Kinderkurheim Nickersberg
von Anton Ottmann
Das Haus „Nickersberg“ liegt an der Schwarzwaldhochstraße und gehört zur Stadt Bühl. Es wurde in der Zeit von 1950 bis 1963 von Dr. phil. Paul Bartsch als „Schwarzwald-Höhen-Kinderkurheim“ mit 60 bis 80 Plätzen betrieben. Kranken- und Rentenkassen, manchmal auch Jugendämter, schickten Mädchen und Jungen von vier bis 14 Jahren in der Regel für vier bis sechs Wochen hierher zur Erholung. Ein einziger Zeitzeuge hat sich gemeldet, der dauerhaft als Pflegekind untergebracht war.
Oberstes Ziel der Erholungskur war die Gewichtszunahme. Stellte sich dieser Kurerfolg nicht ein, konnte der Aufenthalt um bis zu sechs Wochen verlängert werden. Die Kinder kamen aus ganz Deutschland, vorwiegend aus Berlin und dem Rheinland. Bartsch gab sich in Prospekten gegenüber den Eltern und Kindern als „Onkel Doktor“ aus, gegenüber den Behörden als „praktizierender Psychologe“. In Wirklichkeit hatte er weder eine medizinische noch eine psychologische Qualifikation und auch keine praktischen Erfahrungen, die ihn für die Leitung des Heimes qualifiziert hätten. Von Beruf war er Volks-, Sonder- und Handelsschullehrer und hatte in Philosophie promoviert. Seine Unterrichtserfahrung beschränkte sich auf Jugendliche, die er bis 1940 in einer Berliner Psychiatrie unterrichtete - danach war er freiwillig in die Wehrmacht eingetreten.
Bartsch verfolgte mit dem Betreiben des Heims gleich mehrere Ziele: Indem er nicht mehr als Lehrer arbeitete, vertuschte er seine Vergangenheit als wichtiger Agitator im Nationalsozialistischen Lehrerbund, der sich schon sehr früh für Sterilisation, Euthanasie und Konzentrationslager ausgesprochen hatte. Außerdem verwendete er in der Korrespondenz mit Behörden anfangs den falschen Vornamen Otto und machte im Fragebogen der Entnazifizierungsbehörde Angaben, aus denen man keine Nähe zum Nationalsozialismus erkennen konnte. Mit der Betreibung des Heimes verschaffte er sich und seiner Frau Else eine ständige Einnahmequelle bis zum Alter von 70 Jahren. Durch die Auflösung des Heimes und den Verkauf von Haus und Grundstück an die katholische Kirche Karlsruhe sicherte er sich eine lukrative Altersversorgung. Neben einem festen sofort ausbezahlten Geldbetrag erhielt er eine Pension in Anlehnung an die des „Höheren Dienstes“ des Landes Baden-Württemberg. Seiner Frau Else, die in Rokitten (dem heutigen Rokitno in Polen) bereits ein Kinderheim betrieben hatte, verschaffte er Arbeit und Einkommen, nachdem sie mit ihrem Personal in den Westen geflohen war.
Auf einen Artikel in den „Badischen Neuesten Nachrichten“ im Jahr 2020 meldeten sich 15 ehemalige Verschickungskinder und eine ehemalige Kindergärtnerin bei mir, die über ihre Erlebnisse im Heim und das Verhalten des Betreuungspersonals berichteten. Von Axel, der dort 1958 als Neunjähriger wegen Untergewicht fünf Wochen zubrachte, ist zu erfahren: „Wir mussten uns sofort nach dem Frühstück auf im Freien aufgestellte Bettgestelle legen und bis zum Mittagessen in der prallen Sonne liegend ausharren. Damit man nicht direkt auf den rostigen Bettgestellen lag, holte man sich vorher aus einem Schuppen eine meist mit Urinflecken versiffte, aufgeplatzte Matratze als Unterlage.“ Die Anfang der 50er-Jahre sechsjährige Andrea berichtet, dass sie einmal „den Hintern versohlt bekam“, weil sie den Teller nicht leer aß und dass sie gesehen hatte, dass andere ihr Erbrochenes wieder aufessen mussten. Außerdem durfte sie sich von den Eltern, die sie mit dem Auto gebracht hatten, nicht verabschieden. Die siebenjährige Toni war kurz vor Weihnachten 1952 für sechs Wochen zur Kur. Als das von Heimweh geplagte Mädchen danach mit den anderen Kindern in den Bus zurück nach Berlin einsteigen wollte, teilte man ihr mit, dass sie weitere sechs Wochen bleiben müsse, weil sie an Gewicht verloren habe. Die Eltern warteten zuhause vergeblich auf sie, da man sie über die Kurverlängerung nicht informiert hatte.
Die zur Erholung verschickten Kinder machten im Großen und Ganzen alle ähnliche Erfahrungen: Das Essen diente der reinen Nahrungsaufnahme, unabhängig davon, ob es den Kindern schmeckte oder nicht. Liegekuren an der frischen Luft, Gewaltmärsche bei jedem Wetter und kaltes Duschen sollten den Körper ertüchtigen. Die hygienischen und sanitären Verhältnisse waren primitiv und menschenunwürdig. Kinder, die als „Bettnässer“ bezeichnet wurden, wurden bloßgestellt und gedemütigt. Ein Zeitzeuge berichtet, dass er mit dem verschmutzten Laken um den Hals abends durch die Schlafzimmer der Kinder gehen musste. Kontakte zu den Eltern wurden unterbunden, Post vor dem Abschicken kontrolliert und zensiert. Mehrere Zeitzeugen berichten über den für sie ungewohnten militärischen Umgangston, vor allem bei der Frau des Heimleiters, Else Bartsch, die bei Personal und Kindern das Sagen hatte. Kranke Kinder wurden zwar in einer gesonderten Baracke untergebracht, blieben aber weitgehend ohne ärztliche Versorgung. Gelegentlich schaute eine „Tante“ nach ihnen. Das Verhalten des Personals war von Härte, Kälte und Disziplinierung geprägt – Kinder sollten nicht durch zu großes Verständnis und menschliche Nähe verwöhnt und verweichlicht werden. Erklären lässt sich dies unter anderem damit, dass den älteren „Tanten“ genau diese Verhaltensweisen während des Nationalsozialismus eingetrichtert worden waren, und die Jüngeren es genauso in der Hitlerjugend, in NS-Freizeiten und im Reichsarbeitsdienst am eigenen Leib erlebt hatten.
Auf Nachfrage berichten die meisten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, dass die Eltern ihre Klagen nicht ernst genommen haben. Dazu muss man wissen, dass damals die Verschickung eines Kindes für die Familie zuhause angesichts ihrer Wohnsituation oder anderer Probleme oft eine große Entlastung war und die Eltern auch glaubten, den Kindern etwas Gutes zu tun. Da wurden Beschwerden über das Essen und die rüde Behandlung schnell abgetan. Und das Schlagen war bis in die 70er-Jahre in vielen Elternhäusern genauso üblich wie in den Volksschulen. Noch einmal Zeitzeuge Axel: „Zusammenfassend würde ich urteilen, dass die Kinder von völligem Desinteresse und von Vernachlässigung betroffen waren. Dr. Bartsch wollte offensichtlich mit minimalem Aufwand und mit möglichst geringem Einsatz ordentlich Geld verdienen.“
Im Mai 1963 wurde das Ehepaar Bartsch hochgelobt in den Ruhestand verabschiedet. In den „Badischen Neuesten Nachrichten“ war zu lesen, dass die beiden das Heim zu einer „Insel des Friedens“ und zu einer „idealen Erholungsstätte“ gemacht hätten. Das Ehepaar wohnte noch eine Zeit lang in der Nähe, zog sich dann aber bald ins Rheinland zurück, wo sie ihren Lebensabend verbrachten – nicht nur versorgt mit einer Pension des Bistums Freiburg, sondern auch noch mit einer Beamtenpension für die angebliche Tätigkeit als Lehrer in der Zeit von 1922 bis 1945, obwohl Bartsch nachweislich nur von 1930 bis 1939 als solcher tätig war. Der in der erziehungswissenschaftlichen Literatur immer mal wieder wegen seinen nationalsozialistischen Veröffentlichungen zitierte Paul Bartsch wurde bis zum Erscheinen des Buches „Gewitternächte in Nickersberg“ nie mit dem Heimleiter dieser Einrichtung in Verbindung gebracht.
Zum Autor: Dr. phil. Anton Ottmann, geb. 1945 in Heidelberg, Erziehungswissenschaftler und pensionierter Lehrer für Mathematik und Physik, verfasst seit über 50 Jahren Arbeitsmaterialien, Artikel und Bücher zur Pädagogik und Mathematikdidaktik, außerdem Kurzgeschichten, Erzählungen und Dialoge in Hochdeutsch und Mundart. Seit 18 Jahren arbeitet er auch als freier Journalist, u.a. für die Rhein-Neckar-Zeitung in Heidelberg.
Literatur
- Ottmann, Anton, Gewitternächte in Nickersberg, Das „Kinderkurheim“ des Dr. Paul Bartsch, eine Dokumentation, Lindemanns Bibliothek, Band 389, Bretten 2021
Zitierhinweis: Anton Ottmann, Kinderkurheim Nickersberg, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.