Matthias Domaschk - das abrupte Ende eines ungelebten Lebens
Henning Pietzsch
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Matthias Domaschk wäre im Juni 2023 66 Jahre alt geworden. Doch er starb mit 23 am 12. April 1981 in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera. Ein bis heute nicht restlos geklärter Todesfall, angeblich durch Suizid in einer für ihn ausweglosen Situation. Matthias Domaschks Geschichte ist ein exemplarisches Beispiel für den Versuch ein Leben im Spannungsfeld der "proletarischen Diktatur der Arbeiterklasse" und der Suche nach einem selbstbestimmten Leben zu führen, ohne politisch motivierte Fremdbestimmung im Namen einer Ideologie. Doch Matthias Domaschk zerbrach an der Macht des Systems.
Ein Zeitsprung über 40 Jahre zurück
Am 10. April 1981 fuhren die beiden Jenaer Freunde Peter Rösch und Matthias Domaschk ("Matz") gemeinsam mit dem Zug nach Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR. Ihr Ziel, eine Einweihungs- beziehungsweise Geburtstagsfeier in einer von Freunden in Ost-Berlin besetzten Wohnung. Doch dort kamen sie nicht an. In Jüterbog wurden sie von der DDR-Transportpolizei aus dem Zug geholt und einer stundenlangen Befragung unterzogen. Grundlage ihrer Festsetzung war ein Stasi-Auftrag an die Transportpolizei, "daß verhindert werden muß, daß diese Personen in die Hauptstadt gelangen". Die DDR-Geheimpolizei Stasi als "Schild und Schwert" der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) fürchtete, dass die jungen Leute, die das MfS wegen "Kontakten zu politisch-negativen Personen in Jena unter operativer Kontrolle" hielt, gegen den X. Parteitag der SED in Ost-Berlin demonstrieren könnten. Eine Überprüfung ihrer Gepäckstücke ergab aber "keine operative Bedeutsamkeit". Dennoch wurde ihre "Rückführung" beschlossen.
Am Abend des 11. April transportierten Mitarbeiter der Staatssicherheit die beiden von Jüterbog nach Gera in die Untersuchungshaftanstalt des Bezirks, wo sie erneut verhört wurden - fast 13 Stunden am Stück. Erst am Mittag des 12. April eröffneten ihnen laut Unterlagen der Staatssicherheit dortige Beschäftigte, dass sie gegen frühen Nachmittag nach Jena entlassen würden. Aber nur einer kam raus, der andere zu Tode. Anschließend stand die Behauptung im Raum, Matthias Domaschk habe am 12. April 1981 kurz vor seiner Entlassung im "Besucherraum 121" der Untersuchungshaftanstalt in der Zeit zwischen 14:00 und 14:30 Uhr Suizid begangen.
Bleibende Zweifel
Bis heute zweifeln Angehörige und Freunde an der These einer Selbsttötung. Der Versuch zwischen 1990 und 1994, die Todesumstände juristisch zu ermitteln, scheiterte. Die damals zuständige Staatsanwaltschaft stellte 1994 fest: „Die umfangreichen Ermittlungen haben keinen Hinweis darauf erbracht, dass es sich im Fall des Matthias Domaschk nicht um eine Selbsttötung gehandelt hat.“
Die überlieferten Dokumente der Staatssicherheit gelten seit ihrer Entdeckung als einzige Quelle. Ihnen zu misstrauen war Anlass, 2015 den Hergang in der Untersuchungshaftanstalt Gera und die Umstände des Todes von Matthias Domaschk erneut zu untersuchen. Das Land Thüringen setzte auf Anregung von Domaschks seinerzeitigen Freundin Renate Ellmenreich eine unabhängige Arbeitsgruppe ein, die die Vorgänge in der Untersuchungshaftanstalt prüfen sollte. Federführend wurde die Arbeitsgruppe von der Thüringer Staatskanzlei unterstützt und begleitet. Der Rechtsanwalt Wolfgang Loukidis erwies sich als besonderer Motor der Arbeitsgruppe, zumal er einige wichtige Zeitzeugen beibrachte.
Die Ausgangslage war komplex. Zahleiche Indizien lagen vor. Vermutungen zirkulierten seit Jahren. Indizien und Vermutungen spiegelten nicht nur den Mangel an seriösen Quellen. Sie zeigten deutlich auf, dass vieles ungereimt war und blieb, besonders mit Blick auf die Quellen des MfS. 2004 kam der Thüringer Jugendpfarrer Walter Schilling im Rahmen einer Filmdokumentation deshalb zu dem Schluss: „Fragt erst einmal nicht, wie er gestorben ist. Fragt, wo er gestorben ist. Und das ist in der Untersuchungshaftanstalt in Gera gewesen. Und fragt, wer dafür verantwortlich ist. Das waren die Stasimitarbeiter. Und da liegt euer Zorn richtig!“
Renate Ellmenreich, die ehemalige Lebensgefährtin von Matthias Domaschk, drückte es 2019 auf einer Pressekonferenz zum Abschlussbericht der Arbeitsgruppe in Erfurt so aus:
„Natürlich wäre es mir am liebsten, die beteiligten MfS-Offiziere würden endlich reden. Mit mir oder Herrn Ramelow, oder mit wem auch immer, und die, die die Wahrheit kennen, die sie bisher verschwiegen haben, offenlegen. Die wissen es doch, ja, die dabei waren. Es gibt vier verschiedene Leute, die vor der Staatsanwaltschaft behauptet haben, ich war der erste, der ihn (Domaschk , d.A.) abgehängt hat. Also war es ein Gerangel? Und ich würde gern lieber wissen, wer hat ihn denn aufgehängt?!“
Roland Jahn , der Matthias Domaschk persönlich kannte und mit ihm befreundet war, ergänzte:
„Für mich kann man aus den Erkenntnissen der Arbeitsgruppe hier keine klaren Schlüsse ziehen. Es ist aber wichtig, dass die Widersprüche, die von der Arbeitsgruppe aufgezeigt worden sind, weiter aufgekärt werden. Dabei ist es immer wichtig, als Journalist, als Arbeitsgruppe, als Wissenschaftler, Quellenkritik zu üben, und dann natürlich durch Zeitzeugenbefragungen versuchen, das Bild abzurunden. Aber ich bin immer eher dafür, hier zu sagen, es ist jemand unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen als voreilig Thesen aufzustellen, für die es keine Belege gibt.“
Belege sind wesentliche Erkenntnisse, die den konkreten Hergang der Ereignisse in der Untersuchungshaftanstalt Gera dokumentieren. Das kann durch Dokumente verschiedenster Art geschehen oder durch Zeitzeugen, also Personen, die mittelbar oder unmittelbar in das damalige Geschehen einbezogen und Handelnde waren. Weder die überlieferte Vorgangsakte zum Tod von Matthias Domaschk noch damals handelnde Personen können und konnten bisher dazu beitragen, eine Eindeutigkeit über die konkreten Vorgänge am 12. April 1981 in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Gera herzustellen. Dies nährt die anhaltenden Zweifel seiner Freunde und Familie, vor allem vor dem Hintergrund seines Engagements im damals oppositionellen Netzwerk von Jena im Rahmen der kirchlichen Jugendarbeit. Zahlreiche Akteure waren operatives Ziel des MfS.
Die 2015 von der Thüringer Staatskanzlei unter Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten Bodo Ramelow eingesetzte Arbeitsgruppe machte es sich zur Aufgabe, alle noch verfügbaren Quellen und Zeitzeugnisse zu finden und heranzuziehen, um die Ungewissheit der Todesumstände zu klären. Es war nicht Ziel, eine erneute juristische Verfolgung daraus abzuleiten. Die unmittelbar beteiligten MfS-Mitarbeiter wurden im Jahr 2000 wegen Freiheitsberaubung mit Strafbefehlen belegt. Ziel der Arbeitsgruppe war die Ermittlung belegbarer Widersprüche in den Dokumenten, um eine Rekonstruktion der Ereignisse zu ermöglichen. Neben überlieferten Dokumenten des MfS wurden Akten der Jenaer Pathologie ausgewertet. Auch die Akten der juristischen Ermittlungsverfahren zwischen 1989 und 1999 wurden gesichtet und ausgewertet. Darüber hinaus konnten zahlreiche Zeitzeugen befragt werden.
Unglaubwürdige MfS-Akten
Nicht überraschend war, dass bereits angestellte Vermutungen über die Nichtglaubwürdigkeit der MfS-Akten schnell herausgearbeitet werden konnten. Die Protokolle des MfS zu den konkreten Abläufen innerhalb der Untersuchungshaftanstalt sind nicht nur widersprüchlich, sie wurden teilweise nachweislich verändert oder manipuliert. Das beginnt mit den Bewegungsprofilen der namentlich beteiligten MfS-Mitarbeiter, zum Ereignisort generell, zur kriminaltechnischen wie pathologischen Untersuchung, sowie zur Frage nach der Echtheit einer Verpflichtungserklärung von Matthias Domaschk zur konspirativen Zusammenarbeit mit dem MfS, datiert vom 12.4.1981, also unmittelbar vor seinem protokollierten Tod. Derlei Dokumente waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie dienten der internen Darstellung in Verantwortlichkeit gegenüber der eigenen wie übergeordneten Dienststelle. Es muss auch davon ausgegangen werden, dass das MfS in dieser Zeit kein operatives oder politisches Interesse an einem derartigen „Vorfall“ in einem seiner Häuser hatte.
Fest steht aus heutiger Erkenntnis: Die Mitarbeiter des MfS widersprachen sich in den staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen in den Jahren 1991 bis 1992 erheblich in Bezug auf ihre jeweilige Beteiligung und die durchgeführten Handlungen. Der Ereignisort, an dem Matthias Domaschk zu Tode gekommen sein soll, konnte im Abgleich mit Bauunterlagen des MfS nicht verifiziert werden. Die MfS-Dokumente zum Suizid erwähnen stets einen „Besucherraum 121“ als Ereignisort. In den Bauunterlagen war dieser „Raum“ aber das Treppenhaus. Der so genannte Besucherraum firmierte unter der Raumnummer 124 und war über alle Etagen des Hauses so durchnummeriert. Die Heizungsrohre in dem angeführten Raum unterhalb der Decke, wo sich Matthias Domaschk erhängt haben soll, wiesen nach dem Bildbericht des MfS eindeutig zu erkennende Wischspuren auf, die nicht zum Tatwerkzeug, dem angeblich verknoteten Hemd von Matthias Domaschk, passten. Breite, Anlage und Verteilung der Wischspuren konnten nicht von einem Hemd stammen.
Die MfS-Mitarbeiter der kriminaltechnischen Abteilung hielten in ihrem Protokoll lediglich fest, der Tatort sei verändert vorgefunden worden. Die Leiche des Domaschk lag mit freiem Oberkörper auf dem Rücken am Boden – und das bereits vor dem Eintreffen der Kriminaltechniker und nachdem Matthias Domaschk von MfS-Mitarbeitern vom Heizungsrohr abgenommen worden sein soll.
Das kriminaltechnische Protokoll wurde zudem eine Woche später angefertigt und rückdatiert. Auch eine Manipulation des Totenscheines ist nicht auszuschließen, darin reihen sich Widersprüche um Widersprüche aneinander. Fest steht auch, er wurde nicht vor Ort erstellt. Dort erfolgte am 12. April 1981 um 16 Uhr nur ein handschriftlicher Eintrag mit Unterschrift eines Geraer Facharztes für Allgemeinmedizin, der ankreuzte "nichtnatürliche Todesursache".
Nach der offiziellen Obduktion des Leichnams am 13. April 1981 in Jena wurden von MfS-Mitarbeitern maschinenschriftliche Eintragungen zur Todesursache vorgenommen, die rechtlich verschieden interpretierbare Schlussfolgerungen zulassen („Äußere Ursache: Selbstmord durch Erhängen“, „Feststellung bei der Leichenschau: Traumatische Strangulation“, „Ergebnis der Autopsie: Erhängen“). Diese Einträge stammten nicht von dem unterzeichnenden Oberarzt namens "Disse", sondern von den Mitarbeitern des MfS. Dr. Disse aus Jena unterschrieb lediglich das Formular, so wie zuvor der Allgemeinarzt Dr. Hagner. Das bestätigte Dr. Disse später in einem Zeitzeugengespräch. Er selbst habe nie von "Erhängen" sondern stets nur neutral von "Strangulation" gesprochen. Dies sei in seinem Obduktionsbericht auch so festgestellt, was belegt ist.
Offen blieb der Nachweis dafür, ob es bereits am 12. April 1981 eine Erstobduktion im Waldkrankenhaus in Gera gab. Hinweise und Zeitzeugenaussagen lassen dies nach wie vor vermuten, aber nicht eindeutig belegen. Daraus abzuleiten ist, dass die Unterlagen des MfS in ihrer Glaubwürdigkeit gering einzuschätzen sind. Sie dienten der dienstlichen Vergewisserung in Verantwortung gegenüber den Dienststellen beziehungsweise der Hauptabteilung XX/4 des MfS in Ost-Berlin. Die Handlungen der beteiligten Personen konnten teilweise rekonstruiert werden.
Umstritten bleibt auch, ob und wenn ja, warum Matthias Domaschk am 12.4.1981 eine schriftliche Verpflichtungserklärung gegenüber dem MfS abgegeben haben soll, verfasst in säuberlicher Handschrift ohne jedes Anzeichen von Nervosität oder Erschöpfung nach 13 Stunden Verhör. Die Protokolle zu angeblich gemachten Aussagen von Matthias Domaschk gegenüber den Vernehmern der Abteilung IX der Untersuchungshaftanstalt Gera ergaben jedenfalls keinen eindeutigen Beleg dafür, dass das Dokument zwingend von Matthias Domaschk stammen muss. Ein Schriftgutachten im Rahmen der staatsanwaltlichen Untersuchung stellte fest, dass die Handschrift in der Verpflichtungserklärung sehr wohl von Matthias Domaschk stammen könne. Andererseits sei es aber genauso möglich, dass das Dokument nachträglich erstellt worden ist. Technisch wäre dies durchführbar gewesen.
Das Ergebnis des Schriftgutachtens war daher konkret unkonkret. Es attestierte ein Sowohl-als-auch. Das trifft auch auf das etwa zeitgleich angefertigte so genannte Rohrgutachten zu. Als der Hauskomplex der Untersuchungshaftanstalt noch existierte, wurde ein Gutachten ausgearbeitet, ob die in Frage kommenden Heizungsrohre eine Person wie Matthias Domaschk tragen und als geeignet eingeordnet werden könnten, um einen Suizid in der vom MfS genannten Weise umzusetzen. Die Gutachter besichtigten den Ort, maßen die Höhe des angenommenen Fallweges, die Belastbarkeit der Rohre und testeten deren Tragekraft. Sie kamen zu dem Schluss, dass das betreffende Rohr die Durchführung eines Suizids erlaubt habe. Noch sichtbare Staubrillen in Übereinstimmung mit den 1981 angefertigten Fotos vom Ereignisort wurden jedoch nicht in Bezug gesetzt, was die Möglichkeit einer Strangulation in Zweifel hätte ziehen müssen.
Schon die kriminaltechnische Untersuchung der Mitarbeiter des MfS am 12. April 1981 zeigte erhebliche Defizite auf. Nicht nur, wie oben erwähnt, dass der Ereignisort verändert vorgefunden wurde. Die Leiche wurde nur aus einer Sichtposition fotografiert, nämlich von oben in Richtung rechts des Körpers, der bereits mit dem Rücken auf dem Boden lag. Der eintreffende Arzt, der den Tod bescheinigen sollte, erhob seinerseits keine Zweifel an der von den MfS-Mitarbeitern angegeben Todesursache. Weder im Totenschein noch im kriminaltechnischen Bericht werden zum Beispiel. Hämatome, Einnässung oder eine konkrete Beurteilung der Strangmarke vorgetragen. Eine Sicherung von Materialien oder Spuren, beispielsweise Stoffresten am Hals oder am betreffenden Rohr, wurde nicht mal in Erwägung gezogen. Offensichtlich glaubten die eintreffenden Kriminaltechniker wie auch der den Tod feststellende Arzt ohne weitere Detailkenntnisse und Untersuchung, was ihnen die MfS-Mitarbeiter vortrugen.
Undurchschaubare Zeitabläufe
Die Dokumente der kriminaltechnischen Untersuchung, die gerichtsmedizinische Untersuchung des toten Matthias Domaschk sowie die Handlungen und Handlungsorte der Beteiligten stimmen in ihren zeitlichen Abläufen wie konkreten Handlungen nicht miteinander überein. Sie weisen im Gegenteil erhebliche Mängel sowie offenkundige Manipulationen auf. Um diese Widersprüche aufzuklären, reichte es der Arbeitsgruppe nicht, Strukturen, Verfahrensweisen und normative Vorgaben des MfS zu erschließen. Deshalb war die Suche nach aussagewilligen Zeugen ein zweiter wesentlicher Schritt, um Erkenntnisse über die Ereignisse in der Untersuchungshaftanstalt zu erlangen. Das gestaltete sich erwartungsgemäß schwierig.
Neben den ermittelten Hauptverantwortlichen waren vor allem jene Personen von Interesse, die zwar nicht unmittelbar, aber durch ihre Aufgabe innerhalb oder außerhalb des MfS mit diesem „Fall“ zu tun hatten und/oder zumindest entscheidende Kenntnisse darüber haben konnten.
Personalakten der damaligen MfS-Mitarbeiter, Dienstbücher sowie Protokolle von Dienstbesprechungen wurden ausfindig gemacht und ausgewertet. Die Personalakten sollten nicht nur den Werdegang, sondern vor allem die Glaubwürdigkeit der beteiligten MfS-Leute in ihren Aussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft widerspiegeln. Die Dienstbücher und die Protokolle der Dienstbesprechungen waren für einen Abgleich dessen nützlich, was über die Vorgänge in der Untersuchungshaftanstalt innerhalb des MfS und außerhalb der so genannten Todesakte von Matthias Domaschk in den beteiligten Diensteinheiten des MfS kommuniziert wurde.
Streit in den Reihen des MfS?
Auffällig war dabei, dass sich dort nicht ein einziger Eintrag zu dem doch außergewöhnlichen Ereignis finden ließ. Das ist um so bemerkenswerter, da es gegenüber der Staatsanwaltschaft mindestens zwei Aussagen gab, die einen anderen Eindruck vermittelten. Danach sei es zu Auseinandersetzungen innerhalb der beteiligten Jenaer Diensteinheit gekommen. Zwei Beteiligte, der damalige Referatsleiter der verantwortlichen Diensteinheit, Peter Urbansky, Hauptmann der Abt. XX/4 der Kreisdienststelle (KD) Jena, und Roland Mähler, Leutnant, Vernehmer der Abt. XX/4 der KD Jena, rückten dabei ins Zentrum des Interesses. Der Referatsleiter und der Mitarbeiter "Operativ", beide an jenem Wochenende nicht im Dienst, mussten die Diensteinheit ein Jahr später verlassen.
Es gab innerhalb der Einheit gegen Beide erhebliche dienstliche Beschwerden, ausgelöst vom letzten Vernehmer von Matthias Domaschk am 12. April 1981 in Gera, Horst-Henno Köhler, Hauptmann und stellvertretender Referatsleiter der Abt. XX/4 der KD Jena. Köhler arbeitete unter Peter Urbansky, Roland Mähler war Kollege. Mähler arbeitete zuletzt belastendes Material zur Person Matthias Domaschk heraus. Danach stand ein vermeintlicher Terrorverdacht im Raum durch angebliche Äußerungen von Matthias Domaschk über die italienische Terrorgruppe „Rote Brigaden“. Sie und ihre Methoden des politischen Kampfes soll er bei einem privaten Treffen mit anderen Personen als Vorbild bezeichnet und deren Handlungen befürwortet haben. Bewiesen war das nicht. Beteiligte des angeblichen Gesprächs widersprachen später dieser Darstellung vehement. Roland Mähler verließ das MfS 1982 freiwillig. Peter Urbansky wurde in eine andere Abteilung des MfS versetzt, wo er bis Ende 1989 unauffällig weiter seinen Dienst versah.
Recherchen der Berliner Aufarbeitungs-Zeitschrift "Horch und Guck" aus dem Jahr 2003 über möglicherweise involvierte MfS-Mitarbeiter aus Gera und Jena im Fall Matthias Domaschk 1981.
Horst-Henno Köhler stieg dagegen 1983 parallel zu den vorgenannten Ereignissen zum Referatsleiter der Abteilung XX/4 der KD Jena auf und gehörte der so genannten Kaderreserve des MfS an. 1984 erfolgte seine Beförderung zum Major. Er ist bis heute diejenige Person, auf die sich der Verdacht einer direkten oder indirekten Mitwirkung am Tod von Matthias Domaschk richtet. 1985 wechselte er zur Hauptabteilung XX des MfS in Ost-Berlin als Offizier für Sonderaufgaben. 1987 wurde er dort erneut Referatsleiter. Nach den Ereignissen im April 1981 erhielt er mehrere Geldprämien und Auszeichnungen für seine langjährige MfS-Zugehörigkeit sowie seine vorbildliche Arbeit „bei der Bekämpfung des Klassenfeindes“. Peter Urbansky und Roland Mähler hätten mehr über die Vorgänge erzählen können. Sie können oder wollen es bis heute nicht.
Keine interne Untersuchung?
Eine interne Untersuchung des MfS über die Vorgänge in der Untersuchungshaftanstalt Gera scheint es nicht gegeben zu haben. Wenn doch, wurden die Dokumente vermutlich vernichtet. Zu vermuten ist das, weil die internen Auseinandersetzungen über das „Vorkommnis“ belegt sind und die überlieferte MfS-Todesakte untypisch gering in ihrem Umfang ausfällt.
2018 entschloss sich die Arbeitsgruppe, die Dokumente der kriminaltechnischen Untersuchung, zur Pathologie und den Totenschein anhand der überlieferten Fotos noch einmal fachlich prüfen zu lassen. Dafür konnte der renommierte Pathologe der Berliner Charité, Prof. Michael Tsokos, gewonnen werden. Anhand der ihm vorliegenden Dokumente des MfS sollte er eine unabhängige Begutachtung und Einschätzung vornehmen. In seinem Schreiben vom 18. Mai 2018 kam er zu dem Ergebnis:
„Zusammenfassend ergeben sich aus rechtsmedizinischer Sicht an der Todesursache Erhängen einige Zweifel. Als weiterer todesursächlicher Mechanismus kommt eine andere Form der Strangulation in Betracht, nämlich ein Erdrosseln von hinten. Ausweislich der fotografischen Befunde fand sich eine Strangmarke (Drosselmarke?) an der Halsvorderseite, die leicht zum Nacken hin anstieg und sich dort verlor. Eine solche Strangmarke kann ebenso bei einem Erdrosseln (auch hierfür würde der zusammengedrehte Hemdsärmel in Betracht kommen) entstehen, wenn nämlich der Täter (der Drosselnde) hinter dem Opfer (dem Gedrosselten) steht und der Gedrosselte sich in sitzender Position mit dem Rücken zur Körpervorderseite des Drosselnden befindet. Einen ähnlichen Fall kenne ich aus meiner eigenen praktischen Erfahrung als Sachverständiger vor Gericht."
Auszüge aus der Stellungnahme des Gerichtsmediziners Prof. Tsokos der Charité vom 18. Mai 2018 zum Todesfall Domaschk
Freilich beantwortet auch diese Einlassung nicht, wie die konkreten Umstände, also der konkrete Hergang, der schließlich zum Tod von Matthias Domaschk führte, aussah. Diese Beurteilung zeigt aber auf, dass nach genauer Prüfung der überlieferten Dokumente, selbst nach so vielen Jahren, eine andere als die vom MfS vorgetragene Behauptung vom Suizid in den Raum gestellt werden kann.
Ramelow: "DDR war kein Rechtsstaat"
Bei der Vorstellung des Abschlussberichts der Arbeitsgruppe erklärte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow 2019:
„Heute kann man sagen, wir haben Zeitzeugengespräche geführt mit Menschen, wo wir nicht dachten, dass sie sich melden. […] Wir näherten uns immer mehr ein Stück weit der Erkenntnis, dass der Verdacht, den sie immer geäußert haben, liebe Frau Ellmenreich, dass es sich nicht um einen Selbstmord handelt, dass es nicht einfach nur ein Verdacht ist, sondern dass es stimmt. Und ich denke, dass das, was heute hier vorgelegt wird, auch dokumentiert, dass das nicht stimmen kann. Aber es bleibt dabei, der letzte Beweis ist uns nicht gelungen. Wir hätten ihn gerne bewiesen, wir hätten ihn gern belegt. Ich kann heute nur danke sagen. Sie haben mich mitgenommen auf eine Zeitreise, in eine Welt, die ich als Außenstehender immer nur literarisch betrachten kann. Sie haben mich in eine sehr praktische, menschliche, lebensmenschliche Reise mitgenommen, bei der deutlich wird, die DDR war kein Rechtsstaat. Der Tod von Matthias Domaschk ist einer, der für viele steht, bei dem der Machterhalt über allem anderen gestanden hat. Und deshalb darf man keine romantische Betrachtung auf die DDR haben, sondern man muss sich daran messen, dass das, was wir an Taten zu bewerten haben, der Maßstab ist.“
Diesen Aussagen von Bodo Ramelow kann man aus meiner Sicht nur folgen. In der Tat wurde nach vier Jahren erneuter Arbeit klar, dass zwar etliche „Ungereimtheiten“ in den MfS-Dokumenten weitgehend aufgeklärt werden konnten. Nicht geklärt werden konnte dagegen der exakte Ablauf der letzten Stunden von Matthias Domaschk, auch weil relevante Zeitzeugen nicht befragt werden konnten oder wollten.
Renate Ellmenreich und die gemeinsame Tochter, Julia, fordern bis heute von den ehemaligen MfS-Mitarbeitern, insbesondere vom ehemaligen MfS-Hauptmann Horst- Henno Köhler, Aufklärung darüber, wie und unter welchen konkreten Umständen Matthias Domaschk zu Tode kam. Die Anzeige gegen Unbekannt wegen des Verdachtes auf Mord wurde noch im Jahr 1989 vom Vater gestellt. Die bis 1993 andauernden staatsanwaltlichen Untersuchungen verliefen unter keinem glücklichen Stern. Zunächst wurde das Verfahren von zwei Staatsanwälten in Gera durchgeführt, die dort bereits in der DDR als Staatsanwälte tätig waren. Danach wurde das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Erfurt abgegeben. Diese kam ohne rechtliche Bewertung zu dem Ergebnis:
„Natürlich war Matthias Domaschk das Opfer der damals in der DDR Herrschenden, er war das Opfer der Machenschaften des MfS. Streng hiervon zu trennen ist jedoch die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die aus heutiger rechtsstaatlicher Sicht nicht nachgewiesen werden konnte, weshalb das Ermittlungsverfahren einzustellen war.“
So hieß es 1994. 15 Jahre später konnte die eingesetzte Arbeitsgruppe immerhin anhand ihrer Untersuchung belegen, dass die Dokumente des MfS den Tathergang zweifelsfrei nicht richtig wiedergaben. Weitere Erkenntnisse haben sich seitdem leider nicht mehr ergeben.
Nach außen ist Matthias Domaschk längst ein Symbol für das Unrecht im SED-Staat geworden. Ein Unrecht, das jeden treffen konnte. Symbolisch hat die Robert-Havemann-Gesellschaft ihre Bibliothek "Matthias-Domaschk-Archiv" genannt und auch das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte "Matthias Domaschk" trägt seinen Namen.
Filmberichte und Bücher haben sich mit seinem Schicksal befasst, immer wieder fragend, wie die Quellen, die Erinnerungen an ihn und die Ergebnisse der Staatsanwaltschaften zwischen 1989 und 1994 einzuordnen und einzuschätzen sind. Darüber hinaus wird spekuliert, ob Matthias Domaschk eine Art Märtyrer war. Oder war er schlicht ein „ganz normaler Jugendlicher“, so, wie Hunderte andere Jugendliche insbesondere in Jena auch? War ihm ein Suizid überhaupt zuzutrauen? Womöglich als „Rache“ gegen die handelnden MfS-Mitarbeiter? Aus Verzweiflung und Ohnmacht gegenüber dem repressiven Staat? Aus Frust, sich eine Verpflichtungserklärung abgepresst haben zu lassen?
Diese und viele weitere Fragen können bis heute nur ambivalent beantwortet werden. Am ehesten nähern sich jene Beschreibungen dem Menschen Matthias Domaschk an, die aufzeigen, welche Bedeutung er als Mensch für andere Jugendliche in dieser Zeit hatte. Sie beleuchten sein Herkommen, sein politisches Engagement, seine Verzweiflung und Wut und sein konsequentes Handeln. Vor allem aber zeigen sie die Folgen seines frühen Todes auf.
Matthias Domaschk war Freund, junger Vater, politisch interessiert und engagiert, in manchen Momenten sicher auch hoffnungslos und dann auch wieder sehr mutig, wenn er konspirative Aktionen selbst unternahm oder sich daran beteiligte. Er war fürsorglich gegenüber seinen Mitmenschen, oft lustig und zutiefst poetisch, wissensdurstig. Er war ein rebellischer Geist und Zweifler, ein Mensch, der in seiner Zeit lebte und sich in Gefahr brachte, in Gefahr gebracht wurde durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer Diktatur. Sein Tod wurde so zur „Keimzelle“ von neuerlichem Engagement vieler Jugendlicher auf ihrem Weg in die Opposition gegenüber dem SED-Staat. Peter Rösch, sein Freund und Mitinhaftierter, verstarb am 17. Mai 2017. Er erlebte den Abschluss der Recherchen der Arbeitsgruppe nicht mehr. Als Freund von Matthias Domaschk hatte er nicht nur einen sehr großen Anteil an der Prägung einer potentiellen Opposition in Jena, als Betroffener hoffte er bis zum Schluss, dass die Todesumstände seines Freundes aufgeklärt werden könnten. Hass oder gar Rachegefühle gegen die Verantwortlichen im ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit in der DDR hatte er dabei nie. Wichtig war und blieb ihm die Vergewisserung darüber, wie und warum sein Freund Matthias Domaschk starb.
Was bleibt, ist die Gesamtschuld eines politischen Systems
Am Mittag des 11. April 2021 begingen Freunde und Familienangehörige ein stilles Gedenken auf dem Jenaer Nordfriedhof. Und am 12. April, also 40 Jahre nach Matthias Domaschks Tod, veröffentlichte die Thüringer Gedenkstätte Andreasstraße einen Externer Link: Podcast über Matthias Domaschk, zu Wort kommt darin auch Thüringens Ministerpräsident Ramelow, der Renate Ellmenreich zugleich ein persönliches Schreiben schickte:
Quellentext"Schreiendes Unrecht" - Ein Brief von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow an Renate Ellmenreich vom 31. März 2021
Der Wortlaut:
Liebe Frau Ellmenreich,
die Mitteilung des Staatsicherheitsdienstes der DDR, dass sich Matthias Domaschk am 12. April 1981 in der Untersuchungshaft in Gera umgebracht haben soll, war für alle, die ihn kannten und machten, unfassbar. Zweifel an der Version seines Seibstmords bestanden von Anfang an und haben sich über die lange Zeit bis heute erhärtet.
Brief Ramelow zum Fall Domaschk
Der Brief Bodo Ramelows vom 31.3.2011 zum Fall Domaschk an Renate Ellmenreich
Der Brief Bodo Ramelows vom 31.3.2011 zum Fall Domaschk an Renate Ellmenreich
Fest steht, Matthias Domaschk ist schreiendes Unrecht geschehen. Schreiendes Unrecht durch die SED-Diktatur, die nicht zuließ, dass sich junge Menschen von Brill und Gängelei des „Systems DDR“ frei machen wollten. Die Menschen für ihre Unangepasstheit, ihren Ungehorsam und Widerstand einen hohen Preis zahlen ließen. Im Fall von Matthias Domaschk war der Preis sein Leben.
Sie und Ihre gemeinsame Tochter Julia, Angehörige und Freunde mussten seitdem mit der quälenden Ungewissheit zu den letzten Stunden von Matthias Domaschk und der Frage nach dem Warum seines sinnlosen Todes leben lernen.
Dass mehr gegen als für einen Selbstmord spricht, hat die Arbeitsgruppe zum Tod von Matthias Domaschk, zu deren Einrichtung im März 2015 Ihr offener Brief den Anstoß gab, im Juni 2017 festgestellt. Jedoch hat sie bis heute nicht geschafft, die Mauer des Schweigens von Mitwissern, Mittätern und Tätern zu durchbrechen. Was am 12. April 1981 mit Matthias Domaschk tatsächlich geschah, wissen nur die beteiligten MfS-Offiziere, die darüber schweigen. Weil Tochter, Lebenspartnerin und Freunde ein Recht darauf haben zu wissen, was tatsächlich geschehen ist, geht die Aufarbeitung des Lebens und Todes von Matthias Domaschk weiter. Es ist wichtig, dass junge Menschen wissen, welche furchtbaren Folgen die Willkür eines allmächtigen Sicherheitsapparates haben kann und sie lernen, dass der Tod das Ergebnis eines gegen junge Menschen mit eigener Lebenskultur agierenden repressiven Staates sein kann.
Deshalb tragen in Jena eine Straße, ein Hörsaal der Friedrich-SchilIer-Univer— sität und das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte den Namen von Matthias Domaschk. Deshalb wurden die aktuellen Untersuchungsergebnisse der Arbeitsgruppe in der Publikation von Dr. Henning Pietzsch und dem Dokumentarfilm von Tom Franke „Matthias Domaschk 2.0 — Suizid oder Mord in U-Haft 89?" im August 2019 veröffentlicht. Deshalb führt Peter Wensierski derzeit Interviews für sein Buch über das Leben und den Tod von Matthias Domaschk. Deshalb erinnert die jüngste Episode des Externer Link: Podcasts „Horchpost DDR“ an Matthias Domaschk.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte soll insbesondere junge Menschen zum Nachdenken über die DDR anregen und bei ihnen die Herausbildung demokratischer Werte befördern. Ich habe die Hoffnung, dass ihr Engagement und ihre Fragen bewirken, dass sich Menschen dem Gespräch nicht länger verweigern können, die am „System DDR“ beteiligt waren, und somit die Mauer des Schweigens auch im Fall Matthias Domaschk doch noch durchbrochen werden kann.
Die gemeinsame inhaltliche Arbeit von Betroffenen, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Regierungsstellen zur Aufarbeitung der ungeklärten Todesumstände von Matthias Domaschk haben zu einer den mitmenschlichen Umgang in unserer Gesellschaft bereichernden Form einer anderen Kultur des Vertrauens geführt. Dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen, fühle ich mich als Ministerpräsident verpflichtet.
Das Gedenken an den Tod von Matthias Domaschk vor 40 Jahren steht für die Erinnerung an die DDR und die Bewertung ihrer politischen Ordnung und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Es ist wichtiger Teil einer lebendigen Demokratiearbeit, das einem wesentlich durch Stasi-Akten und öffentliche Verdrängung mitgeprägten Bild der Lebenswirklichkeit in der DDR deutlich entgegen tritt.
2023 wäre "Matz" 66 Jahre alt geworden und wäre jetzt im Ruhestand. Wir wissen nicht, wie er sein Leben gelebt hätte. Was wir aber wissen, ist, dass sein Leben im Alter von 23 Jahren abrupt endete in den Händen des Staatssicherheitsdienstes der DDR.
Gedenktafel Domaschk in Jena 2023
Kommunale Geste der Erinnerung. Am 25. August 2023 wurde am ehemaligen Wohnhaus von Matthias Domaschk, Am Rähmen 3 in Jena, eine Gedenktafel eingeweiht. Die Initiatorin, die "Jenawohnen GmbH" der Stadtwerke Jena schrieb dazu: "Der Jenaer starb am 12. April 1981 in der Geraer Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatsicherheit. Die Wohnung von Domaschk war seit Mitte der Siebziger Jahre Treffpunkt für unangepasste junge Menschen in Jena, die versuchten aufrecht und selbstbestimmt zu leben. Gemeinsam mit seiner Partnerin Renate Groß organisierte er Treffen in der gemeinsamen Wohnung, vervielfältigte systemkritische Texte und verteilte diese. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wurde die Wohnung zu einem der Zentren des Protests. Was folgten waren massive Repressalien durch die Staatsicherheit und die Polizei und unzählige Verhöre. Das letzte Verhör am 12. April 1981 führte zum Tod des 23-Jährigen". Neben der Gedenktafel wurde in Abstimmung mit "JenaKultur" und dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte eine ergänzende Tafel mit weiterführenden Informationen zu Matthias Domaschk aufgehängt.
Kommunale Geste der Erinnerung. Am 25. August 2023 wurde am ehemaligen Wohnhaus von Matthias Domaschk, Am Rähmen 3 in Jena, eine Gedenktafel eingeweiht. Die Initiatorin, die "Jenawohnen GmbH" der Stadtwerke Jena schrieb dazu: "Der Jenaer starb am 12. April 1981 in der Geraer Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatsicherheit. Die Wohnung von Domaschk war seit Mitte der Siebziger Jahre Treffpunkt für unangepasste junge Menschen in Jena, die versuchten aufrecht und selbstbestimmt zu leben. Gemeinsam mit seiner Partnerin Renate Groß organisierte er Treffen in der gemeinsamen Wohnung, vervielfältigte systemkritische Texte und verteilte diese. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wurde die Wohnung zu einem der Zentren des Protests. Was folgten waren massive Repressalien durch die Staatsicherheit und die Polizei und unzählige Verhöre. Das letzte Verhör am 12. April 1981 führte zum Tod des 23-Jährigen". Neben der Gedenktafel wurde in Abstimmung mit "JenaKultur" und dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte eine ergänzende Tafel mit weiterführenden Informationen zu Matthias Domaschk aufgehängt.
Unabhängig von der möglichen Einzelschuld der beteiligten MfS-Mitarbeiter am Tod Matthias Domaschks bleibt die Gesamtschuld eines politischen Systems. Ein System, das seine Bürger im Namen einer heilsversprechenden Ideologie mit den Machttechniken und Machtmitteln einer autokratischen Diktatur einsperrte, bevormundete und, wo „nötig“, mit Repressionen überzog, oft genug politisch-willkürlich organisiert und motiviert. Feind war, wer anders denkt! Wer anders leben wollte, galt als "feindlich-negativ" und war Staatsfeind. All jene, die sich dem politischen System anpassten beziehungsweise anpassen konnten, lebten in einer heilen Welt der Diktatur.
Literatur
- Peter Wensierski, "Jena-Paradies - Die letzte Reise des Matthias Domaschk", Berlin 2023
- Die "andere" Geschichte, So besteht nun in der Freiheit zu der uns Christus berufen hat..., Autorenkollektiv, Matthias-Domaschk-Archiv Jena im Verein Künstler für Andere, Erfurt 1993.
- Julia Batz/Martin Olaf Klause, Matthias Domaschk. Gedenkstätte Amthordurchgang e.V., Gera 2012.
- Renate Ellmenreich, Die Geschichte eines politischen Verbrechens in der DDR und die Schwierigkeiten, dasselbe aufzuklären, 2. Aufl., Erfurt 1998.
- Jürgen Fuchs, Magdalena, Berlin 1998.
- Antje Hirsch, Jugendopposition. Kirche und Legitimationsverfall der SED, Göttingen 1997.
- Gerold Hildebrand, Politisches Tötungsverbrechen an Matthias Domaschk als Bagatelle. Geldstrafen für MfS-Offiziere wegen Freiheitsberaubung, in: Horch und Guck, Heft 30, Berlin 2000.
- Idea-Dokumentation 15/96, Meister. Die MfS-Vorlaufakte des Thüringer Landesbischofs Werner Leich im Spiegel seiner Vermerke, idea.e.V. (Hg.), Wetzlar 1996.
- Walter Jahn, Du bist wie Gift. Erinnerungen eines Vaters, Erfurt 1996.
- Freya Klier, Matthias Domaschk und der Jenaer Widerstand, Berlin 2007.
- Katharina Lenski, Im Schweigekreis. Der Tod von Matthias Domaschk zwischen strafrechtlicher Aufarbeitung und offenen Fragen, in: Jörg Ganzenmüller (Hg.), Recht und Gerechtigkeit. Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa, Köln/Weimar/Wien 2017.
- Matthias Domaschk. Horch und Guck, Sonderheft I, Berlin 2003.
Zitierweise: Henning Pietzsch, "Matthias Domaschk - das abrupte Ende eines ungelebten Lebens“, in: Deutschland Archiv, erstveröffentlicht am 12.04.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/330728. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
- Einladung zur Diskussionsrunde mit dem Geraer Stasi-Offizier Bernd Roth: "Interner Link: Eine freie Jugend in der DDR?". Aus Anlass der Buchpremiere von Peter Wensierski "Jena Paradies - Die letzte Reise des Matthias Domaschk", Deutschland Archiv am 19.3.2024.
Henning Pietzsch ist Vorsitzender der Geschichtswerkstatt Jena, er recherchiert seit Jahren über den Tod des jungen Matthias Domaschk in Geraer Stasihaft 1981.
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