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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Herbsttage am Königssee.

Von Wilhelm Goldbaum.

Die Tage werden kürzer, die Touristenbesuche spärlicher, und nicht mehr wie in den Erntetagen der Saison steht der Schiffmeister an der Lände, um das Gedränge der Wallfahrer, die nach dem herrlichen Sankt Bartholomä steuern wollen, zu zertheilen. Lange währt es nimmer, und alle Thüren und Läden in dem Dorfe Königssee sind fest verschlossen, die Ruderknechte auf den Almen zerstreut, die schmucken Kähne zur Ueberwinterung in die dumpfen Schiffshütten geborgen. O du wonnige Sommerszeit, wo bist du geblieben! Es war kein sonderliches Vergnügen, den großstädtisch verwöhnten Magen mit der urwüchsigen Kost der Köche von Königssee zu laben, es war ein zweifelhaftes Ergötzen, das mörderisch verstimmte Klavier des Schiffmeisters – das einzige im Orte – wimmern und ächzen zu hören; aber was bedeutete all dies kleine Menschenleid im Vergleiche mit den hundert Herrlichkeiten, welche, täglich erneut, dieser wahre König unter den deutschen Alpenseen zu verschenken hatte! Der König unter den Seen – hat er seinen Namen von seiner eigenen Majestät oder davon, daß er dem Könige gehört? Gleichviel, wenn ich Musterung halte über die übrigen Seen im deutschen und österreichischen Alpengebiete, wenn ich an den Traunsee denke mit seinen flachen Nord- und seinen düster zerrissenen Südufern, an den Attersee, der fast wie ein Binnenmeer sich in die Ebene hinausdehnt, an das Miniaturpanorama des Hallstätter Sees, an Starnberg mit seinem unruhigen Billensaum und an den unbestimmten Charakter des Achensees, so dünkt es mich, daß der See im Berchtesgadener Lande gar nicht anders heißen könnte, als er heißt – der König über sie alle in seiner starren, unzugänglichen, fast beklemmenden Hoheit. Du hörst nicht den lästigen Pfiff der Lokomotive, kein Dampfschiff wühlt dreist den durchsichtig grünen Wasserspiegel auf – die Fische haben Ruhe und die Menschen auch vor den Danaergeschenken der Kultur, an denen sich unsere armen Nerven zu schanden leben. Ein ferner Schuß, ein hallender Jodler – das ist Alles, was dieser Königssee in seiner Nähe duldet, und zürnen kann er, daß du im Innern erbebst. Wenn es ihm zuviel wird der lachenden Touristenschwärme, dann verfinstert er sich, die Wellen schlagen wild an den Wänden empor, und weithin versagen die steilen Ufer dem geängstigten Schiffer die rettende Landung. An der Falkenstein- und an der Hachelwand, über dem Rentamtsloche siehst du in deiner Noth die zahlreichen „Marterln“,. Kreuze und Muttergottesbilder, schreckliche Gedenkzeichen an den Untergang unglückseliger Menschenkinder, welche von der Fluth verschlungen.

Königssee.
Aus dem Prachtwerke „Wanderungen im Bayerischen Gebirge und Salzkammergut“.

Mich hat tiefe Wehmuth angefaßt, als ich die Inschrift las, mit welcher Karl Stieler sich in das felsige Fremdenbuch des Königssees eingeschrieben. In die Steinwand grub er die Worte: „Weihnachten 1879“. Seitdem sind sechs kurze Jahre verflossen, und der Dichter ist todt. Damals – im Winter 1879 – war der mächtige Seespiegel eine einzige große Eisfläche, über welche die Holzknechte und die „Jagersleut“ ungefährdet dahinschritten. Der blonde Poet des Bayerlandes war unter ihnen schier wie ein Gleicher. Wie schnell solch ein Dichterleben erglüht und verlischt! Die Leute am Königssee wissen nichts von ihm und seinen Liedern; nur der Fels am Ufer bewahrt sein Andenken. Und weiter hinaus, über dem „Kessel“ tief im Waldesdickicht, steht ein armseliges hölzernes Blockhaus; darin hat bisweilen König Ludwig I. eine Nacht verbracht, um ungestört – zu dichten, wie er es eben vermochte. Auch heute noch pilgern phantasievolle Dichter in die einsame Ruhe dieser steinernen Romantik; Richard Voß hat sich unfern des Sees eine Villa in merkwürdig abenteuerlichem Stile erbaut, und Ludwig Ganghofer knallte heuer lustig auf Wildenten und Gemsen, wenn der „Edelweißkönig“, den er den Lesern der „Gartenlaube“ vorzustellen gedachte, ihn aus seinen arbeitsvollen Audienzen entließ. So kommt die Kunst alleweil als Gast zur Natur, und sie profitirt dabei mehr, als sie einzugestehen bereit ist.

Doch mit Verlaub, es ist nicht Jedermanns Sache, sich vom Watzmann oder vom Funtenseetauern zu dichterischem oder künstlerischem Schaffen anregen zu lassen. Wer kein leidenschaftlicher Bergsteiger ist und sich begnügt, auch unterhalb der Schneelinie die Welt noch schön zu finden, dem wird der Anblick des schauerlich ernsten Funtensees in der Höhe von 5000 Fuß nicht zu Theil, und die zweifelhafte Heldenthat, über das Steinerne Meer und durch die „Saugasse“ gekommen zu sein, bleibt ihm versagt. Wunderliche Gesellen, die im Lodenrock, mit nackten Knieen und mit dem Rucksack auf der Achsel an den Felsen hinanklettern, nur um sich rühmen zu können, daß der Großglockner für sie ein Spielzeug sei! Zur Gotzenalm, zum Roint, zum Jenner empor führen auch Gottes Wege, und herrliche Almen, dralle Sennerinnen, Gemsen in schwerer Menge findet man auch auf ihnen, der Fernblick aber ist von mittleren Bergen zumeist schöner und umfassender als von den Schneescheiteln der Riesen, die alle möglichen Hindernisse um sich her aufthürmen, damit die vorwitzigen Menschen sie nicht in ihrer Ruhe stören.

Ich habe den See viel Dutzendmal befahren, am frühen Morgen und bei leuchtendem Mondenschein, in brennender Mittagsgluth und wenn die Abenddämmerung herniederkam, aber niemals wandelte mich die Lust an, es den Gemsen gleichzuthun, die da droben ihre halsbrecherischen Galopaden über das bröckelnde Gestein machten. Mir war’s genug, nordwärts den sagenreichen Untersberg mit seinen wilden Zacken, südwärts die mächtige Schönfeldspitze vor Augen zu haben, wie sie, als hätte sie der Herrgott zu Wächtern bestellt, über den Seekessel daherlugen. Und wenn es denn schon sein mußte, so ließ ich mir von den Schifferleuten berichten über die grausen Abenteuer verirrter Forstgehilfen und eingeschneiter Holzknechte, über Lust und Leid der Liebe auf den Almen, wobei freilich zumeist das aus der Ferne so poetische Bergvolk recht realistische Züge offenbarte.

Es ist mißlich, ins Philosophiren zu gerathen, wenn das Auge, von zahllosen entzückenden Eindrücken ermüdet, die Herrschaft an den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 770. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_770.jpg&oldid=- (Version vom 24.2.2023)