„Lebensraum im Osten“ – Versionsunterschied
[gesichtete Version] | [gesichtete Version] |
→Programmatik: +ins verhältnis zum forschungsstand gesetzt Markierung: Zurückgesetzt |
Phi (Diskussion | Beiträge) Markierung: Rückgängigmachung |
||
Zeile 34: | Zeile 34: | ||
Maßgebend für diese Idee war, ausgehend von der [[Rassenideologie]], Hitlers Glaube an eine überlegene [[Herrenrasse]] und an „[[Untermensch]]en“, zu denen er auch die [[Slawen]] zählte.<ref>Uffa Jensen: ''Lebensraum''. In: In: [[Wolfgang Benz]], [[Hermann Graml]] und [[Hermann Weiß (Historiker)|Hermann Weiß]] (Hrsg.): ''[[Enzyklopädie des Nationalsozialismus]].'' Klett-Cotta, Stuttgart 1997, S. 565.</ref> |
Maßgebend für diese Idee war, ausgehend von der [[Rassenideologie]], Hitlers Glaube an eine überlegene [[Herrenrasse]] und an „[[Untermensch]]en“, zu denen er auch die [[Slawen]] zählte.<ref>Uffa Jensen: ''Lebensraum''. In: In: [[Wolfgang Benz]], [[Hermann Graml]] und [[Hermann Weiß (Historiker)|Hermann Weiß]] (Hrsg.): ''[[Enzyklopädie des Nationalsozialismus]].'' Klett-Cotta, Stuttgart 1997, S. 565.</ref> |
||
Hitlers Biograph [[Brendan Simms]] sieht Hitlers Vorhaben, Lebensraum im Osten zu erobern, als Schlussfolgerung aus der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg: Diese habe sich Hitler nicht zuletzt [[Demografie|demographisch]] mit der deutschen [[Einwanderung in die Vereinigten Staaten|Auswanderung in die USA]] erklärt, die diese gestärkt habe, während Deutschland wertvolle Bevölkerungsgruppen verloren habe. Um künftig gegen die angelsächsischen Mächte bestehen zu können, die Hitler als seinen Hauptfeind angesehen habe, seien für ihn Eroberungen im Osten zwingend erforderlich gewesen: einmal, um angesichts der Erfahrung der [[Seeblockade#Britische Seeblockade in der Nordsee|britischen Seeblockade]] eine [[Autarkie]] zu erreichen, dann aber auch als Auffangbecken für weitere Auswanderung, die so aber dem Deutschen Reich weiter zur Verfügung würde stehen können.<ref>Brendan Simms: ''Against a ‘world of enemies’: the impact of the First World War on the development of Hitler's ideology'' In: ''[[International Affairs]]'' 90 (2014), S. 317–336, hier S. 332 ff.</ref> |
|||
{{Siehe auch|Blut-und-Boden-Ideologie}} |
{{Siehe auch|Blut-und-Boden-Ideologie}} |
Version vom 14. Oktober 2024, 10:23 Uhr
Lebensraum im Osten ist ein politischer Begriff, der mit der „germanischen“ oder „arischen“ Besiedlung von Gebieten außerhalb der deutschen Grenzen, vor allem im (nördlichen) Mittel- und Osteuropa, verbunden ist. Er wurde von der völkischen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich geprägt und im NS-Staat rassenbiologisch interpretiert. Er lieferte den ideologischen Hintergrund für den von Reichsführer SS Heinrich Himmler in Auftrag gegebenen Generalplan Ost, der die Vertreibung und Vernichtung der „rassisch unerwünschten“ Bevölkerung aus den eroberten Gebieten in Mittel- und Osteuropa, ihre „Germanisierung“ und wirtschaftliche Ausbeutung vorsah.
Ideologische Vorläufer des Nationalsozialismus
Deutsches Kaiserreich
Der Zoologe und Geograph Friedrich Ratzel (1844–1904) popularisierte erstmals in seinen wissenschaftlichen Werken Politische Geographie (1897) und Der Lebensraum (1901) den Begriff „Lebensraum“, der in kontinentaler Grenzkolonisation zu erschließen sei.[1] Er übertrug Darwins Theorien vom Überlebenskampf auf die Geographie und verstand Staaten als Lebewesen, die in einem permanenten Kampf um Lebensraum begriffen seien und deren Existenz von dessen Bestehen abhänge (→ Sozialdarwinismus).
Die völkische Bewegung und der Alldeutsche Verband griffen den Terminus auf und benutzten ihn im Zusammenhang mit den Auslandsdeutschen, dem Deutschtum in den Grenzgebieten und der Expansion des deutschen Volkes: Deutsches Land dürfe nicht verloren gehen, und die Neugründung deutscher Siedlungen müsse das Ziel sein. Den etablierten Kolonialgesellschaften in Deutschland standen sie ablehnend gegenüber: Die deutsche Kolonialpolitik sei beinahe ausschließlich von wirtschaftlichen Erwägungen geprägt und stünde unter starkem jüdischem Einfluss. Dagegen müsse es vielmehr um besiedlungsfähigen Raum für eine „alldeutsch und allgermanisch“ orientierte „Siedlungspolitik großen Stils“ gehen. Außereuropäische Kolonien spielten dabei keine große Rolle. Es gehe um „den Osten, der sich an das deutsche Mutterland unmittelbar anschließt. Dorthin weist uns das Schicksal: der Kompaß der Germanen zeigt nach Osten“. Die deutschen Amerikaauswanderer müssten nach Osten umgeleitet und zur Lösung der Sozialen Frage Arbeiter und städtisches Proletariat dort angesiedelt werden. Gängige völkische Vorstellung war ein germanischer Rassestaat auf dem „Volksboden“ Mitteleuropas, besiedelt von deutschen Bauern und Handwerkern, den „Vätern zukünftiger Krieger“. Paul de Lagarde hatte bereits 1875 diese Vision eines deutschen Reiches beschrieben, dessen Grenzlinien „im Westen von Luxemburg bis Belfort, im Osten von Memel bis zum alten Gotenlande am Schwarzen Meer zu gehen, im Süden jedenfalls Triest einzuschließen haben, und das Kleinasien für künftiges Bedürfnis gegen männiglich freihält.“[2]
Während des Ersten Weltkriegs
Weimarer Republik
Auch der Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, der der DNVP nahestand, forderte in einer Botschaft vom 8. Mai 1927 neuen Lebensraum:
„Die wirtschaftliche und soziale Not unseres Volkes ist verursacht durch den Mangel an Lebens- und Arbeitsraum. Der Stahlhelm unterstützt jede Außenpolitik, welche dem Bevölkerungsüberschuß Siedlungs- und Arbeitsgebiete eröffnet und welche die kulturelle, wirtschaftliche und politische Verbindung dieser Gebiete mit dem Kern- und Mutterland lebendig erhält. Der Stahlhelm will nicht, daß das durch seine Not in Verzweiflung getriebene deutsche Volk Beute und Brandherd des Bolschewismus wird.“[3]
Ebenso sprach auch der Reichskanzler Heinrich Brüning auf einer Ministerbesprechung am 8. Juli 1930 bei der Formulierung der Antwortnote auf den Europaplan des französischen Ministerpräsidenten Aristide Briand davon, dass Deutschland ausreichend Lebensraum brauche:
„Seine Voraussetzungen für eine gerechte und dauerhafte Ordnung Europas, in dem Deutschland seinen ausreichenden natürlichen Lebensraum haben müsse, seien klarzulegen. In wirtschaftlicher Hinsicht dürfe man sich auch nicht zu optimistisch äußern und dürfe man nicht unterlassen, die bevorstehenden Schwierigkeiten nachzuweisen. Man müsse bedenken, daß Deutschland weder landwirtschaftlich noch industriell konkurrenzfähig sein würde, sobald die europäischen Zollschranken fallen würden.“[4]
Stark popularisiert wurde die Idee des Lebensraumes durch den 1926 erschienenen Roman Volk ohne Raum von Hans Grimm.
Nationalsozialismus
Programmatik
In seiner von 1924 bis 1926 geschriebenen Schrift Mein Kampf entwickelte Adolf Hitler in einem besonderen Kapitel über Ostorientierung oder Ostpolitik ausführlich seine Lebensraumpläne.[5] Er rief dazu auf, dem deutschen Volk den „ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern“ und bekundete:
„Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“[6]
Dies wollte er erreichen im Bündnis mit Großbritannien, von dem er annahm, es würde Deutschland bei seinem „neuen Germanenzug“ den Rücken freihalten. Um dieses Bündnis zu ermöglichen, müsse man auf Welthandel, Kolonien und eine deutsche Kriegsflotte verzichten.[7]
In seinem zu Lebzeiten unveröffentlichten „zweiten Buch“ sprach Hitler davon, die in den annektierten Gebieten ansässige Bevölkerung kurzerhand zu „entfernen“, um „den dadurch freigewordenen Grund und Boden“ an die eigene Bevölkerung übergeben zu können.
Maßgebend für diese Idee war, ausgehend von der Rassenideologie, Hitlers Glaube an eine überlegene Herrenrasse und an „Untermenschen“, zu denen er auch die Slawen zählte.[8]
Hitlers Biograph Brendan Simms sieht Hitlers Vorhaben, Lebensraum im Osten zu erobern, als Schlussfolgerung aus der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg: Diese habe sich Hitler nicht zuletzt demographisch mit der deutschen Auswanderung in die USA erklärt, die diese gestärkt habe, während Deutschland wertvolle Bevölkerungsgruppen verloren habe. Um künftig gegen die angelsächsischen Mächte bestehen zu können, die Hitler als seinen Hauptfeind angesehen habe, seien für ihn Eroberungen im Osten zwingend erforderlich gewesen: einmal, um angesichts der Erfahrung der britischen Seeblockade eine Autarkie zu erreichen, dann aber auch als Auffangbecken für weitere Auswanderung, die so aber dem Deutschen Reich weiter zur Verfügung würde stehen können.[9]
Verwirklichung
Für die Außenpolitik, die das nationalsozialistische Deutschland nach Hitlers Machtergreifung 1933 trieb, stellten die Lebensraumideologie und die sozialdarwinistische Rassenideologie die beiden Grundpfeiler dar.[10] Das angestrebte Bündnis mit Großbritannien kam freilich nicht zustande, nicht einmal die „freie Hand im Osten“ wollten ihm die Briten trotz wiederholter Anfragen konzedieren. Als Ersatz dafür schloss Hitler am 25. Oktober 1936 mit dem faschistischen Italien die Achse.[11]
Der Überfall auf Polen, mit dem Deutschland am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg begann, war ein erster Schritt zur tatsächlichen Eroberung von Lebensraum im Osten.[12] Große Teile des Landes wie das Wartheland oder Danzig-Westpreußen wurden annektiert, die polnische Bevölkerung wurde ins Generalgouvernement vertrieben, in ihre Häuser zogen Volksdeutsche aus der Sowjetunion oder Südtirol („Heim ins Reich“).
Für die Umsetzung der nationalsozialistischen Besiedlungsvisionen im Generalplan Ost wurden während des Russlandfeldzuges bewusst Vertreibung und Massenmord an der dort lebenden Bevölkerung geplant und betrieben (siehe auch Volksdeutsche Mittelstelle und Umwandererzentralstelle).
Das NS-Regime nutzte den massenhaften Hungertod sowjetischer Kriegsgefangener und russischer Zivilisten, den es durch massenhaften Abtransport von Lebensmitteln und Plünderung durch Soldaten der Wehrmacht herbeiführte, für seine Zwecke (→ Hungerplan, Programm Heinrich). Der Historiker Henning Köhler vertritt die Ansicht, dass es dabei nicht um die Eroberung neuen Lebensraums gegangen sei, denn es habe 1941 keine ausreichende Zahl von Deutschen und Menschen mit angeblich „artverwandtem Blut“ gegeben, die zur Eroberung vorgesehenen Gebiete zu besiedeln. Hitler habe seit Beginn des Weltkriegs auch nicht mehr von Lebensraum im Osten gesprochen.
„Ihm ging es nur noch um die Beherrschung dieser Landmasse und die Versklavung der Bevölkerung. Das eroberte Gebiet war kein Raum für das Leben, sondern für den Tod.“[13]
Hans-Ulrich Wehler dagegen betont, dass die Nationalsozialisten mit Lebensraum durchaus nicht ein Ansiedlungsgebiet „im Sinne einer rückwärtsgewandten Agrarutopie“ meinten. Zwar habe der eroberte Ostraum auch zum Zuchtraum arischer Herrenmenschen werden sollen, in erster Linie sei es aber um Ressourcen, Rohstoffe und Absatzmärkte gegangen. Dadurch sollte Deutschland die im Kampf um die europäische bzw. Welthegemonie nötige Autarkie erlangen, ohne die eigene Bevölkerung, wie es im Ersten Weltkrieg geschehen war, übermäßig belasten zu müssen.[14]
Literatur
- Karl Lange: Der Terminus „Lebensraum“ in Hitlers „Mein Kampf“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Jahrgang 13, 1965, Heft 4, S. 426–437 (online, PDF; 5,61 MB).
- Christoph Kienemann: Der koloniale Blick gen Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871. Paderborn 2018, ISBN 978-3-506-78868-9.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Sven Lindqvist: Durch das Herz der Finsternis. Ein Afrikareisender auf den Spuren des europäischen Völkermords. Campus, Frankfurt/New York 1999, ISBN 3-593-36176-0, S. 191–194. – Zum „Lebensraum“-Konzept der europäischen Kolonialmächte neuerdings: Olivier Le Cour Grandmaison: La République impériale. Politique et racisme d’État. Fayard, Paris 2009, S. 329–352.
- ↑ Zitate des Abschnitts „Die völkische Bewegung“ zitiert nach Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion. WBG, Darmstadt 2001, ISBN 3-534-15052-X.
- ↑ Reinhard Kühnl: Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten. 3. Auflage, Pahl-Rugenstein, Köln 1978, ISBN 3-7609-0305-3, S. 54.
- ↑ Bundesarchiv: Akten der Reichskanzlei, Die Kabinette Brüning I/II. Band 1, Dok. 68; zitiert bei Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949 C.H. Beck Verlag, München 2003, S. 519.
- ↑ Karl Lange, 1965: „Der Terminus 'Lebensraum' in Hitlers Mein Kampf“ (PDF, 12 Seiten; 695 kB)
- ↑ Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel (Hrsg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Institut für Zeitgeschichte München – Berlin, München 2016, Bd. 2, S. 1657.
- ↑ Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel (Hrsg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Institut für Zeitgeschichte München – Berlin, München 2016, Bd. 1, S. 403.
- ↑ Uffa Jensen: Lebensraum. In: In: Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Klett-Cotta, Stuttgart 1997, S. 565.
- ↑ Brendan Simms: Against a ‘world of enemies’: the impact of the First World War on the development of Hitler's ideology In: International Affairs 90 (2014), S. 317–336, hier S. 332 ff.
- ↑ Uffa Jensen: Lebensraum. In: Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Klett-Cotta, Stuttgart 1998, S. 565.
- ↑ Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler. Oldenbourg, München 2008, S. 630.
- ↑ Vor 75 Jahren: Überfall auf Polen. Bundeszentrale für politische Bildung, 29. August 2014.
- ↑ Henning Köhler: Deutschland auf dem Weg zu sich selbst. Eine Jahrhundertgeschichte. Hohenheim-Verlag, Stuttgart 2002, S. 392.
- ↑ Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949 C.H. Beck Verlag, München 2003, S. 691 f., 698 ff. und 714.