Viktorianisches Zeitalter
Als Viktorianisches Zeitalter (auch Viktorianische Epoche, Viktorianische Ära) wird in der britischen Geschichte der lange Zeitabschnitt der Regentschaft Königin Viktorias von 1837 bis 1901 bezeichnet.
Im Viktorianischen Zeitalter befand sich Großbritannien, sowohl wirtschaftlich als auch politisch, auf dem Höhepunkt seiner internationalen Bedeutung. Innenpolitische Reformen gingen mit einer schrittweisen Demokratisierung einher; Parteien, Verwaltungen und Interessenverbände nahmen heutige Strukturen an.
Innenpolitik
Krone
Zum Zeitpunkt des Todes von Wilhelm IV. galt in Hannover – im Gegensatz zu Großbritannien und Irland – nur die männliche Erbfolge, weshalb die Personalunion zwischen beiden Königreichen aufgelöst wurde und Viktoria im Alter von 19 Jahren Wilhelm auf den Thron folgte. 1840 heiratete sie Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, der bereits 1861 starb. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern wurde Viktoria zu einer populären, respektvollen Symbolfigur der Epoche und verkörperte den Glanz des Britischen Imperiums, zumal sie seit 1877 den Titel „Kaiserin von Indien“ trug.
Die Krone behielt noch lange Zeit Einfluss auf die Regierung, war aber nur bei uneindeutigem Wahlausgang in der Lage, ein Ministerium gegen die Mehrheit des Unterhauses im Amt zu halten. Zum letzten Mal geschah dies 1839, als der mit der Regierungsbildung beauftragte Robert Peel bei der Königin in Ungnade fiel und ihr Mentor, Viscount Melbourne, für kurze Zeit das Amt weiterführte. Auch die Außenminister der ersten Jahrhunderthälfte agierten eigenmächtiger als zuvor, oftmals gegen die Interessen der Krone, die gegen die parlamentarische Unterstützung des Ministers machtlos war.
Parteien
Die Gegenspieler im britischen Zweiparteiensystem des 19. Jahrhunderts waren die Tories und die Whigs, die sich an der Macht abwechselten. Ab etwa 1860 nannte man die Torys „Konservative“, während die Whigs Radikale aufnahmen und zu „Liberalen“ wurden. Die Liberalen wurden überwiegend von nonkonformistischen Handwerkern und Kaufleuten aus der Provinz bestimmt, wohingegen bei den Konservativen Anglikaner und Grundbesitzer vorherrschten. Erst gegen Ende des Jahrhunderts kam eine Arbeiterpartei hinzu.
Die Zeit von 1846–67 war von politischer Instabilität mit Minderheitsregierungen und unvorhersehbaren Abstimmungen geprägt, da die Abgeordneten noch vom Willen der Parteiführung unabhängig waren. Zu dieser Zeit formierte sich mit den Peeliten auch eine Splitterpartei der Konservativen. Später sorgten die Whips der Parteien dafür, dass Abgeordnete sich nach der Parteispitze richteten. Eine Neufassung der parlamentarischen Geschäftsordnung 1882 schränkte die Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten weiter ein.
Aufgrund der Wahlrechtsreformen modernisierten sich die Parteien und warben in der breiten Öffentlichkeit um Unterstützung. Ab Ende der 1860er Jahre richteten sie ein organisiertes Netz regionaler Parteibüros ein; charismatische Parteiführer zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Als Gladstone 1861 die Stempelsteuer abschaffte und Zeitungen für jedermann bezahlbar wurden, beeinflussten auch diese stark die öffentliche Meinung.
Premierminister 1837–1901
Demokratisierung
In England verhinderten mehrere Reformen eine Revolution wie in kontinentaleuropäischen Staaten. Führende Politiker lehnten oftmals Demokratiebestrebungen nicht grundsätzlich ab, sondern versuchten, sie in die bereits vorhandenen politischen Institutionen zu lenken. Im Zuge zweier Wahlrechtsreformen während Viktorias Herrschaft und der damit steigenden Zahl der Wahlberechtigten gewann die Volksvertretung, das Unterhaus des Parlaments, an Legitimität. Das Oberhaus war weiterhin in der Lage, weitreichende Gesetzesvorhaben umzustoßen, wenngleich es bereits vorher an Bedeutung eingebüßt hatte.
Die Wahlrechtsreform von 1832 hatte bereits einem Großteil der Mittelschicht, nicht aber den Arbeitern, das Wahlrecht zugesprochen – insgesamt nur einem Dreißigstel der Bevölkerung. Im Gegensatz zu späteren Reformen war sie von hohem öffentlichem Druck begleitet und wurde wohl auch aus Angst vor einem Umsturz verabschiedet. Bestechungen und Gewalt waren weiterhin verbreitete Praktiken bei Wahlen, aber der Einfluss der Krone und des Oberhauses auf die Zusammensetzung des Unterhauses war beschnitten.
Die Mehrheit der Liberalen befürwortete eine Ausweitung des Wahlrechts und schlug 1866 unter Premierminister Russell ein Gesetz vor, das aber im Unterhaus an den Torys und dem konservativen Flügel der Liberalen scheiterte. Auf Verlangen Disraelis brachten die nun gewählten Konservativen unter dem Earl of Derby einen erheblich weitreichenderen Gesetzentwurf als denjenigen der Liberalen ein. Dieses Gesetz von 1867 verdoppelte die Zahl der Wahlberechtigten nahezu, behielt jedoch die Trennung zwischen den zwei Arten von Verwaltungseinheiten, den Countys und Boroughs, bei. Während in den Countys der Besitz oder die Pachtung von Land mit einem Mindestertrag zur Wahl berechtigte, durften in den Boroughs Haushaltsvorstände mit eigenem Haus sowie bestimmte Mieter wählen. Dies schloss Arbeiter aus, die häufig ihre Bleibe wechseln mussten. Die Wahlkreise wurden ebenfalls neu eingeteilt, wobei die Wichtung sich an den jeweiligen Bevölkerungszahlen orientierte. Tatsächlich vergrößerte man allerdings durch die Aufwertung ländlicher Kreise die Unausgewogenheit zwischen Countys und Boroughs.
Mit der Reform von 1867 nahm die Macht der jeweiligen Regierung zu. Nicht nur Radikale, sondern auch Konservative befürworteten nun eine stärkere politische Beteiligung der Arbeiter. 1872 wurden geheime Wahlen eingeführt, womit Wähler vom Druck ihrer Grundherren oder Arbeitgeber unabhängig wurden. Die Wahlrechtsreform von 1884 berechtigte die meisten Haushaltsvorstände mit ständigem Wohnsitz zur Wahl. Wiederum änderte man die Wahlkreise; diesmal fielen die Unterschiede zwischen Countys und Boroughs weg. Abgeordnete mit landwirtschaftlichen Anliegen gerieten zugunsten der nunmehr wesentlich einflussreicheren Industriegebiete in die Minderheit. Die Reform zog weitere Gesetze nach sich, die den Einfluss des Adels in den Kommunalstrukturen schwächten.
Verwaltung und Justiz
Die Städteordnung von 1835 hatte die alte, von Nepotismus gezeichnete Verwaltungsstruktur abgeschafft und den Stadtrat zur maßgebenden Behörde der Kommunalverwaltung erklärt. Die Steuerzahler wählten zwei Drittel der Stadträte; ein Drittel – sogenannte Aldermen – wurden vom Stadtrat selbst gewählt. Mit der Zeit übernahmen die neuen Organe diverse Aufgaben der Lokalverwaltung, verloren aber ihre rechtsprechende Gewalt, da diese von Parteibestrebungen unabhängig sein sollte. 1873 vereinigte man die obersten Gerichtshöfe. 1888 löste ein Gesetz neue regionale Verwaltungseinheiten, deren Rat in allgemeiner und gleicher Wahl bestimmt wurde, die alten Grafschaften ab. Die Einschränkung des Schiedsamts auf die Rechtsprechung schloss die Trennung von Justiz und Verwaltung ab. Das Verwaltungsgesetz von 1894 schließlich sicherte kleineren Dörfern eine Gemeindeversammlung und größeren einen Gemeinderat zu.
Ein erster Schritt zur Einführung eines Berufsbeamtentums war die Wiedereinführung der Einkommensteuer 1842, die das Inspektorenwesen, das Geschäftseinkünfte und Arbeitsverhältnisse kontrollierte, auf die Steuererhebung ausweitete. Die Durchsetzung dieser und anderer Regelungen auf Kommunalebene erforderte fachlich ausgebildete Sonderbeauftragte, die ab 1855 von einer Kommission bestimmt wurden. Ab 1870 rekrutierten sich die Kandidaten durch freien Wettbewerb und Prüfungen, wodurch die Bürokratie endgültig Unabhängigkeit erlangte.
Gesundheit
Die ungesunden und unhygienischen Lebensverhältnisse in den britischen Städten verschlimmerten sich in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Zwar wurden einige Hauptstraßen gesäubert, nicht aber die Seitenstraßen der dunklen, immer dichter bevölkerten Elendsviertel. Da es keine Abwasserentsorgung und, wenn überhaupt, nur Zugang zu schmutzigem und mit Krankheitserregern verseuchtem Wasser gab, waren gefährliche Infektionskrankheiten allgegenwärtig.
Edwin Chadwick hatte sich bereits seit 1820 für ein zentrales Gesundheitsministerium eingesetzt, doch Behörden, Grundstücksbesitzer und Wasserversorgungsunternehmen wehrten sich gegen Maßnahmen, da sie einen Eingriff in Privateigentum und damit einen Angriff auf die traditionelle englische Freiheitsliebe bedeutet hätten. Außerdem würde damit den Arbeitern die Möglichkeit genommen, sich selbst aus ihrer Situation zu befreien. Unter Chadwicks Einsatz und angesichts einer Choleraepidemie, die in England und Wales 72.000 Tote forderte, wurde 1848 ein Gremium eingerichtet, das städtische Behörden außer London ab einer bestimmten Mortalität zum Eingreifen zwingen sollte. Wasserwerke erschlossen frischere Wasserquellen; man richtete Wasserspülungen und Kanalisationen ein.
Trotz weiteren Widerstands schritt die Gesundheitspflege in den Städten voran, was sich in einer stark sinkenden Mortalität niederschlug. Dennoch blieben die medizinischen Kenntnisse recht eingeschränkt. Die Keimtheorie setzte sich nur langsam durch, und Impfungen blieben, wenn sie denn sachgemäß durchgeführt wurden, lange auf Pocken beschränkt. Wichtige Entwicklungen waren die Verbreitung der Anästhesie bei Operationen ab den 1840er und die erste Anwendung der Desinfektion durch Joseph Lister in den 1860er Jahren.
Bildung
Bereits seit den 1830er Jahren forderten die Liberalen eine breitere Bildung, die traditionell eher eine Angelegenheit zwischen Familie und Kirche war. Zu Reformen kam es erst, nachdem unter Gladstone die Anglikanische Kirche, welche sich lange den staatlichen Bildungsbestrebungen widersetzt hatte, einige ihrer Privilegien verlor. Nicht zuletzt angesichts des effizienteren, stärker naturwissenschaftlich-technisch ausgerichteten Bildungssystems des wirtschaftlichen Konkurrenten Deutschland wurde 1870 ein Erziehungsgesetz verabschiedet. Neben den vorhandenen Schulen baute man damit ein staatliches, auf lokaler Ebene geregeltes Schulsystem auf und erließ armen Familien das Schulgeld. Dank der Elementarbildung, die 1891 für alle kostenlos wurde, schwand rasch die Zahl der Analphabeten, die um 1840 noch den Großteil der Bevölkerung ausgemacht hatten.
Die Public Schools (höhere Privatschulen) nahmen nach und nach ihre heute typische Form an. Während sie sich vorher auf Latein- und Griechischunterricht beschränkt, großzügige Prügelstrafen angewandt und Schüler kaum betreut hatten, förderten sie ab etwa 1860–80 den Sportunterricht und das Ideal der “Stiff upper lip”. Auch Grammar Schools bekamen größeren Zulauf.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts baute man auch das Hochschulsystem stark aus, wovon vor allem Industrieregionen profitierten. Die Universitätslaufbahn wurde 1871 allen qualifizierten Bürgern, unabhängig von sozialem Stand und Religion, geöffnet. Insbesondere in London nahm auch das Angebot an Erwachsenenbildung zu. In South Kensington wurden eine Reihe von Bildungseinrichtungen und Museen gegründet, darunter das Imperial College, die Royal Colleges of Art und Music, die Physical Society, die Royal Geographical Society und das Victoria and Albert Museum.
Polizei und Strafrecht
1837 besaßen etwa die Hälfte der englischen Boroughs eine bezahlte Polizei; die Städteordnung von 1835 machte sie zur Pflicht. 1839 gestattete man auch Counties Polizeikräfte. Die Einführung kam in den Grafschaften nur schrittweise voran und variierte beträchtlich von Region zu Region; erst 1856 wurde sie verbindlich.
Die Deportation von Strafgefangenen nach Australien wurde 1867 vollständig abgeschafft, hatte aber schon vorher abgenommen. In der Folge übernahm der Staat die Verwaltung von fünf Gefängnissen. Die Strafmaße blieben lange Zeit hart; die Freiheitsstrafe für unbeglichene Geldschuld etwa wurde erst 1869 aufgehoben. Dennoch reformierte sich das Strafrecht fortlaufend. Nach 1838 wurde nur noch für Mord und Mordversuch gehängt, wenngleich öffentliche Hinrichtungen noch bis 1868 verbreitet waren.
Irland
Irland war seit 1800 dem Königreich angeschlossen. Mit der Zeit entwickelte sich eine mächtige Nationalbewegung, die die völlige Unabhängigkeit forderte. Peel ging mit Härte gegen Irlands populärsten Politiker Daniel O’Connell und seine Bewegung vor, plante jedoch, die Lage durch sozialpolitische Maßnahmen zu beruhigen. Sie scheiterten allerdings an einem tiefen Einschnitt der irischen Geschichte, der großen Hungersnot von 1845–1848.
Die von einer eingeschleppten Kartoffelfäule verursachte Hungersnot nahm mangels Industrialisierung, Transportwegen und alternativer Nahrungsquellen katastrophale Ausmaße an. Etwa eine halbe bis eine Million Menschen verhungerten. Innerhalb eines Jahrzehnts wanderten 2,1 Millionen Iren aus, davon etwa drei Viertel in die Vereinigten Staaten, die meisten anderen nach Kanada und Großbritannien. Die Iren machten das Parlament für ihr Unglück verantwortlich; eine Revolte wurde 1848 blutig niedergeschlagen.
Vereinzelte gewalttätige Aufstände machten Großbritannien immer wieder auf die irische Frage aufmerksam. Irland drängte nun auf Home Rule (Selbstverwaltung). 1869 schaffte Gladstone den Status der Staatskirche als Amtskirche in Irland ab. Ein 1870 folgendes Gesetz, das die Rechte der von den englischen Grundherren ausgebeuteten irischen Pächter stärken sollte, hatte nur wenig praktische Auswirkungen. Der irische Wortführer Charles Stewart Parnell erhöhte den Druck auf die Regierung, indem er zu Boykott aufrief und durch Dauerreden den normalen Ablauf des Parlaments lahmlegte. Gladstone gewährte 1881 Pächtern zwar ein gewisses Miteigentum am Land der Grundbesitzer, konnte aber die soziale Unzufriedenheit nur teilweise mildern. In der Folge wurden mehrere englische Beamte ermordet; die Regierung reagierte mit Zwangsgesetzen.
Nach der Wahlrechtsreform von 1884 gewann die neu gegründete Irish Parliamentary Party an Bedeutung, worauf Liberale und Konservative den Iren entgegenkamen, um Stimmen zu gewinnen. Während die Konservativen die Landablösung weiterführten, bemühten sich die Liberalen um die Durchsetzung der Selbstverwaltung. Gladstones Gesetzesentwurf von 1886 scheiterte am Unterhaus, ein weiterer von 1893 nur noch am Oberhaus. Mit den Unionisten bildete sich eine Gegenbewegung, die die Selbstverwaltung ablehnte und mit der Gaelic League eine kulturelle Nationalbewegung. Beide verzögerten weitere Entwicklungen in der Irlandfrage.
Philosophischer Hintergrund
Die große Zahl von Reformen bis 1875 legt einen nahezu revolutionären Bruch mit der Vergangenheit nahe, der einer bestimmten Doktrin entspringt. Viele politische Entscheidungen dieser Zeit waren entweder von Laissez-faire (etwa der Freihandel) oder im Gegenteil von Kollektivismus (etwa die Arbeitszeitregelungen) geleitet. Ab etwa 1880 wurden Laissez-faire und Individualismus mehr und mehr als utopisch und unerreichbar betrachtet.
Der Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832), Mitbegründer des Utilitarismus, entwickelte seine Ethik ausgehend von der Zielsetzung des „größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl“. Zur praktischen Durchsetzung dieses Prinzips konnte je nach Situation Laissez-faire oder Kollektivismus angewandt werden. Bentham theoretisierte mehr als jeder andere Denker seiner Zeit über Regierungspolitik. Mehrere namhafte Intellektuelle und Politiker, unter anderem Chadwick, traten für seine Ideen ein. Der „Benthamismus“ wird oft mit der Politik des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht; inwieweit er tatsächlich die Reformbestrebungen der viktorianischen Zeit bestimmte, ist jedoch umstritten.
Außenpolitik
Die Zeit von 1830–1865 wurde vor allem von Palmerston, zunächst als Außenminister, später als Premierminister, geprägt. Er verfolgte eine opportunistische und unabhängige Politik, in der er die Bündnisfreiheit Englands zu bewahren und gleichzeitig ein Ungleichgewicht zwischen kontinentaleuropäischen Nationen zu verhindern suchte. Um den Handel nicht zu gefährden, zog er in Europa friedliche Lösungen von Konflikten vor. Zwar führte England während der viktorianischen Ära über 200 militärische Einsätze durch, im Gegensatz zur Zeit vor Palmerston aber, abgesehen vom Krimkrieg, keine Kriege mit Großmächten.
Nach dem Tod Palmerstons nahm in der Politik Europa eine geringere Stellung als die außereuropäische Welt ein. Gladstone verfolgte während seiner ersten Amtszeit (1868–1874) eine zurückhaltende Außenpolitik.
Der Erwerb von Kolonien hatte, neben der Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten, auch ideologische Gründe. Die Neuordnung „unzivilisierter“ Verhältnisse wurde wie die Missionierung als Aufgabe gesehen. Nach dem erneuten Amtsantritt Disraelis 1874 begann die „Ära des (neuen) Imperialismus“. Zwar besaß Großbritannien zu dieser Zeit bereits ein großes Kolonialreich, stand aber nunmehr in starkem Wettbewerb mit anderen Kolonialmächten. Das Sendungsbewusstsein nahm in der Politik wie in der Massenpresse rassistische und jingoistische Züge an, ohne Selbstverwaltungen zu erwägen. Nachfolgende liberale Regierungen bemühten sich ebenfalls um eine – zunehmend defensive – Sicherung des Britischen Imperiums. Allerdings unterlag die Politik vor Ort oftmals keiner zentralen Strategie, sondern wurde maßgeblich von den jeweiligen Gouverneuren bestimmt. In den 1890er Jahren übernahm der Staat die koloniale Erwerbspolitik, die vorher auch von privaten Gesellschaften getragen wurde, vollständig.
Nahostkrise
In den 1830er Jahren schwächten mehrere Unabhängigkeitsbewegungen, darunter in Ägypten, das Osmanische Reich. 1833 hatte der Sohn des ägyptischen Paschas Muhammad Ali, Ibrahim, Syrien erobert und bedrohte Konstantinopel. Daraufhin bildete der russische Zar eine Allianz mit dem türkischen Sultan und entsandte Truppen, was aus britischer Sicht ein Versuch der Landmacht war, Zugang zum Meer zu erlangen. Ibrahim zog sich nach Syrien zurück.
1839 wurde das Nahostproblem wieder akut, als der Sultan seine Ansprüche geltend machte und Ibrahim in Syrien angriff. Frankreich stellte sich auf die Seite Ägyptens, während Palmerston ein Eingreifen Österreichs, Russlands und Preußens zu Gunsten des Sultans veranlasste. Muhammad Ali gab daraufhin Syrien auf, was Frankreichs Ambitionen einschränkte. 1841 verpflichtete sich die Türkei mit dem Dardanellen-Vertrag, die Dardanellen zu Friedenszeiten für Kriegsschiffe zu sperren. Damit war auch der Einfluss Russlands, das vormals den britischen Zugang vom Nahen Osten bis nach Indien gefährden konnte, zurückgedrängt.
Krimkrieg
1853 sah Russland angesichts des zerfallenden Osmanischen Reiches eine erneute Gelegenheit, sich den Zugang zum Balkan zu sichern. Als Vorwand verlangte der Zar vom osmanischen Sultan den Schutz der orthodoxen Christen im Donauraum. Der Sultan lehnte jedoch ein Protektorat ab, zumal der britische Botschafter ihm den Schutz Konstantinopels versprach. Die russische Besetzung der unter osmanischer Herrschaft stehenden Donaufürstentümer löste den Krimkrieg aus.
Großbritannien und Frankreich traten den Expansionsbestrebungen Russlands entgegen und entsandten Kriegsschiffe ins Schwarze Meer. Nach Verhandlungen mit Österreich und Preußen zog sich Russland zurück. Frankreich jedoch suchte weiterhin einen militärischen Erfolg, und Palmerston erwartete vom Krieg einen Sympathiegewinn bei der russenfeindlichen Öffentlichkeit. Das britische Militär war auf einen modernen Stellungskrieg schlecht vorbereitet und musste hohe Verluste hinnehmen. Kriegsberichterstatter machten zudem auf die schlechte Hygiene, die zu Epidemien führte, aufmerksam. In diesem Zusmmenhang erlangte Florence Nightingale Bekanntheit, die sich um verbesserte Bedingungen in den Lazaretten bemühte.
Mit der alliierten Eroberung Sewastopols endete der Krieg. Der Frieden von Paris 1856 sah die Garantie der türkischen Neutralität und die Entmilitarisierung des Schwarzen Meers vor, konnte aber die „orientalische Frage“ nicht dauerhaft lösen, weshalb die Region instabil blieb.
Weiteres Europa
Um den Einfluss Russlands und Frankreichs weiter zurückzudrängen, stellte sich Palmerston gegen Napoleon, der unabhängige italienische Einzelstaaten gründen wollte, und unterstützte die liberalen Gruppierungen, die sich für die Einigung Italiens einsetzten. Die Unabhängigkeitsbewegungen in Ungarn unterstützte Palmerston nicht, da er Österreich als Gegenspieler Russlands behalten wollte. 1863 gab Großbritannien die unter Protektorat stehenden Ionischen Inseln wieder an Griechenland zurück. Während des Deutsch-Dänischen Kriegs 1864 erlitt Palmerston eine Niederlage, da es ihm nicht gelang, die Expansion Preußens zu verhindern.
Im Deutsch-Französischen Krieg 1870–71 blieb Gladstone neutral und sicherte per Vertrag mit den beiden Kriegsmächten die belgische Neutralität. Um einen weiteren Machtzuwachs des Deutschen Reiches zu verhindern, stellte sich Disraeli während der Krieg-in-Sicht-Krise auf die Seite Frankreichs und Russlands.
Im Gegensatz zur liberalen Opposition wandte sich Disraeli während der Balkankrise 1876–77 gegen Russland. Der Frieden von San Stefano bedeutete einen enormen Machtzuwachs für das siegreiche Russland und konnte den Zugang nach Indien gefährden. Daraufhin übte Großbritannien Druck aus, indem es Flotten zu den Meerengen schickte. Der Berliner Kongress von 1878, der eine neue Balkanordnung festlegte und den Einfluss Russlands einschränkte, konnte einen Krieg abwehren. Großbritannien erhielt Zypern und behielt die Möglichkeit, sein Imperium auszubauen. 1887 trat England der Mittelmeerentente bei, um sich gegen die Ambitionen Frankreichs und Russlands zu schützen. Die Krüger-Depesche von 1896 führte zur Distanzierung von Deutschland.
Kanada
Seit 1791 war Kanada in das englische Oberkanada und das französische Niederkanada geteilt. Ende der 1830er Jahre kam es in Oberkanada zu Meinungsverschiedenheiten mit dem Mutterland, während sich in Niederkanada Spannungen zwischen der französisch-katholischen Mehrheit und der englischen Minderheit entwickelten. Daraufhin hob London die bestehende Verfassung auf und sandte Durham als Bevollmächtigten nach Kanada. Durham trat für eine Selbstverwaltung ein. 1840 wurde sein Vorschlag vom Kabinett angenommen und Ober- und Niederkanada vereinigt. 1867 wurde die Zusammenlegung wieder aufgehoben, wobei die beiden Provinzen zusammen mit Neubraunschweig und Neuschottland einen Bundesstaat bildeten.
Weiteres Amerika
Im Sezessionskrieg 1861–65 war die britische Regierung zwar auf der Seite der Südstaaten, blieb aber offiziell neutral, da Napoléon III. nur bei einem Sieg der Südstaaten ein mexikanisches Protektorat errichten konnte.
1895 kündigte US-Präsident Cleveland an, er werde alte venezolanische Ansprüche auf das benachbarte Britisch-Guyana durchsetzen. Dieser Konflikt belastete die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. 1899 erreichte Salisbury eine Einigung zu seinen Gunsten.
Indien
In Indien konnte Großbritannien weitgehend ungestört von anderen Großmächten Kolonialpolitik betreiben. Die Sicherung der britischen Vormachtstellung in Indien nahm eine herausragende Stellung im politischen Diskurs ein. Seit 1784 übte die Krone mittels der Ostindien-Kompanie eine indirekte Herrschaft über das Land aus. Ihr Handelsmonopol hatte die Kompanie in den 1830er Jahren bereits weitgehend verloren.
Zur Zeit Viktorias versuchten britische Gouverneure wie Dalhousie, die Macht der indischen Fürsten einzuschränken und durch Bautätigkeit sowie Änderungen des Verwaltungs- und Bildungswesens europäische Verhältnisse durchzusetzen. Auch Missionare waren aktiv. Wenngleich der Widerstand gegen diese kulturellen Eingriffe nie aufgehört hatte, bedeutete der Sepoy-Aufstand 1857 einen Einschnitt in der Indienpolitik. Die Meuterei indischer Soldaten belastete nachhaltig die britische Moral und beendete die aggressivste Phase der Einflussnahme auf den Subkontinent. 1858 wurde die Ostindien-Kompanie aufgelöst und Indien formell zur Kronkolonie.
Um die indischen Grenzen zu verteidigen und einer Expansion Russlands vorzubeugen, versuchte Großbritannien mehrmals, die Kontrolle über das benachbarte Afghanistan zu erlangen. 1839 eröffneten britische Truppen den Ersten Anglo-Afghanischen Krieg, bei dem sie 1842 eine völlige Niederlage erlitten. Erst 1881 gelang es, die Afghanen zu besiegen.
China
Palmerstons Chinapolitik verfolgte rein kommerzielle Interessen, wobei ethische Prinzipien, anders als in Europa, nicht mehr galten. Die chinesische Regierung widersetzte sich jahrelang der illegalen Opiumeinfuhr durch die Ostindien-Kompanie und ließ 1839 über tausend Tonnen des Rauschgifts vernichten. Die Briten eröffneten das Feuer und leiteten den Ersten Opiumkrieg ein, aus dem sie bald siegreich hervorgingen. Die Bedingungen des 1842 unterzeichneten Vertrags von Nanking an China waren äußerst hart und verlangten unter anderem die Abtretung Hongkongs und die Öffnung von fünf Häfen für den Handel.
Nach dem Taiping-Aufstand eröffneten Großbritannien und Frankreich 1856 den Zweiten Opiumkrieg, wobei sie Rückendeckung von Russland und den Vereinigten Staaten erhielten und weite Teile des Landes verwüsteten. Trotz einiger Proteste erfuhr Palmerstons Vorgehen in England mehrheitlich Unterstützung. Britische und französische Einheiten marschierten schließlich 1860 in Peking ein. China musste die Errichtung von Botschaften, die Legalisierung des Opiumhandels und die christliche Mission dulden.
Nordafrika
Die Kontrolle Ägyptens war wegen des 1869 fertiggestellten Sueskanals, der den Seeweg nach Asien verkürzte, von großer strategischer Bedeutung. 1875 kaufte Disraeli dem verschuldeten Khedive alle Suezkanal-Aktien ab und beschnitt damit den französischen Einfluss im Land; Frankreich wurde aber an der Kontrolle der Staatsfinanzen beteiligt. Nach einem Aufstand nationalistischer Gruppen besetzten 1882 britische Truppen alleine Ägypten und machten es formell zu einem Teil des Imperiums. Damit begann der Neue Imperialismus; die koloniale Erwerbspolitik beschleunigte sich. Allerdings war die britische Macht in Ägypten begrenzt, da auch andere Staaten, unter anderem Frankreich, Vorrechte im Land hatten.
Nach dem Mahdi-Aufstand im Sudan entsandte London General Gordon, um den ägyptischen Rückzug zu decken. Er überschritt seine Befugnisse, versuchte, den Sudan zurückzuerobern, und wurde 1885 getötet. Gladstones Ansehen litt unter diesem Rückschlag.
1898 kam es im Sudan zur Faschoda-Krise zwischen Großbritannien und Frankreich, die mit dem Rückzug Frankreichs und dem Sudanvertrag, der eine neue Grenzziehung festlegte, endete.
Südafrika
Seit 1814 war das Kap endgültig britische Kolonie, 1872 erhielt es die Selbstregierung. Nach der Abschaffung der Sklavenhaltung 1833 kam es zum Konflikt mit den ansässigen Buren (Farmer niederländischer und anderer Herkunft), denen eine wichtige wirtschaftliche Grundlage entzogen wurde. Daraufhin schlossen sich tausende Buren dem Großen Treck an und erschlossen das Hinterland. 1843 annektierten die Briten Natal. Die Unabhängigkeit des Oranje-Freistaats und Transvaals wurde letztendlich anerkannt. Im Süden Afrikas gab es häufig Konflikte zwischen den Kolonialmächten, die stets von kurzer Dauer blieben, bis nach 1870 Gold- und Diamantenfunde zu Einwanderungswellen führten. Auch geostrategische Interessen der Mächte, etwa Cecil Rhodes’ Pläne einer Eisenbahnverbindung bis nach Nordafrika, trugen zur Eskalation bei.
Nachdem die Buren im Oranje-Freistaat und Transvaal von der britischen Krone vergeblich Bürgerrechte gefordert hatten, eröffneten sie 1899 den Burenkrieg, welcher sich zum schmutzigen Guerillakrieg entwickelte. Die Briten wandten die Taktik der verbrannten Erde an und errichteten Konzentrationslager, deren teils katastophale Bedingungen mehr Opfer als auf dem Schlachtfeld forderten. Mit dem Frieden von Vereeniging 1902 wurden die beiden Burenrepubliken britisch.
Weiteres Afrika und Australien
1884–85 fand die Kongokonferenz statt, bei der die Aufteilung Afrikas geregelt wurde. Großbritannien, das mit Stanley und Livingstone viel zur Entdeckung des inneren Kontinents beigetragen hatte, musste Einbußen in Kauf nehmen.
1890 tauschte Salisbury Helgoland gegen ein Zurücktreten des Deutschen Reichs in Sansibar, Uganda, Kenia und am oberen Nil ein.
Den australischen Kolonien wurde 1861 die Selbstverwaltung zugebilligt; 1901 wurden sie zu einem Bundesstaat vereinigt.
Wirtschaft und Technologie
Bis 1850
Zu Beginn des Viktorianischen Zeitalters waren in Großbritannien die bahnbrechenden Anfänge der Industriellen Revolution, bei der das Land führend war, bereits abgeschlossen. Nachdem 1830 die erste Eisenbahnstrecke für den Personenverkehr fertiggestellt wurde, schritt jedoch der Ausbau des Schienennetzes weiter voran, was die Eisenindustrie ankurbelte. Damit stieg auch der Verbrauch des wichtigsten Energieträgers Kohle, von dem die Hälfte zur Eisenverhüttung benötigt wurde. Der Bau von Viadukten, Bahndämmen und Tunneln stellte Ingenieure vor bis dahin unbekannte Probleme und erforderte Pionierleistungen. Die Eisenbahn, die mit einer vormals unerreichbaren Geschwindigkeit beeindruckte, erlaubte es, Rohstoffe schneller und billiger an die Fabriken und Agrarprodukte großräumig an Kunden zu liefern. Sie machte auch die landesweite Synchronisation der Uhrzeit nötig und förderte die Verbreitung von Zeitungen. Anfängliche bürokratische Hürden und Vorbehalte der Bevölkerung beim Bau von Bahnstrecken schwanden in den 1840er Jahren. Ein Problem waren unterschiedliche Spurweiten, die man erst in den 1890er Jahren vollständig zu vereinheitlichen suchte. Bahngesellschaften schufen hunderttausende neue Arbeitsplätze; Städte, durch die Bahngleise liefen, prosperierten oft.
Währenddessen ermöglichten Fortschritte im Maschinenbau durch Ingenieure wie Whitworth die Massenproduktion von präzise genormten Werkzeugen, Maschinenteilen und anderen in den Fabriken benötigten Geräten. Im Ausland wuchs die Nachfrage nach Kohle und Maschinen; bis 1849 verdreifachten sich die Kohleexporte. Die mechanisierte Textilindustrie und ihr wichtiger Baumwollsektor blühte weiterhin und überschwemmte mit ihren Produkten den internationalen Markt. Paradoxerweise unterlagen die britischen Waren wegen der hohen Produktionszahlen einem stärkeren Preisverfall als die importierten Rohstoffe. Nur dank der Einnahmen aus Versand und Versicherung konnte das Handelsbilanzdefizit problemlos überbrückt werden.
Bis zur Jahrhundertmitte waren die Auswirkungen der Industriellen Revolution, vor allem der Eisenbahn, und nicht etwa landwirtschaftliche Produktivitätssteigerungen der Grund, weshalb die schnell wachsende britische Bevölkerung ausreichend ernährt werden konnte. Dessen ungeachtet wurden die meisten britischen Produkte weiterhin von diversen Handwerkern in kleinen Werkstätten gefertigt.
Der Ausbau des Bahnnetzes förderte die Etablierung neuer Kommunikationssysteme. Der 1840 gegründeten staatlichen Post, die Briefe zum billigen Pauschaltarif beförderte, folgte 1846 eine allgemeine elektrische Telegrafengesellschaft. Die Post trug allerdings auch zum Staatsdefizit bei. Peel gelang es, den Haushalt zu festigen, indem er die Einkommensteuer erhöhte und die Geldmenge begrenzte.
Aufgrund der Bankkrise von 1837 schrumpfte das Kapital der Eisenbahngesellschaften, was zu Arbeitslosigkeit führte. Zusammen mit Ernteverlusten in den zwei kommenden Jahren hatte dies eine Wirtschaftsflaute zur Folge, die bis 1843 andauerte und dazu beitrug, dass Arbeiterbewegungen gewalttätig wurden. 1847 kam es wiederum zu einer Bankkrise und einer kurzen Phase der Depression.
Seit 1815 beschränkten die Getreidegesetze den Getreideimport durch Zölle. Bürgerliche Industrielle, die staatlicher Reglementierung misstrauten, schlossen sich 1839 zur Anti-Corn Law League zusammen, welche sich dem Protektionismus widersetzte und die Aufhebung der Getreidegesetze forderte. Nachdem das Parlament im selben Jahr die Forderung dieser Bewegung abgelehnt hatte, zog sie eine großangelegte Kampagne auf, die eine Senkung des Brotpreises zugunsten der Armen und eine Ausweitung des Absatzmarktes für britische Waren verhieß. Auch die Arbeiterschaft sah hierin eine Aussicht auf Besserung. Auf die Abschaffung der Getreidegesetze 1846 hatte dieser Manchesterliberalismus nur indirekten Einfluss. Sie entsprang vor allem Peels eigenem Sinneswandel, womit er eine Spaltung seiner Partei riskierte. Befürchtungen, das Land würde nun von ausländischem Getreide überschwemmt werden, erwiesen sich als unbegründet, denn nach dem Krimkrieg blieb der Getreidepreis weiterhin auf hohem Niveau. Die Abschaffung der Navigationsakte 1849 war ein weiterer Schritt zum Freihandel.
1850–75
Die Hochkonjunktur, oft „großer viktorianischer Boom“ genannt, dauerte von der Jahrhundertmitte bis zu den 1870er an und ging mit allgemein steigender Lebensqualität einher. Die Industrie drängte die Landwirtschaft an zweite Stelle. Die wachsende Bevölkerung, vor allem aber das Ausland, bildete große Absatzmärkte. Auch die Auslandsinvestitionen nahmen zu, verfolgten aber selten absatzsteigernde Ziele. Die Hälfte der Investitionen floss in die Vereinigten Staaten und Kontinentaleuropa, der Rest hauptsächlich nach Indien sowie Mittel- und Südamerika. Beliebt waren vor allem ausländische Wertpapiere sowie Bergbau- und Hafenbauunternehmen. Die erste Weltausstellung von 1851, auf der neueste Maschinen und Kunstwerke gezeigt wurden, verherrlichte die Führungsrolle des britischen Imperiums, das die Hälfte der Ausstellung beherrschte.
Finanzminister Gladstone senkte im Zuge des britisch-französischen Handelsvertrages von 1860 die Zölle auf französische Importe und hob sie später ganz auf; der Freihandel setzte sich endgültig durch. Außerdem beschränkte er die Steuern auf wenige einträgliche Konsumgüter und senkte die Einkommensteuer, womit er der Wirtschaft einen weiteren Auftrieb gab und Arbeitsplätze schuf.
Grundlegende technische Neuerungen kamen in dieser Zeit aus zwei Bereichen. Das 1856 von Henry Bessemer entwickelte und in den 1860er Jahren verbesserte Windfrischverfahren erlaubte es erstmals, Stahl in effizienter Massenproduktion herzustellen. In den 1870er Jahren wurde das Schienennetz auf Stahl umgestellt. Im Schiffbau ermöglichten stählerne Dampfkessel und Dreifach-Expansionsdampfmaschinen, die 1874 zum ersten Mal auf einem britischen Schiff zum Einsatz kamen, eine wesentlich effizientere Nutzung der Kohle. Diese Neuerungen, zusammen mit dem neueröffneten Suezkanal, der nur mit den manövrierfähigen Dampfschiffen befahren werden konnte, markierten den Niedergang der Segelschifffahrt.
Auch die Landwirtschaft entwickelte sich weiter. Da Rohrleitungen dank industrieller Fertigung wesentlich billiger wurden und die Regierung Subventionen bereitstellte, investierten viele Bauern in bessere Drainage. Die hohe Beliebtheit von Mineraldünger und Guano trug ebenfalls zu besseren Böden bei. Erst jetzt fanden Landmaschinen, darunter auch dampfbetriebene, weite Verbreitung. Allerdings waren diese Neuerungen nicht unter 120 Hektar, 1851 die Größe zwei Drittel aller Betriebe, rentabel.
Ab 1875
Die erneute Depression von 1873–1896 – mit kurzen Phasen des industriellen Aufschwungs 1880–82 und 1890–92 – hatte verschiedene Ursachen. Am stärksten traf sie die Landwirtschaft. Nach dem Wegfall der Getreidegesetze schützten einzig lange Transportwege die britischen Landwirte vor ausländischer Konkurrenz. Als jedoch in den Vereinigten Staaten das Eisenbahnnetz ausgebaut wurde und größere und schnellere Dampfschiffe den Atlantik überquerten, sanken die Getreidepreise. Zudem begünstigten die verbesserten Kühlverfahren der 1880er Jahre Fleischimporte. Viele Landwirte zögerten zunächst, ihre Produktion zu diversifizieren, zumal die aufeinanderfolgenden harten Winter und nassen Sommer von 1875–82 als Grund für ihre Schwierigkeiten erschienen. Außerdem erhielten Pächter bei einer Umstellung des Betriebs keine Vorauszahlung auf bereits gesätes Getreide von ihrem Nachfolger. Dennoch stieg insgesamt die Agrarproduktion während dieser Zeit. Gemüse- und Milchbauern waren weniger von der Krise betroffen. Eine Konsequenz war, dass diejenigen, die es sich leisten konnten, ein wesentlich breitgefächertes Nahrungsangebot vorfanden.
Großbritannien bekam auch Konkurrenz von neuen Industriestaaten, sodass sich das Wachstum in diesem Bereich verlangsamte. Insbesondere die Vereinigten Staaten und Deutschland holten nicht nur ihren Rückstand – etwa in der Stahlproduktion – auf, sondern konnten auch moderne chemische und elektrotechnische Industrien aufbauen. Die Preise fielen insgesamt, wovon vor allem Geschäftsleute und Anleger betroffen waren.
Der Grund für das Zurückfallen der britischen Industrie lag hauptsächlich darin, dass wegen ausreichender Arbeitskraft zur Bewältigung der Aufgaben Industrielle keinen Anreiz in der Entwicklung neuer Maschinen sahen. Eine Neuerung hätte die völlige Umstrukturierung der Produktionsanlagen und die Umschulung der Arbeiter erfordert. Außerdem gab es in England keine großen Zusammenschlüsse von Firmen, die genug Handelsreisende eingestellt und eine bessere Abstimmung zwischen Produzent und Exporteur ermöglicht hätten. Ein weiterer Grund war möglicherweise das Defizit in der technischen Bildung gegenüber anderen Staaten.
Gesellschaft
Bevölkerungsentwicklung
Im Viktorianischen Zeitalter verdoppelte sich die Einwohnerzahl Großbritanniens. Besonders schnell im Vergleich zum restlichen Europa wuchs die Bevölkerung während der ersten Jahrhunderthälfte; die Gründe hierfür sind umstritten. Ab 1871 sank die Geburtenziffer, insbesondere in der Mittel- und Oberschicht. Gleichzeitig sank auch die Mortalität, allerdings nicht genug, um die sinkende Geburtenrate auszugleichen. Ursächlich war möglicherweise eine stärkere Geburtenkontrolle. Es gibt Hinweise darauf, dass um 1890 Empfängnisverhütung auch in der Unterschicht und auf dem Land weite Verbreitung gefunden hatte.
Das starke Bevölkerungswachstum ist auch angesichts der Opferzahlen der irischen Hungersnot und der während des gesamten 19. Jahrhunderts beständigen Auswanderung bemerkenswert. Vor allem während der Wirtschaftskrise und der irischen Hungerkatastrophe der 1840er Jahre hofften viele Arme auf ein besseres Leben in Übersee, aber auch der Staat unterstützte und subventionierte die Emigration. Hauptziele waren – neben den Vereinigten Staaten – Kanada, Südafrika, Indien, Australien und Neuseeland. Hinzu kamen die schätzungsweise 137.000 Strafgefangenen, die nach Australien deportiert wurden.
Unterschicht
Etwa zwei Drittel der Bevölkerung gehörten der sozialen Unterschicht an. Deren eine Hälfte bestand aus Armen, Tagelöhnern, Häuslern und anderen Menschen, die am Rande oder unterhalb des Existenzminimums lebten. Die andere Hälfte setzte sich aus Land-, Bau- und Industriearbeitern, Hausangestellten, Seeleuten und Soldaten zusammen, deren Lebensstandard stark von der Konjunktur abhing. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts gingen oft Aufstände und Plünderungen von der Unterschicht aus.
Arbeiter
Die Landarbeiter waren 1851 die größte Beschäftigungsgruppe und stellten 1851 etwa ein Viertel aller männlichen erwachsenen Erwerbstätigen dar. In vielen Regionen waren die Löhne sehr gering und die Arbeitstage lang; oft fehlte eine feste Behausung. Die Nahrung war knapp und hing von der Region, den Ernteerträgen und der Bereitschaft der Landherren, überschüssige Lebensmittel zu spenden, ab. Oft waren Arbeiter auf ihre Kleingärten angewiesen; Wilderei war riskant. Mit der Implantation von Fabriken in ländlichen Gegenden wechselten Landarbeiter verstärkt zur Industrie.
Auch in den Fabriken waren die Arbeitsbedingungen beklagenswert. Die allermeisten Unternehmer hatten nur wenig Kapital, hingen von kurzfristigen Krediten ab und standen unter großem Konkurrenzdruck. Daher schienen akzeptable Gewinne nur mit möglichst hoher Maschinenauslastung und möglichst geringen Löhnen erzielbar. Der Arbeitstag dauerte meist zehn bis zwölf Stunden ohne Unterbrechung, in Textilfabriken bis zu 16 Stunden. Häufig gingen nicht nur Männer, sondern auch deren Frauen und Kinder arbeiten. Um die Familie zu ernähren, wurden bereits Fünfjährige mit Gewalt zu harter Arbeit gezwungen, was zu schweren Gesundheitsschäden und einem frühen Tod führte. Besonders übel waren die Bedingungen in Kohlebergwerken. Entspannung fanden viele Arbeiter im Alkohol und in gelegentlichen Prügeleien mit den Iren, die nach der großen Hungersnot verstärkt zuwanderten.
Um von der Armut abzuschrecken, verbot das Armenrecht von 1834 staatliche Züschüsse an Arbeitsfähige; man errichtete Arbeitshäuser. Die Depression, die bis in die 1840er Jahre andauerte, schuf jedoch eine Situation, für die das Gesetz nicht ausgelegt war. Viele verloren ihre Arbeit und verarmten. Angesichts der abschreckenden Arbeitshäuser sahen Arbeitgeber keine Notwendigkeit für Lohnerhöhungen. Ob der Lebensstandard der Arbeiter in der frühviktorianischen Zeit insgesamt stieg oder sank, ist umstritten. Die Depression der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts erhöhte zwar die Gefahr von Arbeitslosigkeit, die Löhne jedoch blieben konstant und die Lebenshaltungskosten sanken, sodass sich die Situation der Arbeiter eher verbesserte.
In den 1830er und 40er Jahren regelten mehrere Gesetze die Arbeitsbedingungen von Kindern und Frauen neu. Weitere Gesetze zur Regelung der Arbeitszeiten folgten. Entgegen kritischen Vorhersagen führten sie nicht zu Umsatzeinbrüchen, da gesündere und weniger müde Arbeiter die Produktivität steigerten. Dennoch blieb die Arbeit oftmals gefährlich. Allein 1875 starben 800 Bahnarbeiter bei Unfällen; jedes Jahr verunglückten um die 1000 Grubenarbeiter.
Der Begriff „Arbeiteraristokratie“ bezeichnet diejenigen 10 % der Industriearbeiter und Handwerker, die eine langjährige Ausbildung hinter sich hatten, zum Beispiel Maschinenbauer. Im Gegensatz zu ungelernten Arbeitern, die mit der gesamten Familie in einem einzigen Zimmer oder Kellerraum hausten, konnten sich einige der besser bezahlten ausgebildeten Arbeiter ein kleines Reihenhaus in den Elendsvierteln mit zwei oder drei Zimmern leisten. Seit den 1840er Jahren strebten sie nach einem bürgerlichen, respektablen Lebenswandel, was sich etwa in eigenen Zeitungen und Genossenschaften ausdrückte.
Arbeiterbewegung
Die sukzessiven Wahlrechtsreformen hielten die Hoffnung auf Änderungen beim Arbeiterstand wach. Trotz der weitverbreiteten Armut und Ausbeutung sowie dem Wirken von Marx und Engels hatte der Sozialismus daher nur geringen Einfluss auf die Arbeiterbewegung; insbesondere bildete sich erst spät eine Arbeiterpartei.
Teils als Reaktion auf die enttäuschende Wahlrechtsreform von 1832, teils aus bereits im 18. Jahrhundert zu Tage getretenen Bürgerrechtsbestrebungen entstand die ausgedehnte Chartistenbewegung, die in der 1838 von einigen Radikalen und Unterhausabgeordneten verfassten People’s Charter unter anderem das allgemeine Wahlrecht forderte. Zu den der Bewegung angehörenden Verbänden zählten zahlreiche regionale Gewerkschaften. Das Unterhaus lehnte eine Debatte über die Satzung ab, worauf es zu Unruhen kam. Weitere Versuche der Chartisten scheiterten, da sie sich nicht auf eine weitere Vorgehensweise einigen konnten und den Repressionsmaßnahmen des Staates nicht gewachsen waren.
Nach dem Scheitern der Chartisten fanden die Gewerkschaften, die sich vor allem für kürzere Arbeitszeiten, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne einsetzten, verstärkt Zulauf. Sie agierten aber lange Zeit nur auf lokaler Ebene und vertraten lediglich die Arbeiteraristokratie. Streiks betrachtete man nur als letztes Mittel, zumal bei Arbeitslosigkeit die Unternehmer Arbeitskräfte einfach austauschen und mangels gesetzlicher Anerkennung der Gewerkschaften sogar kriminalisieren konnten. Durch ein Bündnis mit den Liberalen versuchten die Gewerkschaften, Abgeordnetenkandidaten der Liberalen für ihre Interessen zu gewinnen (Liberal-Labour-Bewegung). Die Gewerkschaften bildeten 1868 den Dachverband Trade Union Congress. 1874 wurden erstmals Arbeiter ins Unterhaus gewählt. Es gründeten sich sozialistische Bewegungen, die, abgesehen von der 1884 von Intellektuellen gegründeten Fabian Society, meist unbedeutend waren.
Die Lebensumstände der Landarbeiter erschwerten gewerkschaftliche Zusammenschlüsse. 1873 gründete Joseph Arch eine Gewerkschaft für Landarbeiter, die den Anstoß für weitere Vereinigungen gab. Die Agrarkrise, mit der die Zahl der Landarbeiter nachließ, machte weitere Bestrebungen zunichte.
Als eine der ersten Arbeiterparteien wurde 1883 die Independent Labour Party gegründet. In Folge der Londoner Dockarbeiter-Streiks von 1889 schlossen sich auch eine große Zahl ungelernter Arbeiter in nunmehr radikaleren Gewerkschaften zusammen; diese Entwicklung wird New Unionism genannt. Anstelle der „Lib-Labs“ strebte man eigene Arbeiter als Abgeordnete an. 1900 gründete sich das Labour Representation Committee, das später in die Labour Party überging.
Mittelschicht
Die Mittelschicht erstreckte sich vom Großindustriellen bis zum kleinen Ladenbesitzer; der Übergang zur Arbeiteraristokratie war fließend. Zur unteren Mittelschicht gehörten Landenbesitzer, Freiberufler und ein Teil des Klerus. Die obere Mittelschicht strebte einen Lebenswandel nach aristokratischem Vorbild an und sandte ihre Kinder in Privatschulen, um sie zu „Gentlemen“ zu formen. Etwa die Hälfte der Mittelschicht war nonkonformistisch.
1855 und 1862 verabschiedete die Regierung Gesetze, die die Bildung von Aktiengesellschaften (Ltd.) förderten. Damit ging das Unternehmensvermögen immer mehr an Aktieninhaber über. Der große Boom brachte neue spezialisierte Berufe wie Ingenieure und Architekten hervor, die eigene Gesellschaften und Institute gründeten. Der Dienstleistungssektor gewann an Bedeutung und ermöglichte zum Teil einen Aufstieg in die obere Mittelschicht. Ein Beleg für den zunehmenden Wohlstand der Mittelklasse ist die steigende Zahl von Dienstmädchen – 1851 das zweitgrößte Berufsfeld.
Mit zunehmender Verstädterung zogen die Mittelschichten von den Stadtzentren in die Vorstädte, was öffentliche Transportmittel für Pendler hervorbrachte und die Segregation zwischen Armen und Wohlhabenderen förderte. In London wurde 1863 die erste U-Bahn eröffnet.
Adel
Man unterscheidet zwischen dem Landadel und den etwa 200 Familien des Hochadels, die das höchste Einkommen und prächtige Landsitze besaßen.
Der im Oberhaus repräsentierte Adel behielt lange uneingeschränkt seine Stellung. Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, insbesondere die dritte Wahlrechtsreform und die Verwaltungsreform von 1888, schmälerten den politischen Einfluss des Landadels, der seine Stellung zunehmend mit Investitionen in die Industrie zu festigen suchte. Umgekehrt erlangten Angehörige der Mittelklasse Adelstitel und wurden ins Oberhaus aufgenommen.
Religion
Kirchenpolitik
Außerhalb der Anglikanischen Kirche stellten die Methodisten und ihre Abspaltungen die größte Konfession in England dar. Die schottische Kirche war presbyterianisch; 1843 gründete sich die Free Church of Scotland.
Schockierend wirkte die Volkszählung von 1851, nach der weniger als die Hälfte der englischen Bevölkerung am Sonntag die Kirche besuchte. Daraufhin entstanden neue Bemühungen, die religiös ungebildete Unterschicht zu missionieren. Zu diesem Zweck gründete der Methodistenprediger William Booth 1865 die später so genannte Heilsarmee. Die anglikalische Kirche intensivierte ihre Aktivität im Schulwesen, konnte aber nicht mit dem schnellen Wachstum der Städte Schritt halten. Sowohl in der Staats- als auch in der Freikirche bildeten sich christlich-sozialistische Gruppen, etwa unter Frederick Maurice und Charles Kingsley, die christliche Werte mit dem Ideal einer gleichen Gesellschaft zu verbinden suchten und Kontakte mit den Chartisten und Gewerkschaften knüpften. Innerhalb der Methodisten gab es in den 1830er und 40er Jahren wegen der als zu selbstherrlich empfundenen Führung von Jabez Bunting und der konservativen Haltung zu sozialen Fragen Spannungen.
Die Oxford-Bewegung erreichte mit John Henry Newmans Tract 90 von 1841, der die anglikanische Bekenntnisschrift nicht im Widerspruch zu den zentralen Gedanken des katholischen Glaubens sah, ihren brisanten Höhepunkt. Eine andere Gruppe innerhalb der Bewegung um Edward Bouverie Pusey hatte bedeutenden Einfluss auf die zunehmende Ritualisierung des Gottesdienstes, etwa die Einführung von Kirchengewändern.
Neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse beunruhigten die Kirche. Geologen stellten fest, dass die Erde nicht 4004 v. Chr. erschaffen wurde; die 1859 von Charles Darwin vorgestellte Evolutionstheorie schien den Schöpfungsbericht und die Sonderstellung des Menschen anzuzweifeln. Die Religiosität der breiten, theologisch naiven Masse blieb von der Kontroverse weitgehend unberührt.
Kirchliche Fragen bestimmten häufig die Debatten des Unterhauses. Peel ordnete eine Kommission an, die einen Bericht über den Zustand der Staatskirche liefern sollte. Daraufhin wurden 1836–40 drei wichtige Gesetze verabschiedet, die die Grenzen der Diözesen neu festlegten, einen Kirchenausschuss zur Finanzverwaltung vorsahen, die Anzahl der gleichzeitig ausgeübten Kirchenämter begrenzten und weitere finanzielle Anpassungen vornahmen. Ein staatliches Personenstandsbuch wurde eingerichtet, damit Nonkonformisten nicht mehr in anglikanischen Kirchen heiraten mussten. Edward Mialls Liberation Society ging ein Bündnis mit den Liberalen ein und erreichte, dass 1868 die universelle Kirchensteuer (Church Rate) fakultativ wurde.
Glaube und Moral
Die tiefempfundene moralische Verantwortung, die dem Weslayanismus und evangelikalen Bestrebungen innerhalb der Religionsgemeinschaften entsprang, war das beständigste Merkmal des Viktorianischen Zeitalters. Evangelikale verbreiteten ihren Glauben im Rahmen der Erweckungsbewegung durch Missionen im In- und Ausland, Traktate und öffentliche Predigten. Sie beeinflussten auch die Politk, was sich etwa im Gesetz zur Schließung aller Wirtshäuser von 1854 widerspiegelt (nach Aufständen ein Jahr später wieder aufgehoben).
Vor allem Angehörige der Mittelschicht suchten sich von der unzivilisierten Unterschicht und den Ausschweifungen des Adels abzugrenzen, indem sie häufig in der Bibel lasen, den Sonntag heiligten und in der Familie gemeinsam beteten, was noch im 18. Jahrhundert unüblich war. Predigtbücher waren Verkaufsschlager. Als schändlich galten unter anderem Glücksspiele und Alkohol. Abweichungen vom Moralkodex, etwa Scheidungen, wurde mit Empörung begegnet und führten oftmals zur sozialen Isolation. Die intrinsische Sündhaftigkeit des Lebens wurde mit Sparsamkeit, harter Arbeit, Anständigkeit und „guten Taten“ aufzuwiegen versucht – entweder, um am Jüngsten Gericht milder beurteilt zu werden, oder weil sozialer Aufstieg ein Indiz dafür schien, dass die Taten dem Herrn gefielen. Zudem wirkte die Rechtschaffenheit der Krone als Vorbild. Ob die Frömmigkeit der Massen gegen Ende des Jahrhunderts abnahm, ist unklar. Jedenfalls wurde das Familiengebet und der Gang zur Kirche seltener; kirchliche Berufe verloren an Beliebtheit.
Frauenfrage und Sexualethik
Die Autorin von populären Frauenratgebern Sarah Stickney Ellis formulierte 1839 das bürgerliche Ideal der Ehefrau als hochmoralischem und geistig reinem Wesen, das einen heimlichen, aber bedeutsamen Einfluss auf ihren in einer „getrennten Sphäre“ lebenden Gatten ausübt. Wie viele andere Autoren sah sie das Lebensziel der Frau darin, zu heiraten, Kinder zu gebären und sie aufopfernd großzuziehen. Da Arbeit außerhalb des Haushalts als verwerflich galt, hatten Frauen der Mittelschicht im Allgemeinen keine andere Wahl, als diesen Weg anzustreben. 1851 waren nur 7 % aller Frauen der Mittelschicht erwerbstätig. Gesetzlich waren verheiratete Frauen ihren Ehemännern fast völlig unterworfen, insbesondere hatten sie kein Recht auf Eigentum.
Ab den 1830er Jahren gab es Bestrebungen, die sich gegen diese Verhältnisse wandten. Caroline Norton spielte eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung des Sorgerechts 1839. Zusammen mit Barbara Bodichon setzte sie sich mit ihren Schriften für eine Stärkung der Frauenrechte bei Scheidung ein, was 1857 in einem entsprechenden Gesetz gipfelte (1873 und 1878 erweitert). Das Gesetz von 1870, das Frauen ein gewisses Eigentum nach der Ehe zusprach, entstand unter dem Einsatz einer Vereinigung von Frauenrechtlerinnen. Erst 1882 erwarben Frauen das Recht auf sowohl vor als auch nach der Ehe erworbenes Eigentum, nachdem ein Gesetzesentwurf von 1857 gescheitert war. 1869 erlangten Frauen das eingeschränkte Wahlrecht bei Gemeindewahlen, das sie bis 1835 hatten, wieder. Ein weiterer Gesetzesentwurf von 1870 über allgemeines Frauenwahlrecht, für das John Stuart Mill 1869 mit utilitaristischen Prinzipien argumentiert hatte, wurde von Gladstone abgelehnt. Eine militante Frauenrechtsbewegung kam gegen Ende des Jahrhunderts unter Emmeline Pankhurst auf.
Ausufernde Prostitution als scheinbarer Gegensatz zur oftmals gepriesenen Selbstbeherrschung und ehelichen Treue wird gerne als Beispiel für viktorianische Doppelmoral genannt. Tatsächlich tendierten viele Männer des Mittelstands dazu, die Heirat bis zum Aufbau einer gewissen finanziellen Sicherheit aufzuschieben und Zuflucht bei Prostituierten – deren tatsächliche Anzahl schwer zu ermitteln ist – zu suchen. Umgekehrt erschien die Prostitionion vielen Frauen, hauptsächlich aus der Unterschicht, als Möglichkeit zur Aufbesserung des Einkommens. Aufgrund der zahlreichen Fälle von Geschlechtskrankheiten im Militär wurden in den 1860er Jahren die Contagious Diseases Acts verabschiedet, die ärztliche Zwangsuntersuchungen bei mutmaßlichen Prostituierten, nicht aber bei Soldaten, anordneten. Dies schien legitim, da „gefallene Mädchen“ als bereits verdorben galten. Unter Josephine Butler formierte sich organisierter Widerstand, der das Thema in der Öffentlichkeit politisierte und letztendlich zur Aufhebung der Gesetze 1886 führte. 1885 wurde ein Gesetz verabschiedet, das das Schutzalter anhub, höhere Strafen für Bordellbesitzer festlegte und homosexuelle Handlungen kriminalisierte.
Bemühungen gab es auch um verbesserte Frauenbildung. Bodichon und Emily Davies gründeten 1869 das erste Frauencollege Großbritanniens mit Wohnheim, das spätere Girton College. Die University of London war die erste, die Frauen unter gleichen Bedingungen wie männliche Studenten aufnahm, und ermöglichte ihnen ab 1878 den Erwerb akademischer Grade. Die Bildungsreform von 1870 eröffnete Frauen neue Berufsmöglichkeiten im Schulwesen. Florence Nightingale trug zur Emanzipation der Frauen in der Krankenpflege bei. Einige Ärztinnen, etwa Elizabeth Blackwell, erwarben ihre Qualifikationen im Ausland und mussten sich gegen den Widerstand ihrer männlichen Berufskollegen durchsetzen.
Weitere Berufe öffneten sich den Frauen besonders in der Telekommunikation, der Post und der Eisenbahn, die gegen Ende des Jahrhunderts das Dienstmädchen und die Fabrikarbeiterin als gewöhnliche Beschäftigung für Frauen der Unterschicht abzulösen begannen. Kindermädchen waren nach wie vor beliebt, da wohlhabendere Frauen zunehmend von einem rein häuslichen Leben Abstand nehmen wollten.
Das Konzept der Sexualität selbst entstand im 19. Jahrhundert und wurde von Wissenschaft, Kriminalistik und Justiz aufgegriffen; in den 1890er Jahren leisteten Havelock Ellis und andere wichtige Beiträge zur Sexualforschung. Sexualität wurde kategorisiert, so etwa entstand der Begriff des „Homosexuellen“. Sex galt als tierisch-primitive Verhaltensweise, die kontrolliert werden und mit der sparsam umgegangen werden musste, da andernfalls die Karriere des Einzelnen oder gar die gesamte Wirtschaft leiden könnte. Diese Betrachtungsweise lässt sich auf den Evangelikalismus zurückführen, der in seiner extremen Form jegliches Vergnügen als unmoralisch betrachtete. Dass von Frauen erwartet wurde, beim Sex nicht erregt zu sein, lag zum Teil daran, dass die berufliche Leistungsfähigkeit des Mannes nicht gefährdet werden sollte. Da der weibliche Orgasmus unter Medizinern allgemein als Bedingung zur Zeugung galt, sollte hierbei wohl auch einer Schwangerschaft vorgebeugt werden. Die meisten Verfasser von medizinischen Lehrbüchern ermunterten Verkehr in der Ehe und wandten sich gegen Empfängnisverhütung, auch dann, als sie weite Verbreitung erlangt hatte. Einig waren sich Ärzte und Öffentlichkeit in der Schädlichkeit der Selbstbefriedigung.
Kunst und Alltagskultur
Sport
Mode
Literatur und Theater
Musik
Bildende Kunst
Ausblick
Der Übergang zum 20. Jahrhundert vollzog sich ohne besondere Einschnitte. Nach dem Tod Viktorias bestieg Eduard VII. den Thron (Edwardianische Epoche). Innerhalb der nächsten Jahre, insbesondere mit dem Verfassungskonflikt von 1910 und dem daruffolgenden Parlamentsgesetz, das die Macht des Oberhauses einschränkte, schritt die Demokratisierung Großbritanniens weiter voran. 1918 erhielten Frauen ein eigeschränktes Wahlrecht. Der Erste Weltkrieg schwächte den Staat politisch und wirtschaftlich, während die Vereinigten Staaten zur Großmacht aufstiegen. Nach seiner größten Ausdehnung um 1920 schrumpfte das Empire, indem nach und nach die Kolonien ihre Selbstständigkeit erlangten.
Rückblickend wurde das Viktorianische Zeitalter oft als „gute alte Zeit“ bezeichnet.
Literatur
- G. Kitson Clark: The Making of Victorian England. Methuen & Co., London 1962 (University Paperbacks, UP162), ISBN 0-416-69320-2
- Kurt Kluxen: Geschichte Englands. Kröner, Stuttgart 1968
- Stephen J. Lee: Aspects of British Political History, 1815–1914. Routledge, London/New York 1994, ISBN 0-415-09007-5
- Michael Maurer: Kleine Geschichte Englands. 2. Auflage. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-009616-2
- Gottfried Niedhart: Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert. 3. Auflage. C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-323057
- L. C. B. Seaman: Victorian England: Aspects of English and Imperial History 1837–1901. Routledge, London/New York 1973, ISBN 0-415-04576-2
- Herbert F. Tucker (Hrsg.): A Companion to Victorian Literature and Culture. Blackwell 1999, ISBN 0-631-20463-6
- Anthony Wood: Nineteenth Century Britain 1815–1914. Second edition. Longman, Harlow (Essex) 1982, ISBN 0-582-35310-6