DOKTORTITEL: Dr. med. Auslaufmodell

Dissertationen für Ärzte dienen vor allem dazu, den Doktortitel zu erhalten. Viele halten das für überholt. Die Ärzte sollen den Titel künftig für ihre Ausbildung erhalten, fordern sie. Doch die Universitäten wollen das nicht.

Jan Flückiger
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Der Doktortitel gehört bei den Ärzten zum guten Ton. Für viele ist er jedoch ein alter Zopf, der abgeschnitten werden soll. (Bild: Getty)

Der Doktortitel gehört bei den Ärzten zum guten Ton. Für viele ist er jedoch ein alter Zopf, der abgeschnitten werden soll. (Bild: Getty)

Der «Rundschau»-Beitrag des Schweizer Fernsehens, der dem SVP-Nationalrat und Medizinhistoriker Christoph Mörgeli vorwirft, ungenügende Dissertationen von angehenden Ärzten abgesegnet zu haben, hat nun eine ganz andere Diskussion wieder ins Rollen gebracht: nämlich die Frage nach dem Sinn und Unsinn des Doktortitels für Mediziner.

Eine Dissertation war bei Medizinern noch nie vergleichbar mit einer Doktorarbeit in anderen Disziplinen, beispielsweise in den Naturwissenschaften oder in den Geisteswissenschaften. Dafür dauert das Studium der Medizin auch länger – nämlich sechs Jahre. Und zur Erlangung des Facharzttitels müssen die angehenden Ärzte nach dem Studium erst ein paar Jahre arbeiten.

Während Doktoranden in anderen Disziplinen drei bis fünf Jahre investieren und teilweise ganze Bücher verfassen, umfasst eine Dissertation in Medizin häufig nur ein paar Dutzend Seiten. Der Aufwand, den angehende Ärzte betreiben, ist durchaus unterschiedlich und reicht von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren – von reinen Fleissarbeiten bis zu ambitionierten Projekten. Bis vor wenigen Jahren konnte die Dissertation noch während des Studiums verfasst werden.

«Pseudo-Dissertationen»

Mit der Einführung des Bologna-Systems vor einigen Jahren hat sich das etwas geändert. Neu können die Mediziner ihre Dissertation zwar noch während des Studiums beginnen, aber sie müssen nach dem Masterabschluss noch mindestens ein Jahr wissenschaftliche Forschungstätigkeit nachweisen. Allerdings gibt es auch hier Unterschiede (siehe Kasten). An der Universität Zürich dauert eine Medizin-Dissertation gemäss offizieller Auskunft des Regierungsrates «sechs bis zwölf Monate».

Michael Hermann, Politexperte und selber Doktor der Geologie, stört sich an diesen «Pseudo-Dissertationen», wie er sie nennt. «Es geht bei den meisten dieser Arbeiten nur darum, den Doktortitel zu erhalten. Mit Wissenschaft hat das wenig zu tun.» Hermann geht es aber nicht darum, den Ärzten den Doktortitel wegzunehmen. Vielmehr schwebt ihm das amerikanische Modell vor: «In den USA erhalten Ärzte den ‹Medical Doctor› direkt beim Abschluss des Studiums – das wäre auch bei uns sinnvoll.» Ein ähnliches Modell kennen Österreich, Tschechien und die Slowakei.

Nur eine Berufsbezeichnung

Dieser Vorschlag stösst bei Werner Bauer, selber Arzt und Präsident des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF), auf Zustimmung: «Den Patienten ist es egal, ob ‹Herr oder Frau Doktor› eine Dissertation geschrieben hat», so Bauer. Das SIWF begleitet die diplomierten Ärztinnen und Ärzte während ihrer Weiterbildung und erteilt im Auftrag des Bundes die eidgenössischen Facharzttitel. «Ich kann nicht für die ganze Ärzteschaft sprechen, aber aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, wenn Mediziner nach Abschluss des Medizinstudiums, wozu heute auch das Schreiben einer Masterarbeit gehört, automatisch den Doktortitel erhalten würden», so Bauer. Der «Dr. med.» werde ja allgemein eher als eine Berufsbezeichnung und nicht als Nachweis einer wissenschaftlichen Tätigkeit verstanden.

Für Ärzte, die in die Wissenschaft gehen wollten, gebe es dann immer noch die Möglichkeit einen Dr. sc. respektive ein PhD – also einen wissenschaftlichen Doktortitel – zu machen, der vom Aufwand her mit demjenigen anderer Disziplinen vergleichbar ist.

Widerstand der Universitäten

Im Rahmen der Bologna-Reform wurde bereits einmal diskutiert, den Doktortitel für Ärzte abzuschaffen. Das scheiterte aber am Widerstand der Ärzteschaft und der Universitäten. «Der Doktortitel für Ärzte hat international eine grosse Tradition», sagt dazu Raymond Werlen, Generalsekretär der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten (Crus). Ihn abzuschaffen, würde die Ärzte im internationalen Wettbewerb benachteiligen. Und wenn man den Doktortitel einfach mit dem Studienabschluss vergeben würde? «Die Universitäten hätten Mühe, einen Doktortitel zu vergeben für einen Masterabschluss», so Werlen. Man habe ein Modell, wie es Hermann und Bauer vorschlagen, schon mal diskutiert und verworfen. Zurzeit stehe eine Reform nicht zur Debatte.

«Gehört zum guten Ton»

Und was sagen die Direktbetroffenen? Natürlich gehöre es zum «guten Ton» für einen Arzt, einen Doktortitel zu haben, sagt Marc Müller, Präsident der Schweizer Hausärzte, auch wenn dieser zum Erlangen eines Facharzttitels seit 2002 nicht mehr nötig sei. «Es ist zudem durchaus nützlich, dass ein Arzt irgendwann in seiner Laufbahn eine wissenschaftliche Arbeit machen muss und damit auch lernt, wissenschaftliche Arbeiten zu lesen.» Müller selbst hat seine Dissertation in neun Monaten Vollzeitarbeit geschrieben.

Keine Dissertation geschrieben hat Sonja Trüstedt, Oberärztin am Universitätsspital Basel. «Ich habe den zusätzlichen Aufwand lange für unnötig gehalten», sagt sie. Als Oberärztin am Spital habe ihr der fehlende Doktortitel auch nie Schwierigkeiten bereitet. «Doch heute bedaure ich den fehlenden Titel und hole ihn nun mühsam nach.» Ob jeder Arzt auch ein fundierter Wissenschaftler sein soll, darauf habe sie noch keine Antwort gefunden, doch: «Ein Minimum an wissenschaftlicher Arbeit ist aber nötig, um Fachartikel kritisch einschätzen zu können.»

Doch braucht es dazu wirklich eine Dissertation? «Grundsätzlich ist es für alle Ärzte wichtig, dass sie wissen, was wissenschaftliches Arbeiten bedeutet», sagt Peter Meier-Abt, Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Darum sei es wünschenswert, wenn möglichst viele angehende Ärzte eine Dissertation schreiben würden. «Aber zwingend für eine gute und menschliche Patientenversorgung ist das nicht.» Zudem müssten sich Medizinstudenten seit Einführung des Bologna-Systems im Rahmen der Masterarbeit bereits mit wissenschaftlichem Arbeiten auseinandersetzen.

Für Felix Gutzwiller, selber Präventivmediziner an der Universität Zürich und FDP-Nationalrat, ist deshalb klar: «Dissertationen für Ärzte sind ein Auslaufmodell.» Von seinen Studenten mit Masterabschluss würde kaum noch jemand eine Dissertation schreiben. «In Zukunft werden das die wenigsten machen.»

Schwieriger als in der Vergangenheit

Ob das tatsächlich ein Trend ist, muss noch offen bleiben. Die ersten Abschlüsse nach dem neuen System sind erst 2011 erfolgt. Es ist zu früh, um bereits Aussagen zu machen, ob die Zahl der Doktoranden wirklich sinkt.

Werner Bauer vom Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) könnte sich vorstellen, dass die Zahl der Dissertationen sinkt. Es werde mit den neuen Anforderungen schwieriger sein als in der Vergangenheit, eine Disser­tation zu schreiben. Bauer selber hat seine Dissertation noch während des Studiums gemacht, was heute praktisch nicht mehr möglich ist. «Wer eine Dissertation machen will, wird versuchen, ein Projekt zu finden, das er mit der beruflichen Tätigkeit verbinden kann. Einfach wird das sicher nicht.»

Apropos einfach: Schon zu Bauers Studienzeit sei übrigens klar gewesen: «Wer eine Dissertation mit möglichst geringem Aufwand machen wollte, ging zu den Medizinhistorikern.» Und das war lange vor der Zeit von Christoph Mörgeli.­