeichlerische, hämische, feige Windbeutel Strykius. Alle diese Charaktere sind anschaulich in allen großen [479] und kleinen Zügen geschildert, die ganze Erzählung spannend ohne übermäßige Umschweife entwickelt, durchweg mit bewegter Handlung erfüllt und nach allen Seiten glücklich abgerundet und abgeschlossen.

Dem „Katzenberger“ gab R. als Anhang eine „Auswahl verbesserter Werkchen“ bei, mehrere kleine Aufsätze und Recensionen, die zuerst in Zeitschriften erschienen und zum Theil 1804 von einem Jenaer Buchhändler ohne Wissen des Verfassers als dessen „Kleine Schriften“ gesammelt worden waren. Die meisten dieser Schriften sind Ausgeburten eines satirisch-kühnen, zugleich rücksichtslos phantastischen Humors; aber daneben kommt auch der Ernst zu seinem Rechte, so in der Vision „Die Vernichtung“ aus dem April 1796, in dem edlen, begeisterten Nachruf auf Charlotte Corday aus dem Ende des Jahres 1799, in der Lobpreisung Luthers und Schillers in der 1805 geschriebenen Satire „Wünsche für Luthers Denkmal von Musurus“. Eine Reihe anderer kleinere Aufsätze aus Zeitschriften sammelte R. 1810 zum ersten Bande der „Herbst-Blumine“, dem sich noch zwei Bände 1815 und 1820 sowie 1814 unter dem Titel „Museum“ die im „Frankfurter Museum“ veröffentlichten Aufsätze und 1825 die zwei Bände der „Kleinen Bücherschau“ anschlossen. Phantasie und Humor, Empfindsamkeit und Satire waren auch die Wesenseigenschaften dieser kleinen Abhandlungen oder Erzählungen, deren Stoffe alle erdenklichen Personen und Verhältnisse des wirklichen oder eines erträumten Lebens bildeten. R. erörterte in ihnen die bedeutendsten Fragen der Philosophie und der Sittenlehre ebensowohl, wie er etwa eine Anzahl „goldener Wetterregeln“ als Ergebniß seiner langjährigen Wetterbeobachtungen darin mittheilte. Er untersuchte, an Schelling, Mesmer, Schubert und andere verwandte Denker anknüpfend, die Wundererscheinungen des Magnetismus, das Traumleben, überhaupt die Nachtseiten der Naturwissenschaft, forschte mit gleicher Vorliebe dem Wachsthum des menschlichen Lebens vor der Geburt nach und wollte die Frage nach dem Entstehen der ersten Pflanzen, Thiere und Menschen in einer gegen die Entwicklungstheorie Darwins entschieden ankämpfenden Weise lösen. Er lieferte unter anderm in den „Erinnerungen aus den schönsten Stunden für die letzten“ (1815) eine seiner rührendsten und liebenswürdigsten, dabei stilistisch einfachsten und anmuthigsten Geschichten und schuf zur gleichen Zeit in dem armen, hypochondrischen Rector Seemaus eine seiner ergreifendsten humoristischen Gestalten. Er trat in Vorreden und namentlich in Recensionen, die er unter dem Pseudonym Frip für die „Heidelberger Jahrbücher“ schrieb, für die dichterischen wie für die wissenschaftlichen Bestrebungen der Romantiker ein. Mit mehreren Mitgliedern der neuen Schule, besonders mit Tieck, war er persönlich befreundet, E. T. A. Hoffmann führte er in die Litteratur ein, für Oehlenschläger und Fouqué hatte er Worte ungetheilter Bewunderung. Auf das eifrigste unterstützte er die ästhetischen, sprachlichen und litterargeschichtlichen Arbeiten, die durch die Romantiker in Deutschland angeregt wurden; er begeisterte sich warm für die Erforschung des deutschen Alterthums, für deutsche Sprachreinigkeit und Sprachrichtigkeit. Die rechtlichen Zustände in der litterarischen Welt Deutschlands beleuchtete er durch seine „Sieben letzten oder Nachworte gegen den Nachdruck“ (1815). Er lieferte ferner gelegentlich Nachlesen zu seinen früheren größeren Werken; so fügte er der „Kleinen Bücherschau“ 1825 die „Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule“ bei. Vor allem aber nahm er an den wichtigsten Ereignissen der Zeitgeschichte stets den lebhaftesten Antheil und erwies in zahlreichen, halb politischen, halb poetischen Aufsätzen seine treue vaterländische Gesinnung. Er verfolgte mit vertrauensvoller Begeisterung den Kampf seines Volkes gegen den corsischen Unterdrücker; aber er hielt auch seinem befreiten Vaterland im Mai 1814 die Pflichten vor, welche der Sieg ihm auferlege, daß nämlich in den Fürsten und ihren Landeskindern „das wechselseitige [480] Unglück der Entbehrung und das wechselseitige Erkennen des gereiften Werthes zu einem neuen Lieben, einem edlen Herrschen und Dienen aus einander blühen werde …, daß das Abstoßen zwischen Wehr-, Lehr-, und Nährstand nun, seitdem auf dem Schlachtfelde die Herzen aller Stände Eine Brust dem Feinde und dem Tode entgegenpflanzten, in ein gemeinschaftliches Anziehen zu der Vaterlandsliebe übergehen werde, und daß alles besser und die Menschheit mehr werden werde“. Dieselben Anschauungen offenbarte er auch in seinen selbständig gedruckten politischen Schriften aus jener Zeit, so in der scherzhaften Flugschrift „Mars’ und Phöbus’ Thronwechsel im J. 1814“ (Tübingen 1814) und in den „Politischen Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche“ (Stuttgart und Tübingen 1817), die zum größten Theil aus älteren Aufsätzen der Jahre 1810 bis 1812 zusammengesetzt waren. Auch durch diese ältern Aufsätze ging ein Zug von Hoffnung; zugleich aber ermahnten sie Deutschlands Volk und Fürsten, zur Klärung der gährenden Elemente im deutschen Geistes- und Sittenleben redlich beizutragen. Andere dieser Aufsätze wandten sich mit treffenden, scharf satirischem Humor gegen die deutsche Kleinstaaterei mit ihrem verschwenderischen Reichthum an Titeln, Orden, Ehrenstellen oder ihrem praktisch werthlosen Soldatenspiel nach größern Mustern, so namentlich die Erzählung „Mein Aufenthalt in der Nepomukskirche während der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen“ (1810) voll derber, phantastisch ausgelassener Komik und die Groteske „Die Doppelheerschau in Großlausau und in Kauzen, sammt Feldzügen“ (1811).

Diesen überall mit scharfer Satire gewürzten Humoresken schloß sich das 1806–1811 geschriebene „Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel“ (Nürnberg 1812) an, die humoristische, jedoch von der Satire mehr zur Idylle sich neigende Biographie eines gutmüthigen, harm- und arglosen Menschen, der ein Abcbuch verfertigt und darüber in seinem Streben nach Ruhm, worin ihn pfiffigere Gesellen zu selbstsüchtigen Zwecken bestärkten, beinahe verrückt wird. Seine Lebensgeschichte, die R. ohne die früher unvermeidlichen Seitensprünge und Abschweifungen, nur etwas breit und besonders in ihrer zweiten Hälfte weniger fesselnd erzählte, zeugte in der Schilderung der donquixotenhaften Träumereien Fibels von der Selbstironie, mit welcher ihr Verfasser das gefährliche Ueberwuchern der Phantasie geißelte. In den poetisch rein empfundenen Idyllen am Anfang und am Schluß des Buches, welche zur Zeit des nationalen Elends lehrten, daß wahres Glück und wahrer Frieden nur in der Beschränkung, fern vom großen Treiben der Welt, in der Familie zu finden sei, erinnerte sie an die verwandten Darstellungen im „Wuz“, im „Quintus Fixlein“ und in den übrigen früheren Romanen Jean Paul’s.

Die eignen häuslichen Verhältnisse des Dichters hatten sich jetzt behaglicher gestaltet, besonders durch die Gunst des Fürsten Primas Karl von Dalberg, der ihn auf sein Ansuchen (1808) zum Mitgliede der Frankfurter Akademie mit einer jährlichen Pension von tausend Gulden ernannte. Das bald darauf folgende Anbieten Dalberg’s, mit einem weiteren Jahresgehalte von tausend Gulden als Professor der Aesthetik an der höheren Schule in Aschaffenburg zu wirken, lehnte R. ab, weil er sich für ein solches, seine schriftstellerische Freiheit stark verkürzendes Lehramt nicht geeignet glaubte. Nach Dalberg’s Abdankung drohte ihm eine Zeit lang der völlige Verlust der beträchtlichen Pension; aber nachdem er vergeblich bei mehreren andern Fürsten Ersatz dafür gesucht hatte, trat endlich der König von Baiern in Dalberg’s Verpflichtungen gegen den Dichter ein. Von Bayreuth mochte dieser sich nun auf die Dauer nicht mehr trennen; wohl aber trieb es ihn jetzt wieder öfters auf einige Tage oder Wochen in die Ferne hinaus, und so unternahm er wieder regelmäßig kleine Reisen, 1811 nach Erlangen, 1812 nach Nürnberg, wo er Friedrich Heinrich Jacobi [481] endlich persönlich kennen lernte, 1816 nach Regensburg, wo Dalberg seit seiner Entthronung wohnte, 1817 nach Heidelberg. Professoren und Studenten, Männer und Frauen, vor allem Heinrich Voß, Hegel, Creuzer, Paulus, überhäuften hier den Gast mit Beweisen ihrer Achtung und Liebe; die Universität ernannte ihn zum Ehrendoctor der Philosophie. Kleine, nicht weniger fröhliche Ausflüge mit den Freunden nach Mannheim, Wiesbaden und rheinabwärts bis Bingen unterbrachen die Festwochen, die in der Seele des Gefeierten solches Entzücken zurückließen, daß er schon 1818 zu den badischen Freunden zurückkehrte. Aber der ehrenvolle Empfang unterwegs in Frankfurt und die Wiederholung aller Auszeichnungen in Heidelberg, wo er jedoch diesmal alle Ehren gemeinschaftlich mit seinem ebenfalls gerade anwesenden litterarischen Gegner August Wilhelm Schlegel hinnehmen mußte, ermüdete ihn und ließ ihm keinen so ungetrübt frohen Eindruck zurück wie das Jahr zuvor, als das alles neu gewesen war. Im Sommer 1819 reiste er, wieder von Hoch und Niedrig mit Verehrung überhäuft, nach Stuttgart, im Herbst desselben Jahres nach Löbichau bei Altenburg, dem Landsitz der Herzogin Dorothea von Kurland, die einen auserlesenen Kreis geistvoller Männer und Frauen um sich versammelt hatte. Jean Paul fand hier Tiedge, Elise von der Recke, Anselm v. Feuerbach mit seinem Sohne, Thümmel, Marheineke und andre ihn ungemein anziehende Schriftsteller und Gelehrte, er zählte diese Tage zu den schönsten seines Lebens. Im Frühling 1820 wanderte er nach München, wo sein Sohn Max seit einem halben Jahre am Lyceum studirte. Trotzdem er am Hofe und in der Gelehrtenwelt die wohlwollendste und auszeichnendste Aufnahme fand, behagte es ihm hier wenig; die dringende Aufforderung, eine Stelle in der Akademie mit tausend bis fünfzehnhundert Gulden Gehalt anzunehmen und hieher zu ziehen, lehnte er schon wegen der „abscheulichen Gegend von München“ ab. Die bairische Residenz verlor für ihn die letzte Anziehungskraft, als im Herbst 1820 sein Sohn die Universität Heidelberg bezog. Hier gerieth der glänzend begabte, von unersättlichem Wissensdurst getriebene Jüngling durch das Studium der Hegel’schen Philosophie und einer unter romantischen Einflüssen ausgebildeten mystisch-asketischen Richtung der Theologie in aufreibende religiöse Zweifel, die seine Lebenskraft unterwühlten. Während der Herbstferien 1821 erlag er am 25. September im Elternhaus einem Nervenfieber; seinen Verlust verschmerzte der alternde Vater niemals. Eine Reise nach Dresden im Frühling 1822, auf der er nur Heitres und Freudiges erlebte, entriß ihn doch nur auf kurze Zeit seiner Trauer; auf’s neue erweckte diese der plötzliche Tod seines Freundes Voß im October 1822. Jetzt griffen aber auch ihn selbst körperliche Leiden und Gebrechen an. Den Wein, den er bisher nebst dem Bier und andern erregenden Getränken zur Belebung seiner geistigen Thätigkeit während der Arbeit gern genossen hatte, vertrug er nicht mehr; dazu begannen seine beiden Augen zu erblinden. Mannigfache, oft falsche oder nicht folgerichtig durchgeführte Heilversuche, besonders drei Reisen nach Nürnberg, die er in den drei folgenden Jahren mitunter zur ungünstigsten Jahreszeit unternahm, verschlimmerten noch das Uebel. Endlich trat die Wassersucht dazu und setzte seinem Leben am Abend des 14. November 1825 ein immerhin frühes Ende.

Er selbst hatte seinen Tod nicht so nahe geglaubt. Er war unablässig bis in seine letzten Tage mit der Vollendung älterer Schriften, den Vorbereitungen zu einer Ausgabe seiner sämmtlichen Werke, die dann seit 1826 erschien, und den Plänen zu neuen Arbeiten beschäftigt. So hatte er unter anderm 1820 die schon 1818 im „Morgenblatt“ gedruckten zwölf Briefe „Ueber die deutschen Doppelwörter“ zusammen mit zwölf neuen Postscripten selbständig veröffentlicht, eine grammatische Untersuchung, in welcher er mit warmer Liebe zu seiner Sprache [482] und reichen, wenn auch meist dilettantenhaften Kenntnissen in ihr vornehmlich gegen die Einschiebung eines s in zusammengesetzten Wörtern (Geburtstag, Wahrheitsliebe statt Geburttag, Wahrheitliebe u. s. w.) kämpfte. Auch der Widerspruch berufener Fachmänner, die er auf’s höchste verehrte, eines Jacob Grimm, Docen, Friedrich Thiersch, brachte ihn von seiner grammatischen Grille nicht ab; vielmehr führte er sie mit strenger Consequenz in allen seinen späteren Schriften und neuen Ausgaben seiner älteren Werke durch.

Gleichzeitig mit diesen Briefen und Postscripten verfaßte er 1818 den Anfang einer Selbstbiographie, die er seit 1806 bereits plante und nun auf das dringende Zureden vieler Freunde und Freundinnen endlich in Angriff nahm. Aber die bloße Erzählung geschichtlicher Thatsachen, ohne daß er dabei etwas zu erdichten hatte und ohne daß er dem Scherz und der Empfindung überall freien Lauf lassen durfte, ermüdete ihn: er vollendete nur die Geschichte seiner Kinderjahre bis zum ersten Genuß des heiligen Abendmahls. Ganz ließ er auch in dieser an idyllischen Schönheiten reichen Darstellung den Humor und die Empfindung nicht beiseite; aber sein Streben nach strenger Wahrheit deutete er schon durch die Wahl des Titels an, der absichtlich einen gewissen Gegensatz zu der Ueberschrift des gleichartigen Werkes von Goethe bekundete, „Wahrheit aus Jean Pauls Leben“. Erst nach seinem Tode (1826) erschien dieses Bruchstück, das Christian Otto und Ernst Förster, der Schwiegersohn Richter’s bis 1833 durch weitere sieben Bände, großentheils Briefe und Tagebuchstellen des Verstorbenen, ergänzten. Statt der im Januar 1819 abgebrochenen rein geschichtlichen Arbeit griff R. einen älteren dichterischen Versuch wieder auf, in welchen er einen Theil seiner autobiographischen Bekenntnisse zu verweben gedachte, den 1811 begonnen, 1820–22 in drei Bänden zu Berlin gedruckten Roman „Der Komet oder Nikolaus Marggraf“. Wieder wie in seinen ersten großen Romanen lieferte er hier ein Werk von beispielloser humoristischer Willkür und phantastischer Zerfahrenheit, voll Abschweifungen und subjectiven Einfällen aller Art. Wieder kümmerte er sich um einen geordneten, kunstvollen Aufbau und eine klare, folgerichtige Entwicklung der Handlung viel zu wenig; dagegen leistete er in der Ausgestaltung der einzelnen Charaktere und Scenen Bewundernswürdiges. Er schilderte seinen Helden, den Apotheker Nikolaus Marggraf, als einen die Welt durchziehenden Don Quixote, den das Bewußtsein seiner fürstlichen Abkunft, seine Erfindung der Kunst Diamanten zu verfertigen und seine weltbeglückenden Ideen halb verrückt gemacht haben, und kämpfte so auf’s neue gegen alles Ueberwuchern der ungezügelten Phantasie und Empfindsamkeit an. Seine Geschichte streift überall an die Allegorie, ihre Figuren an die Caricatur an; aber im einzelnen durchaus anschaulich und realistisch, hält sie sich von der Sentimentalität und Transcendenz der früheren Romane Jean Paul’s durchweg fern. Einen reinen Kunstgenuß vermag sie trotz allem Reichthum an geistigem Gehalt nicht zu gewähren; worauf sie äußerlich abzielt, ist kaum zu ersehen, da sie unvollendet blieb. Noch in seinen letzten Jahren häufte der Dichter allerlei Studien zur Fortsetzung des Romans auf.

In ähnlicher Weise sammelte und ordnete er jetzt den seit dreißig Jahren aufgespeicherten reichhaltigen Stoff zu seinem „letzten Werke“, dem „Papierdrachen“, allerlei bald nur flüchtig skizzirte, bald breit ausgeführte Gedanken, Empfindungen, dichterische, satirische, witzige, humoristische Einfälle, philosophische, ästhetische, religiöse, politische Bemerkungen, von Ernst Förster erst 1845 aus dem Nachlaß des längst Entschlafenen in zwei Bänden herausgegeben. Hier traten auch zuerst die Fragmente „Wider das Ueberchristenthum“ an das Tageslicht, in welchen der alternde Dichter, an Lessing und an den Heidelberger Freund Paulus anknüpfend, als ein kühner Vertheidiger der religiösen Freiheit [483] und des geistigen Fortschritts gegen den entnervenden und knechtenden Pietismus der spätern Romantiker zu Felde zog. Mit besonderer Liebe arbeitete er in diesen letzten Jahren außerdem an einem Buche über „Die Kunst stets heiter zu sein“ und an dem erst 1827 in zwei Bänden herausgegebenen Werke „Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele“. Der Tod seines Sohnes, der bald nach Jacobi’s kurz vor Vossens Hingang ihn erschütterte, hatte ihn zu dieser ganz ernsten, jedes Humors baaren, äußeren Fortsetzung des „Kampanerthals“ angeregt. Eine ziemlich dürftige, schwach bewegte Handlung, deren Träger dieselben Personen wie in jener älteren Geschichte waren, diente wieder wie dort fast nur als Rahmen für Gespräche, in welchen R. alle erdenklichen Beweise und Scheinbeweise für die Unsterblichkeit anhäufte und gegen etwaige Einwände vertheidigte. Von den Gründen, mit denen die geoffenbarte Religion den Glauben an die persönliche Fortdauer des Menschen nach dem Tode stützt, hielt er sich absichtlich dabei ferner, ja er kämpfte sogar gegen gewisse herkömmliche Beweise der christlichen Theologen erfolgreich an; er suchte seine Ueberzeugung mehr durch allgemeine philosophische Schlüsse, die er bald der Naturwissenschaft, bald der Psychologie, bald der Ethik entnahm, zu begründen. Statt unumstößlichen Beweisen lieferte er freilich oft nur Vermuthungen, Wünsche, Hoffnungen, Phantasien; sein Geist schweifte aber dabei forschend und lehrend durch das unermeßliche Reich aller Welten und spendete denen, die ihm zu folgen vermochten, Gedanken und Anschauungen von einer bei R. früher kaum geahnten Erhabenheit in verschwenderischer Fülle. Dem unvollendeten, in seinen ersten Abschnitten aber mehrfach überarbeiteten Werke fügte der Herausgeber Otto eine große Anzahl Aphorismen verwandten Inhalts aus dem handschriftlichen Nachlasse seines Freundes bei.

Viele weitere Aphorismen aller Art haben Jean Paul’s Freunde und Verehrer an verschiedenen Orten veröffentlicht, 1832 in den „Politischen Nachklängen“, 1845 im „Papierdrachen“ und sonst. Unter diesen abgerissenen Gedanken ragen besonders die Regeln hervor, die R. immer wieder für sich selbst, für sein Leben oder sein schriftstellerisches Wirken niederschrieb, so bereits als Jüngling 1784 in seinem „Andachtsbüchlein“, dann namentlich seit 1812 in seiner „Via recti“. Wie er hierdurch sein sittliches Handeln fast pedantisch streng überwachte, so war ihm überhaupt in seinem täglichen Thun eine genaue Regelmäßigkeit eigen. Sein Leben floß so nach Ablauf der stürmischen Lehr- und Wanderjahre in einfachen, bürgerlich-herkömmlichen und ebenmäßigen Geleisen hin, ohne jedoch in eigentlich spießbürgerliche Unfreiheit und Kleinlichkeit auszumünden. Die freundliche Milde und Heiterkeit seines Wesens, seine thätige Hilfsbereitschaft und seine warme Theilnahme an allem, was rings um ihn vorging, gewann ihm die Liebe seiner Mitbürger, die manche seiner Eigenheiten mißtrauisch betrachteten und allzu nüchtern beurtheilten, und die herzliche Zuneigung der zahlreichen Bewunderer seiner Schriften, die Jahr für Jahr verehrungsvoll ihn in Bayreuth besuchten. Sein menschlich liebenswürdiger sittlich reiner, wenn auch oft derber Charakter und sein unablässiges, echtes Streben nach den höchsten Idealen der Menschheit war auch aus allen seinen Schriften ersichtlich, auch aus denen, in welchen er mit grobem Cynismus oder tollem satirischem Humor scheinbar nur die engen Verhältnisse der Kleinstaaterei oder des ärmlichen kleinbürgerlichen Familienlebens in Deutschland schilderte. Für König Friedrich II. fand er gelegentlich einmal Worte ungeteilter Hochachtung; aber das größere, wirklich lebendige Treiben in einem der mächtigeren, frischer zu hohen Zielen emporstrebenden Staaten Europas wählte er nirgends zum Hintergrunde seiner Romane. Mit scharfem Auge betrachtete er die Zustände, die er darstellen wollte, bis auf alle Einzelheiten; aber nicht selten hinderte ihn die ungeordnete Fülle dieser Einzelbeobachtungen [484] zusammen mit dem ungeordneten Reichthum seiner Gelehrsamkeit, mit dem bunten Vorrath seiner humoristischen, ironischen, satirischen, moralischen Einfälle, den er überall nach willkürlichem Belieben ausstreute, eine klar und sicher sich entwickelnde Erzählung mit anschaulichen Charakteren und spannenden Situationen in munteren Fluß zu bringen. Seine komische Kraft, seine Innigkeit des Empfindens, seine Stärke der dichterischen Erfindung war groß; aber seine an eigentlichen Ausdrücken arme, an Bildern und Gleichnissen, die oft zerfließen, und besonders an Wiederholungen und Tautologien überreiche Sprache, die alles, auch das fest Ruhende und Leblose, bewegt, beseelt und personificirt, sein unendlich verschlungener, wenig übersichtlicher Periodenbau, seine zahllosen übertrieben subjectiven Zwischenbemerkungen, seine vielen Geschmacklosigkeiten und plötzlichen Veränderungen der Stimmung, kurz seine ganze humoristische Stil- und Formlosigkeit hat der künstlerischen Wirkung seiner Schriften von jeher schweren Eintrag gethan. Der Einfluß seiner Manier freilich erstreckte sich nicht nur auf mehrere der gleichzeitigen Romantiker, namentliche E. T. A. Hoffmann, sondern auch gelegentlich selbst, wenn gleich äußerst maßvoll, auf Goethe, besonders aber auf die meisten Feuilletonisten und Journalisten von Ludwig Börne an bis zu unsern Tagen, auf verschiedene deutsche Dichter, welche der orientalischen Richtung in unserer Litteratur folgten, und auf die mannichfachen späteren Humoristen und Romanschriftsteller unseres Volkes. –

Panegyrische Worte wärmster Begeisterung und Liebe rief dem Geschiedenen Ludwig Börne in seiner Denkrede auf Jean Paul Friedrich Richter (im Morgenblatt 1825, dann im Sonderdruck zu Erlangen 1826) nach. Dann folgte die Herausgabe der „Wahrheit aus Jean Paul’s Leben“ (1826–33), ferner namentlich seine Briefe an Friedrich Heinrich Jacobi (Berlin 1828), sein Briefwechsel mit Christian Otto (4 Bde., Berlin 1829–33), mit Heinrich Voß (Heidelberg 1833), mit Emanuel Osmund, Friedrich v. Oertel, Paul Thieriot, mit seiner Frau und verschiednen Freunden und Freundinnen in den „Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter, herausgegeben von Ernst Förster“ (4 Bde., München 1863), mit Charlotte v. Kalb (herausgegeben von Paul Nerrlich, Berlin 1882). Die Reihe der größeren Biographien eröffnete Heinrich Döring nach einem ersten Versuch (Gotha 1826) mit „Jean Paul Friedrich Richter’s Leben und Charakteristik“ (2 Bde. Leipzig 1830–32), einem durchweg aus Briefen und früheren gelegentlichen Mittheilungen anderer ohne jedes eigne Urtheil und besonders ohne eigne Geistesarbeit geschöpften, fabrikmäßig zusammengeschriebenen Buche. Unvergleichlich höher steht der von Richard Otto Spazier, dem Neffen des Dichters, verfaßte „Biographische Commentar zu den Werken Jean Paul Friedrich Richter’s“ (5 Bde., Leipzig 1833), eine sorgfältige, liebevoll eingehende Darstellung seines Lebens und Schaffens, durchaus von selbständiger und verständnißvoller Auffassung seiner Werke zeugend. Persönliche Erinnerungen an Jean Paul zusammen mit mehreren Briefen und einem kleinen Aufsatze desselben (aus dem Nachlaß Böttiger’s) nebst einer allgemeinen Charakteristik seiner schriftstellerischen Thätigkeit veröffentlichte Z. Funck im dritten Bande der „Erinnerungen aus meinem Leben in biographischen Denksteinen und anderen Mittheilungen“ (Schleusingen 1839). In übersichtlich zusammenfassender und dabei das Wesentliche der Lebensgeschichte doch erschöpfender Weise ergänzte Ernst Förster im letzten Bande der dritten Ausgabe von Jean Paul’s sämmtlichen Werken dessen Bruchstück seiner Autobiographie (Berlin 1862). Waltete in allen diesen Arbeiten eine begreifliche Voreingenommenheit für Richter, so betrachtete K. Ch. Planck den Schriftsteller mit mehr Objectivität in seiner [485] litterar- und culturgeschichtlich trefflichen Charakteristik von „Jean Pauls Dichtung im Lichte unserer nationalen Entwicklung“ (Berlin 1867). Endlich lieferte Paul Nerrlich nach seinem aufschlußreichen Buche „Jean Paul und seine Zeitgenossen“ (Berlin 1876) in der Einleitung zu seiner Auswahl von Jean Paul’s Werken (in Joseph Kürschner’s Deutscher Nationallitteratur, Bd. 130–34) eine bei aller Kürze den jetzigen Anforderungen der litterar-geschichtlichen Forschung vorzüglich entsprechende Uebersicht über Richter’s Leben und Dichten.