Aus einer seit Ende des 17. Jahrhunderts in Ffm. ansässigen Familie. Im Jahr 1674 erschien in Ffm. das bedeutende Reisetagebuch von Stephan G. d. Ä. (1546-1612), einem Vorfahren G.s, der von 1573 bis 1578 als evangelischer Gesandtschaftsprediger des kaiserlichen Botschafters in Konstantinopel geweilt hatte und dessen Aufzeichnungen aus dieser Zeit von seinen Nachkommen im Druck herausgegeben wurden.
Der Großvater von Walter G., Johann Jakob G. (1829-1902), war als Maurer und Architekt in Ffm. tätig. Der Vater, Johann
Valentin G. (1858-1957), war Mediziner und zeitweise im bakteriologisch-hygienischen Institut von Prof. Meinecke in Wiesbaden beschäftigt, dessen Mitinhaber, Dr. Emil Niederhaeuser, sein Schwager war. Valentin G. war an der Entwicklung des Desinfektionsmittels „Lysol“ beteiligt und übernahm später (1910) die wissenschaftliche Leitung des „Bundes Deutscher Nahrungsmittel-Fabrikanten und -Händler“ mit Sitz in Nürnberg; zudem war er u. a. langjähriger Redakteur der „Deutschen Lebensmittel-Rundschau“ und Mitglied im Reichsgesundheitsamt. Seit 1888 war er verheiratet mit
Marie Wilhelmine G., geb. Niederhaeuser (1863-1941). Aus der Ehe gingen drei Söhne hervor: Walther als Ältester sowie die Zwillinge Werner (1891-1963; später Pathologe) und Wolfgang (1891-1976; später praktischer Arzt). Das liberale Milieu des Elternhauses weckte frühzeitig ein umfassendes naturwissenschaftliches Interesse bei G., etwa durch die Tätigkeit des Vaters, aber es förderte auch seine musischen Neigungen und ein strenges Pflicht- und Arbeitsethos.
Walther G. absolvierte 1908 sein Abitur am Humanistischen Gymnasium in Wiesbaden und studierte zunächst Philosophie und Mathematik, dann Physik in Tübingen. Mitglied im Corps Borussia. 1912 Promotion mit einer Arbeit über „Eine Methode zur Bestimmung der Strahlung in absolutem Maß und die Konstante des Stefan-Boltzmann’schen Strahlungsgesetzes“ bei Friedrich Paschen (1865-1947), dessen langjähriger Assistent er wurde. Unter Paschens Einfluss entwickelte sich G. – vor allem durch genaue Präzisionsmessungen – zu einem herausragenden Experimentalphysiker. 1916 Habilitation mit „Experimentellen Untersuchungen über die absolute Messung und Größe der Konstanten des Stefan-Boltzmann’schen Strahlungsgesetzes“ und Ernennung zum Privatdozenten in Tübingen. Während seiner Militärzeit (1915-19) u. a. technische Tätigkeiten bei den Funkertruppen (u. a. mit Gustav Hertz) mit Einsätzen an der Westfront. 1917 Zulassung als Privatdozent in Göttingen. Von 1919 bis 1920 Leitung des Physikalischen Laboratoriums der Farbenfabriken Elberfeld.
Zum 1.10.1920 wurde G. als Privatdozent mit einem Lehrauftrag für „Höhere Experimentalphysik“ und erster Assistent bei
Richard Wachsmuth an das Institut für Experimentalphysik der Universität Ffm. berufen. Dort knüpfte er schnell enge Verbindungen zum Institut für Theoretische Physik unter der Leitung von
Max Born, wo auch
Otto Stern seit 1914 als Privatdozent wirkte.
Stern, den G. bereits in Berlin kennengelernt hatte, überzeugte ihn, an der Durchführung von Atomstrahlversuchen mitzuarbeiten, dem heute unter dem Namen der beiden Physiker bekannten „Stern-Gerlach-Experiment“, das schließlich den experimentellen Beweis für die Richtungsquantelung lieferte. Ziel des Versuchs war eigentlich die experimentelle Widerlegung der von Peter Debye und Arnold Sommerfeld postulierten Richtungsquantelung zur Erklärung des Zeeman-Effekts (d. i. der Aufspaltung von Spektrallinien durch ein Magnetfeld) auf Grundlage und Weiterentwicklung der von Louis Dunoyer de Segonzac entwickelten Atomstrahlmethode. Während
Stern vor allem die theoretische Planung des Experiments zusammen mit dem Institutsmechaniker Adolf Schmidt übernahm, trug G. mit seinen experimental-physikalischen Fähigkeiten in der Durchführung und Überwachung des Experiments entscheidend zu dessen Erfolg bei, zumal
Stern noch vor dessen Abschluss einem Ruf nach Rostock folgte. Im Februar 1922 gelang erstmals der Nachweis einer Dublettaufspaltung eines Silberstrahls in einem inhomogenen Magnetfeld.
Stern und G. deuteten das Ergebnis allerdings noch im Sinne von Bohrs Atommodell, bis die Entdeckung des Elektronenspins (durch George Eugene Uhlenbeck und Samuel Abraham Goudsmit, 1925) die Erklärung lieferte. Das Stern-Gerlach-Experiment steht am Übergang von der klassischen Atomtheorie zur modernen Quantenphysik. Daneben arbeitete G. zusammen mit
Born über Elektronenaffinität und Gitterstrukturen, wofür er eine Röntgenröhre entwickelte.
Nachdem G. bereits im November 1920 zum außerordentlichen Professor ernannt worden war, konnte er 1921 in Ffm. gehalten werden, obwohl er einen Ruf aus Chile erhalten hatte. Neben seinen Vorlesungen hielt er in Ffm. öffentliche Vorträge im Physikalischen Verein (Ehrenmitglied seit 1949) und beim Ffter Bund für Volksbildung. In Ffm. verkehrte G. im Kreis von
Moritz Oppenheim, dem Stifter des Ffter Lehrstuhls für theoretische Physik, und dessen Frau Katharina, geb. Edle von Kuffner (1862-1933), die in ihrem Haus auch zahlreiche Musikveranstaltungen gaben. Dadurch lernte G. den Dirigenten und Komponisten
Ludwig Rottenberg kennen, den musikalischen Chef des Ffter Opernhauses, der – G.s starkes musikalisches Interesse fördernd – ihm regelmäßig den Besuch von Probevorstellungen ermöglichte. Auch machte G. in Ffm. die Bekanntschaft mit Vertretern der Neuen Musik wie
Hermann Scherchen und
Paul Hindemith. Das Café Rühl (Reuterweg 71/Ecke Grüneburgweg 70) wurde zu einem wichtigen Treffpunkt und wissenschaftlichen Stammtisch, u. a. mit
Max Born. Rückblickend äußerte G.: „‚Frankfurt‘ waren meine glücklichsten Jahre. Damals hatte ich Zeit, denn ich brauchte keinen Schlaf. Ich arbeitete – ich darf sagen – nicht wenig, aber ich liess auch sonst nichts aus!“ (Zit. nach Huber: Walther Gerlach 2014, S. 200.)
1925 wechselte G. – auf nachdrückliche Empfehlung von Albert Einstein (1879-1955) – nach Tübingen, wo er den Lehrstuhl Paschens und die Leitung des Physikalischen Instituts übernahm. 1929 erhielt er einen Ruf an die Universität München, wo G. mit einer kurzen Ausnahme (Bonn 1946-48) bis zu seiner Emeritierung 1957 lehrte. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die vor allem anwendungsbasierte Forschungen waren, beschäftigte sich G. u. a. mit magnetischen Erscheinungen, molekularen Spektraluntersuchungen, etwa der chemischen Spektralanalyse, und der Verbreitung von Radioaktivität. Wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, im Herbst 1933, bekam G. zunächst Vorlesungs- und Prüfungsverbot (bis Anfang 1934). Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs gehörte er seit November 1939 zu der vom Oberkommando der Marine errichteten „Arbeitsgemeinschaft Cornelius“ (AGC), in der er an der Entmagnetisierung von Schiffen und Torpedos arbeitete. Nach Auflösung der AGC wurde er von Hermann Göring zum Leiter der Fachsparte Physik im Reichsforschungsrat (1943) und zum Bevollmächtigten für Kernphysik (1944) ernannt, womit er leitende Verantwortung für das deutsche Uran-Projekt trug. G.s Rolle in diesem Projekt, das (erfolglos) an der Entwicklung eines Kernreaktors arbeitete und angeblich die Möglichkeiten zum Bau einer Atombombe in Deutschland wissenschaftlich geprüft haben soll, wird erst seit einigen Jahren kritisch erforscht und diskutiert.
Nach Kriegsende wurde G. mit anderen prominenten deutschen Kernphysikern, u. a.
Otto Hahn, Werner Heisenberg (1901-1976),
Max von Laue und Carl Friedrich von Weizsäcker, in Farm Hall (nordwestlich von Cambridge/England) interniert, wo sie im August 1945 vom Abwurf der ersten Atombomben (durch die USA auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki) erfuhren. Später, im Zuge der Diskussionen um die Wiederaufrüstung und die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, gehörte G. zu den Unterzeichnern der „Göttinger Erklärung“ (12.4.1957), in der sich 18 deutsche Kernphysiker (darunter
Born,
Hahn, Heisenberg,
Laue und Weizsäcker) gegen den Besitz von Atomwaffen und für eine friedliche Nutzung der Kernenergie aussprachen.
Zwischen G. und
Stern kam es nach dem Krieg nur zu einem einzigen Treffen in Zürich, da
Stern nach seiner Emigration in die USA deutschen Boden möglichst mied und sein Verhältnis zu G. distanziert blieb. G. erinnerte durch Vorträge, etwa 1960 im Physikalischen Verein in Ffm., an das Stern-Gerlach-Experiment und verfasste nach
Sterns Tod (1969) eine Würdigung zu dessen Gedenken in den Physikalischen Blättern.
Neben seiner Tätigkeit an der Universität München (auch als Rektor, 1948-51) war G. als Wissenschaftsorganisator in zahlreichen Gesellschaften und Gremien tätig, u. a. als Vizepräsident der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und der daraus entstandenen Deutschen Forschungsgemeinschaft (1949-61), Gründungspräsident der Fraunhofer-Gesellschaft (1949) und Senatsmitglied der Max-Planck-Gesellschaft (1951-69). Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (seit 1930), der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (seit 1931) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (seit 1947). Ehrenmitglied der Académie Internationale d’Histoire des Sciences.
Weitere Schriften (in Auswahl): „Der experimentelle Nachweis der Richtungsquantelung im Magnetfeld“ (mit
Otto Stern, in: Zeitschrift für Physik, 1922), „Das magnetische Moment des Silberatoms“ (mit
Otto Stern, 1922), „Messung des Strahlungsdruckes mit Radiometern“ (mit Alice Golsen, 1923), „Elektronenaffinitätsspektrum des Jod-Atoms“ (mit Fritz Gromann, 1923), „Neue Methode zur direkten Messung des Intensitätsverhältnisses von Mehrfachlinien“ (mit Otto Brezina, 1924), „Experimentelle Grundlagen der Quantentheorie“ (1921) und „Foundation and methods of chemical analysis by the emission spectrum“ (mit Eugen Schweitzer, 1929). Außerdem beschäftigte sich G. mit der Geschichte der Naturwissenschaften und verfasste einige biographische Arbeiten, insbesondere über Johannes Kepler (mit Martha List, erstmals 1966), aber auch über
Otto Hahn (erstmals 1969). Stets war er bemüht, durch öffentliche Vorträge (auch im Rundfunk) und Experimente (etwa in Fernsehsendungen in den 1950er Jahren), zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu vermitteln. Eine Auswahl aus seinen Schriften und Briefen (hg. v. Hans-Reinhard Bachmann und Helmut Rechenberg) erschien 1989.
Zahlreiche weitere Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. Bayerischer Verdienstorden (1959), Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste (1962), Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern (1970) und Harnack-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft (1974) sowie Ehrendoktor der Universitäten Münster, Saarbrücken, Clausthal und Tübingen. G. erhielt 30 Nominierungen für den Nobelpreis, ohne ihn jedoch zu bekommen.
Nachlass im Deutschen Museum und in der UB in München.
Zum 80. Jahrestag des Stern-Gerlach-Experiments 2002 wurde im Rahmen eines Festprogramms der Universität Ffm. eine Gedenktafel am Physikalischen Institut in der Robert-Mayer-Straße 2 angebracht. Erhaltene Originalteile und eine Rekonstruktion des Versuchsaufbaus waren in den Originalräumen und später in der Jubiläumsausstellung der Universität im Haus Giersch 2014 zu sehen. Die nunmehrige „Alte Physik“ (seit 2017: Arthur-von-Weinberg-Haus; dort weiterhin Sitz des Physikalischen Vereins) wurde als Schauplatz des Stern-Gerlach-Experiments 2014 von der Europäischen Physikalischen Gesellschaft als „Historic Site“ ausgezeichnet, worauf eine im September 2019 vorgestellte Plakette an dem Gebäude hinweisen wird. Zum 100. Jahrestag des Stern-Gerlach-Experiments 2022 veranstalteten die Deutsche Physikalische Gesellschaft, der Ffter Physikalische Verein, der Fachbereich Physik der Ffter Universität und die Gesellschaft Deutscher Chemiker eine Feierstunde mit Vorträgen und einem wissenschaftlichen Dialog in der Paulskirche in Ffm.
Auf Beschluss des Fachbereichs Physik der Ffter Universität heißt das neue Experimentierzentrum am Campus Riedberg seit 2005 „Stern-Gerlach-Zentrum“. Im Vorraum des großen Physikhörsaals im zentralen Hörsaal- und Bibliothekszentrum (seit 2011: Otto-Stern-Zentrum) auf dem Campus Riedberg befindet sich ein Bild, das G. und
Stern vor dem Hintergrund einer symbolischen Darstellung der bei ihrem Experiment beobachteten Richtungsquantelung mit der Dublettaufspaltung zeigt; das Gemälde stammt von Jürgen Jaumann (2004), wobei die Versuchsdarstellung von Theo Hänsch (Nobelpreisträger für Physik 2005) entworfen wurde. Die erhaltenen Teile der originalen Versuchsanordnung des Stern-Gerlach-Experiments befinden sich in den Sammlungen des Fachbereichs Physik auf dem Campus Riedberg der Universität Ffm.
In Nachfolge des seit 1988 verliehenen Stern-Gerlach-Preises vergibt die Deutsche Physikalische Gesellschaft seit 1993 die Stern-Gerlach-Medaille für Experimentalphysik.
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