ADB:Nitzsch, Friedrich August Berthold
*): Friedrich August Berthold N., geboren in Bonn am 19. Februar 1832, entstammt einer alten evangelischen Gelehrtenfamilie, die eine Reihe vortrefflicher Männer hervorgebracht hat. Zu den Bedeutendsten und Bekanntesten gehört sein Vater Karl Immanuel N., den Beyschlag[WS 1] mit Recht als „eine Lichtgestalt der neueren evangelischen Kirchengeschichte“ gezeichnet und den einst Schleiermacher den Mann genannt hat, von dem er am liebsten sowol gelobt werde als getadelt. Die imponirende Würde, die auch in seiner Physiognomie ausgeprägt war, schloß nun zwar keineswegs Heiterkeit, Milde und herzlichste Menschenfreundlichkeit aus, drückte aber doch dem häuslichen Leben seinen Ernst auf; er flößte seinen Kindern „so überwiegend das Gefühl der Ehrfurcht ein, daß er ihr unmittelbarer Vertrauter vorerst nicht sein konnte“; dazu war er zu idealistisch, zu fein, zu sehr ins Große und Tiefe gehend.
Nitzsch1847 mit dem Vater nach Berlin übergesiedelt, bestand Friedrich im Herbst 1850 die Reifeprüfung am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium. Das Zeugniß rühmt den erfreulichen Ernst seines ganzen Wesens bei guten Anlagen, den redlichen Eifer, der zumal den alten Sprachen zugewandt war und im lateinischen Stil formale und logische Triumphe feierte. Er ging ab, um Philologie zu studiren, trat aber noch im ersten Semester zur Theologie über. Sein fünfjähriger Universitätsbesuch in Berlin, Halle und Bonn gab ihm Gelegenheit, Männer wie Boeckh, Brandis, Curtius, Ranke, Trendelenburg, Weißenborn kennen zu lernen; unter den Theologen zogen ihn besonders Julius Müller, Rich. Rothe, Thiele und Ritschl an, mit dem er in dauernder freundschaftlicher Verbindung blieb. Den Haupteinfluß übte doch sein Vater, dessen sämmtliche Vorlesungen er besuchte. Wenn dieser sein ganzes Streben in den Dienst des Gedankens stellte, den unwandelbaren christlichen Glauben und die humane und wissenschaftliche Bildung seiner Zeit gründlich und ehrlich [786] mit einander zu vermitteln, so ging Friedrich auf diese Intention voll und ganz ein, so gewiß er seine wissenschaftliche Selbständigkeit auch dem Vater gegenüber, der übrigens Jeden frei gewähren ließ, bethätigt hat. Den Abschluß seiner theologischen Studien gewann er zunächst durch die theologische Prüfung (Juli 1855), wobei er in der Exegese sowie in Kirchen- und Dogmengeschichte sich auszeichnete. Der Neigung zur Lehrthätigkeit folgend, machte er alsbald das examen pro facultate docendi und fand Verwendung als Hülfslehrer, dann Collaborator am Grauen Kloster. Inzwischen bereitete er die akademische Laufbahn vor. Im Juni 1858 erwarb er den Licentiatengrad non sine laude durch eine Dissertation über quaestiones Raimundanae, wofür ihn die Leipziger historische theologische Gesellschaft unter Niedner’s Vorsitz zum Mitgliede erwählte; dann erfolgte am 16. Juli 1859 die, in Berlin von der Promotion statutenmäßig getrennte Habilitation bei der theologischen Facultät mit einer lateinischen Probevorlesung über die Rede des Stephanus (Act 7).
Auf neutestamentlichem Gebiet hat sich N., wenn wir von der Herausgabe einer Vorlesung Bleek’s (1865) absehen, kaum weiter bethätigt. Dagegen zeigte schon seine Dissertation ein unverkennbares Geschick, wichtige Gedankenreihen in ihrer Entstehung verständlich zu machen; sie behandelt den wichtigen Begriff der natürlichen Theologie, dessen Bahnbrecher Raymund von Sabunde[WS 2] gewesen ist. Bereits im folgenden Jahre erschien zur Feier der fünfzigjährigen Lehrthätigkeit seines Vaters ein sehr vortheilhaft aufgenommenes größeres Werk „Das System des Boëthius und die ihm zugeschriebenen theologischen Schriften. Eine kritische Untersuchung“. Bezeichnet Raymund den Uebergang von der Scholastik zur neuern Philosophie, so ist es Boëthius, der das Mittelglied zwischen der Scholastik und der antiken Philosophie bildet. Diesem Mann, der neben Augustin der Hauptlehrer des Mittelalters gewesen ist, wird eine eindringende Untersuchung gewidmet und vor allem das wichtige Problem erörtert, ob das metaphysische und theologische System des Boëthius aus dem Christenthum stammt oder, was N., der daraus die Unechtheit der unter dem Namen des Boëthius gehenden trinitarischen Schriften folgert, eingehend nachweist, in der antiken Philosophie wurzelt. Von Boethius ging N. auf Augustin zurück und stellte aus den Streitigkeiten seiner eigenen Zeit heraus an diesen die Frage nach seiner Apologetik des Wunderglaubens („Augustinus’ Lehre vom Wunder“ 1865). Wieder hatte sich N. an den Urheber einer ganzen Gedankenwelt gewagt und in erschöpfender Zusammenstellung seiner Aeußerungen die Entstehung einer Theorie nachgewiesen, die bis heute zur wissenschaftlichen Vertheidigung des Wunders verwendet wird.
Diese allseitig anerkannte Leistung brachte ihm noch im gleichen Jahre einen Ruf an die evangelisch-theologische Facultät zu Wien. Doch blieb, vielleicht infolge der gespannten Beziehungen zwischen Preußen und Oesterreich, die endgültige Ernennung aus. Auch eine Placirung in Greifswald, wo N. etwa gleichzeitig an erster Stelle präsentirt war, unterblieb, da der Cultusminister v. Mühler, bei dem damals selbst Männer wie Karl Immanuel Nitzsch und Dorner nichts mehr vermochten, ihm trotz Zusicherung „theilnehmender Aufmerksamkeit“ nicht geneigt war. Dem Decernenten Kögel, der damals die einflußreichste Stimme in Personalien hatte, den Hof zu machen, wie Viele es thaten, konnte sich N., wiewol er ihn persönlich kannte, in edlem Selbstgefühl nicht entschließen, da dieser „junge Mann“ „nie bewiesen habe, daß er von Wissenschaft etwas versteht“. Doch ernannte die Greifswalder theologische Facultät, um ihm ihre dauernde Schätzung auszudrücken, ihn, den Privatdocenten, zum Doctor der Theologie (August 1866) und schließlich fand er, [787] allerdings zunächst außerhalb Mühler’s Bereich, eine angemessene Lehrthätigkeit, indem er im Mai 1868 als ordentlicher Professor für systematische Theologie nach Gießen berufen wurde.
In die Gießener Periode fällt die Zusammenfassung seiner ausgedehnten dogmengeschichtlichen Studien in dem „Grundriß der christlichen Dogmengeschichte. Erster Theil. Die patristische Periode“ (Berlin 1870). Das Bedeutende des Werkes, das von Kennern wie Ritschl und später Harnack anerkannt wurde, liegt nicht nur in der sichern Beherrschung eines umfassenden Stoffes, sondern in der neuen Methode, die es befolgt. Aus der neuern Philosophie hat N. die Erkenntniß gewonnen, „daß das Gesetz organischer Entwicklung, welches die höheren Stufen des Naturlebens beherrscht, auch der Geschichte innewohnt und in dieser Einheit und Zusammenhang stiftet“. Daraus ergibt sich ihm auch für die Dogmengeschichte die Ueberzeugung, daß in ihr nicht ein bloßes Nebeneinander und Nacheinander von Finsterniß und Licht oder ein buntes Spiel des Zufalls oder menschlicher Willkür, sondern „eine stufenmäßige, dem Gesetze einer inneren objektiven Nothwendigkeit gehorchende Entwicklung herrsche“. Während nun aber die von Hegel ausgegangene Geschichtsforschung bei gleicher Grundanschauung durch ihren Intellectualismus dazu verführt ward, vor allem die theologisch-philosophischen Spitzen des Dogmas zu berücksichtigen und dadurch principiell über die alte Methode, den dogmengeschichtlichen Stoff in ein der zeitgenössischen Theologie angehöriges abstractes Schema zu spannen, nicht hinauskam, war N. an Schleiermacher wie an den wichtigen Monographieen eines Ritschl, Lipsius u. A. die Erkenntniß aufgegangen, daß vielmehr zwischen der concreten Ausprägung des religiösen Lebens und der sie begleitenden Speculation unterschieden werden müsse. So ergab sich schon im Neuen Testament die Unterscheidung der Elemente, welche „zum Kern der religiösen Heilslehre“ gehörten, von solchen einer „lebensvollen apostolischen Theosophie“, welche jenen Kern „nur einfaßten und umgaben“. Für die Dogmengeschichte aber zeigte sich, daß „der religiöse Kern des Dogmas“ „eine vorerst unauflösliche Verbindung mit Elementen eingegangen war, die theils überhaupt nicht religiöser Natur waren, theils Reste der spezifisch jüdischen oder heidnischen Theologie darstellten“. Kraft solcher lebensvollen religions- und entwicklungsgeschichtlichen Auffassung der dogmatischen Lehrbildung ist es N. gelungen, die bis dahin übliche Gliederung des geschichtlichen Stoffes nach dem abstrakten Schema der dogmatischen loci zu durchbrechen. Zwar bildet „die Feststellung derjenigen Dogmen, welche die einzelnen Momente des kirchlichen Lebens darstellen“ nach der Localmethode noch ein Drittel des Ganzen, aber bahnbrechend ist der Versuch einer Gruppirung „aus dem dogmatisch-christlichen Bewußtsein der Kirchenväter selbst heraus“; demgemäß wird die Lehre von der Gottheit Christi (freilich ohne die dazugehörige Heilslehre) in den Mittelpunkt gestellt und der „Entwicklung der altkatholischen Kirchenlehre“ eine „Begründung der altkatholischen Kirchenlehre (erste Herausstellung einer förmlichen Bekenntnißgrundlage)“ vorangeschickt. Damit ist die später von Harnack zum Siege geführte Gruppirung in wichtigen Punkten bereits vorgezeichnet, wenn auch N. noch nicht mit fester Hand die neue Anschauung durchzuführen vermocht hat.
Nachdem N. sich so in Gießen einen mit Ehren genannten Namen gemacht hatte, führte ihn 1872 ein ehrenvoller Ruf an die Universität Kiel, der er 26 Jahre lang als eines ihrer treuesten, fleißigsten und geachtetsten Mitglieder angehört hat. Dort hat er in langer und segensreicher Arbeit bis an sein Ende gewirkt, mit Universität und Stadt nach der ganzen Treue seiner Art verwachsen. Dort hat er in zweimaliger glücklicher Ehe sein Haus [788] begründet und nach einer bald durch den Tod gelösten Ehe mit Paula Mack (1871–1878) 1877 mit Sophie geb. Becker aus Basel einen bis an sein Ende reichenden, durch drei Söhne und eine Tochter gesegneten Lebensbund geschlossen. Seine Studien gehörten in den ersten Jahren vornehmlich noch der Dogmengeschichte. Zu einer Fortsetzung seines Werkes kam es leider nicht, doch zeigen zahlreiche Aufsätze über Scholastische Theologie und ihre namhaftesten Vertreter in der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche und ebenso zahlreiche Recensionen in der Jenaischen sowie in der Theologischen Litteraturzeitung eine sehr umfassende Kenntniß dieses entlegenen Gebietes. Eine kleine, freilich wichtige Einzelfrage konnte den gründlichen Mann unausgesetzt beschäftigen: die siegreiche Durchführung der These, daß der scholastische terminus technicus „Synteresis“[WS 3] lediglich auf einer falschen Lesart einer Stelle bei Hieronymus anstatt συνείϑησις[WS 4] beruhe. In der gleichen Linie der Forschung liegt die kleine Schrift: „Luther und Aristoteles. Festschrift zum 400jährigen Geburtstag Luthers“ (Kiel 1883) in der N. von seiner dogmengeschichtlichen Erkenntniß aus die eigenartig schroffe Ablehnung des Philosophen durch den Reformator geschichtlich verständlich macht und zeigt, daß es nicht eigentlich die aristotelische Philosophie als solche, sondern die ihr von der Scholastik ausgewiesene falsche Autoritätsstellung war, auf deren Vernichtung Luther im Interesse seiner Heilslehre ausging. Ueber die protestantische Theologie liegen größere Arbeiten Nitzsch’s nicht vor. Doch las er regelmäßig über Geschichte der neuern Theologie und eine Reihe von Aufsätzen zeigt, daß er nicht nur der Einwirkung Schleiermacher’s und unserer Dichter, zumal Goethe’s und der Romantik, sich offen hielt, sondern auch „die geschichtliche Bedeutung der Aufklärungstheologie“ mit großer Unbefangenheit zu würdigen vermochte.
Den weiten Gesichtskreis Nitzsch’s zeigt auch seine Rectoraterede über „Die Idee und die Stufen des Opferkultus“ (1889). Hier gibt er nicht nur eine sorgfältige und von eindringender Schärfe zeugende Analyse des speciellen Problems; er beginnt mit einem kurzen aber lehrreichen Ueberblick über die Entwicklung der allgemeinen Religionswissenschaft und weist darauf hin, daß auch die Theologie im Verständniß der Religion sich nicht mehr auf die apriorische, speculative oder positiv-dogmatische Methode beschränke, sondern sich bis in die Bestimmung des Religionsbegriffs hinein durch die Ergebnisse der empirischen allgemeinen Religionswissenschaft beeinflussen lasse. Diese Probe von Nitzsch’s Behandlung der „Religionsphilosophie nebst Religionsgeschichte“, über die er regelmäßig Vorlesungen hielt, ist um so interessanter, da er zu Veröffentlichungen größern Maßstabes auf diesem Gebiet nicht gelangt ist.
In Wahrheit freilich enthält sein „Lehrbuch der evangelischen Dogmatik“, dessen erste Hälfte 1889, die zweite 1892 erschien und das 1896 eine zweite Auflage erlebte, in der ausführlichen Darstellung der Principienlehre einen großen religionsphilosophischen Stoff, insbesondere einen werthvollen Ueberblick über die verschiedenen Ansichten vom Ursprung und Wesen der Religion; auch ist hier der gesammte Ertrag seiner historischen Arbeiten zusammengefaßt. Nicht nur sofern mit voller Objectivität und innerm Behagen an der geschichtlichen Mannichfaltigkeit ein reiches und getreues Bild von der Entwicklung der dogmatischen Anschauungen gegeben wird. Wichtiger noch ist, daß die ganze Darstellung von echt historischem Geiste getragen ist. Der „Menschheit als einer geschichtlichen Größe, die sich in der Zeit entwickelt“ und die „einerseits durch die leitenden Kulturvölker, andererseits durch die Kirche vertreten wird“, ist das Heil verliehen, so daß es „ein geschichtliches Agens und Ferment geworden ist nicht nur für eine Summe von Individuen, sondern für [789] einen organisch sich entwickelnden kontinuirlichen Gemeinschaftskörper“. Demgemäß wird das Christenthum in den allgemeinen Zusammenhang der Weltgeschichte eingefügt. „Kunst und Wissenschaft waren von den Griechen, die Technik des Staatslebens war von den Römern auf einen hohen Grad der Vollendung gebracht, als das Christenthum in die Welt trat. Was dem wissenschaftlichen, künstlerischen, politischen und socialen Leben der Griechen und Römer zumal in der späteren Zeit fehlte, war nur eben die religiös-sittliche Grundlage“. Auch eine geschichtliche Entwicklung des Christenthums selbst wird anerkannt, nämlich die „über den Schriftinhalt zwar hinausgreifenden, aber demselben nicht zuwiderlaufenden Bestrebungen der Kirche, die Idee des Christenthums nach Maßgabe des geschichtlich entstandenen Zustandes der Kirche in bestimmten konstanten Lebens- und Lehrformen zur Darstellung zu bringen“. So ist z. B. der Protestantismus nicht eine einfache Dublette des ursprünglichen Christenthums, sondern „die durch den Gegensatz des falschen Katholicismus bedingte Gestalt des reinen, dem Evangelium entsprechenden Christenthums. Auch ist in der Reformationszeit eine endgültige Ausprägung dieses Christenthums noch nicht erreicht worden. Wir Christen der Gegenwart verfügen gegenüber der Reformationszeit „nun einmal über eine kirchengeschichtliche Erfahrung, welche man damals, kaum dem Mittelalter entwachsen, noch nicht haben konnte. In den letzten drei Jahrhunderten hat sich herausgestellt, daß wahres Christenthum auch da sein kann, wo Ueberzeugungen herrschen, welche die Reformatoren theilweise für häretisch erklärt haben würden“.
Eingefügt in den allgemeinen Zusammenhang der Weltgeschichte, aufgeschlossen für alles Geistesleben unserer Zeit, auch für ihre Naturerkenntniß, trägt doch für N. das Christenthum absoluten, supranaturalen Charakter, Mystik und Symbolik gehört zu seinem, wie aller Religion, Lebenselement. Eine „mystisch verklärte ethische Gotteskindschaft“ und auf ihrem Grunde die Stellung als „Stellvertreter, Statthalter und Repräsentant Gottes selbst“ machen den wesentlichen Gehalt der „einzigartigen Gottessohnschaft Christi“ aus. Auf ihn das Prädicat der Gottheit anzuwenden, wird zwar vermieden, doch ist in seiner Erscheinung und der mit ihr vollzogenen, „die Schöpfung ergänzenden und vollendenden Höherbildung der menschlichen Natur“ ein „metaphysisches Wunder“ anzuerkennen, ein Novum, „welches nur durch ein nachschaffendes, unmittelbares Eingreifen Gottes zu erklären ist“. Die hier zum Ausdruck kommende Grundposition Nitzsch’s läßt sich wohl am richtigsten als zeitgemäße Fortbildung der theologischen Anschauungen bezeichnen, die Männer wie K. I. Nitzsch, Jul. Müller, Dorner vertreten haben, d. h. der sog. deutschen Vermittlungstheologie. Allerdings haben die historisch-kritischen Forschungen seiner Zeit, an denen er so intensiven Antheil nahm, seinen Supranaturalismus brüchiger gemacht und ihn der Spekulation mehr entfremdet, als es der Vermittlungstheologie alten Stils eigen war. Eben diese Fortbildung alter Tendenzen führte ihn in die Nähe von Ritschl und Lipsius, die von gleichem Boden ausgegangen sind. Er theilt mit beiden, was sie gemeinsam haben, den starken Zug zur Geschichte und die Anlehnung an den Kantischen Kriticismus. Mit Ritschl verbindet ihn sein Supranaturalismus, mit Lipsius sein ethisch-mystischer Religionsbegriff. Von beiden ließ er sich anregen und befruchten, ohne doch einem von ihnen seine Selbständigkeit zu opfern, wie aus seinen noch heute lesenswerthen Besprechungen ihrer Hauptwerke in den Jahrb. f. deutsche Theol. Bd. 20 (Ritschl) und in der Theol. Litteraturzeitung Bd. 1877. 1879 (Lipsius) hervorgeht. Mit seinem Takt für das in der Mittellinie Liegende hat sein Eklekticismus nicht selten in [790] glücklicher Formulirung die Probleme über sie hinaus gefördert; dagegen darf man eine im Princip über sie und ihren Gegensatz hinausliegende und tiefer gehende Bearbeitung der Probleme bei ihm nicht suchen. Denn die für einen solchen Erfolg entscheidende Voraussetzung, eine Subjectivität von so großer Energie, daß sie die Probleme in persönlicher und individueller Innerlichkeit sich zueignet und durchlebt und ihre Bewältigung als Lösung eigner Lebensprobleme erfährt, war ihm nicht gegeben.
Wohl aber ist auch sein „Lehrbuch“ die Probe einer nicht geringen Lehrbefähigung, die das Vergangene, Ueberlebte mit einleuchtender Kritik von dem Lebenskräftigen unterscheidet und die Probleme klarstellt, an denen weiter zu arbeiten ist. Auch die gründliche und geordnete Gelehrsamkeit, die knappe Fassung der Probleme, die umsichtige Herausstellung und oft glückliche Formulirung der Punkte, in denen ein Consensus erzielt ist, zeigen deutlich die Art der Pädagogik Nitzsch’s. Sein mündlicher Vortrag bediente sich keiner andern Mittel, als die Sache selbst sprechen zu lassen; die eigene Subjectivität war durchaus zurückgedrängt und zeigte sich nur in dem vornehmen, über den Parteien stehenden, alles erwägenden Charakter. Auf die Persönlichkeit einzudringen, sie auch nur kräftig anzufassen, scheute sich N., aber durch seine Gründlichkeit und Schlichtheit hat er sich die Dankbarkeit tüchtiger Schüler erworben. Daß er mit ganzer Seele hinter seiner Sache stand, konnte Niemandem verborgen bleiben. Einer der wenigen, die seine gesammte öffentliche Thätigkeit von der Jugendzeit bis an das Ende überschauen können, D. Thikötter, gibt ihm das Zeugniß: Wir freuten uns als Studenten stets, wenn er unter uns war. Welch ein liebenswürdiger Mensch! Bei seiner stets ernsten Haltung voll Freundlichkeit, innerer Heiterkeit und Humor! In der Tat verband sich bis in die letzten Lebensjahre seine ruhige Klarheit und Gründlichkeit, sein sittlicher Ernst und die Treue seines Wesens mit einem milden und bei der sonstigen Schwere seiner Art oft unerwartet glänzenden Humor, der frisch und natürlich seinem Gemüthe entquoll.
Erwachte schon in seinen Knabenjahren in ihm, wie in andern seines Geschlechts, die Lust am eigenen Dichten und Singen und lag ihm auch später nicht selten der poetische Ausdruck näher als der prosaische, so hat er sich an unsern Classikern dauernd gebildet, die er nicht nur als Dichter, sondern als „Reformatoren der ganzen Lebens- und Weltanschauung des deutschen Volkes“ würdigte. In einem sehr ansprechenden Aufsatz über „Poesie und Religion in der neuern deutschen Litteratur“ („Grenzboten“ 1879) spricht er es aus, daß die Poesie nicht nur unentbehrliches Werkzeug der Religion, sondern auch in ihrer Selbständigkeit der Religion verwandt ist, weil beide sich in dem Grenzgebiet zwischen dem Element des Denkens einerseits und des Fühlens und Anschauens andrerseits bewegen und durch Phantasie und Gefühl uns das Mysterium ahnen lassen, das als ein leuchtender Punkt uns den Blick in das ewige Wesen eröffnet. Bei aller Werthschätzung von Poesie und Musik in ihrer verklärenden und veredelnden Wirkung will N. sie nicht als Surrogate der Religion gelten lassen, weil sie nicht den tiefsten Zwiespalt im Innern des Menschen heilen, kein reines Gewissen schaffen können; aber anderseits dürfen wir „nicht vergessen, daß auch unsre religiösen Vorstellungen einen Beisatz von Poesie haben, der vom tiefsten Kern zu unterscheiden ist, und den wir Niemandem aufnötigen können, weil die Anerkennung bestimmter ästhetischer Anschauungsformen nicht in dem Sinne und Maße, wie die der ethischen Grundlagen der Frömmigkeit, von jedermann gefordert werden kann. Aber auch das wird sich aus unsern Erwägungen ergeben haben, daß wir ohne jedes (wenn auch unbewußte) Gefühl für Poetisches auch unsre eigne Religion [791] nicht völlig zu verstehen vermögen“. Der dies schrieb, hatte mehr als ein unbewußtes Gefühl für Poesie; er war auch ein durch und durch musikalischer Mensch, dem die Pflege der Musik in seinem Wirkungskreise eine sittliche Nothwendigkeit war, den auch das musikalische Leben Kiel’s zu seinen wärmsten Förderern zählte.
Aus den Anregungen der herrlichen Schumann’schen „Scenen zum Faust“ erwuchs ihm ein kleiner Artikel in den Preuß. Jahrb. Bd. 56 über „die Schlußworte des Goethe’schen Faust“. N. findet das Charakteristikum des „Weiblichen“ darin, daß es den Zeugungstrieb des Mannes erregt, die schaffende Thätigkeit, die ihn hinanzieht. So erscheint denn die Anregung der begeisterten Freudigkeit, des thatkräftigen Schaffens und Arbeitens zum Besten der Menschheit als des Weiblichen umfassender Zweck.
Zeigt sich in alledem ein echt deutscher, an unsern Classikern genährter ethischer Idealismus, der den ihnen entströmenden „neuen humanen Geist“ mit dem religiösen Bedürfniß in Verbindung zu setzen wußte, so ergibt ein schwungvoll geschriebener Aufsatz „Zur Geschichte der Entwicklung des deutschen Nationalbewußtseins, besonders im 18. Jahrhundert“ („Nord und Süd“ 1893), wie er innerlich an den nationalen Hoffnungen unsers Volkes und ihrer Erfüllung betheiligt war; er führt uns Klopstock’s, Herder’s, Goethe’s, Schiller’s, Friedrich’s des Großen Stellungnahme zur nationalen Idee vor und schließt mit einem Hymnus auf die Begründung des Reiches durch Bismarck. Bezeichnend für seine gesamte politische Auffassung ist der Schluß: „So stark auch die Reste des Partikularismus, des abstrakten Liberalismus und des ultramontanen Kosmopolitismus in unserm Vaterlande noch sein mögen, das Deutsche Reich und das deutsche Kaiserthum – sie werden sich mit Gottes Hülfe behaupten – sollte ihnen auch ein harter Vertheidigungskampf bevorstehen“. Am nächsten stand seine Auffassung der Heinrich v. Treitschke’s, von dem er urtheilte, er sei dem großen Thema von der Errichtung des Reiches so „congenial wie kein zweiter Historiker“. In die neuesten Phasen geistiger und socialer Entwicklung des deutschen Volkes wußte sich sein Geist nicht zu schicken und es bangte ihm vor der Verwirrung der christlich-sittlichen Ideale mit den materiellen, „diesseitig-chiliastischen“ Zielen der Arbeiterbewegung.
Sein Christenthum, das er Niemandem je aufgedrängt hat, das aber auch Niemand ihn je hat verleugnen sehen, dies „freie und fromme, nüchterne und tiefe, vor allem tief ethische“ Christenthum hat er auch in den letzten langen Wochen des Leidens und des Abnehmens der Kraft bewährt. Auch da hat er nicht viel geredet von dem, was ihm Trost und Kraft gab, aber er hat sich still gefunden in einen allzufrühen Abschied von den Seinen, noch zuletzt sich mühsam aufgerafft im Gehorsam der Pflicht, in der Sorge um seine Kinder und um seinen Lehrstuhl. Am 21. December 1898 wurde er durch einen sanften Tod abgerufen.
- Vgl. Baumgarten Deutsch-evangelische Blätter Bd. 24, 116–133, auch des Unterzeichneten Aufsatz in der Protestantischen Realencyklopädie 3. Aufl. Bd. 14, S. 125–128.
*) Zu S. 638.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Johann Heinrich Christoph Willibald Beyschlag (1823–1900); deutscher evangelisch-lutherischer Theologe und einflussreicher Kirchenpolitiker
- ↑ Raimundus Sabundus, eigentlich Ramon Sibiuda (ca. 1385–1436) katalanischer Philosoph
- ↑ syntereou = bewahren, erhalten, schützen ?
- ↑ Syneithesis = Bewußtsein, Gewissen