ROLLENBILDER: «Lass dich herzen, Kumpel!»

Moderne Väter sind ihren Kindern näher als in früheren Generationen. Das hat Aus­wirkungen. Knaben getrauen sich heute im jungen Erwachsenenalter, ihren besten Freund zu umarmen.

Simone Hinnen
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Umarmungen unter Männern: vor allem bei Jüngeren kein Tabu mehr. (Bild: Getty)

Umarmungen unter Männern: vor allem bei Jüngeren kein Tabu mehr. (Bild: Getty)

Pubertierende Mädchen, die sich die Hand geben. Junge Frauen, die sich gegenseitig trösten und sich dabei umarmen. Solche Bilder können wir alle abrufen. Neuerdings begegnen wir in unserem Alltag jedoch auch jungen Männern, die sich getrauen, einen Arm um einen Kollegen zu legen – und das ohne homosexuelle Neigung.

«Wir haben es heute mit der ersten Generation von jungen erwachsenen Männern zu tun, die mit so genannten Softie-Vätern gross geworden sind», erklärt Reinhard Felix-Lustenberger, Psychologe FSP, aus Sursee. Was er damit meint: Die Rollenbilder zwischen Mann und Frau haben sich in den letzten Jahren aufgeweicht. Die heutigen Männer sind aus der klassischen Vaterrolle herausgewachsen. Sie sind – etwas überspitzt formuliert – nicht mehr ausschliesslich für den Sonntagsausflug mit ihrer Familie verantwortlich, sondern füttern ihre Kleinkinder, wechseln ihnen die Windeln, schmusen mit ihnen herum. Kurzum: Sie sind ihrem Kind auch körperlich nahe.

Was verpönt ist, unterlässt man

«Söhne, die diese Erfahrung machen durften, speichern sie als positiv ab. Diese Knaben haben später das Bedürfnis, eine solche Nähe wiederzufinden. Entsprechend geben sie sich offener in Männerfreundschaften», sagt Reinhard Felix-Lustenberger. Doch nicht jeder junge Mann, der seinem Vater körperlich nahe war, umarmt a priori im Erwachsenenalter seinen besten Freund. Und nicht jeder, der ein eher distanziertes Verhältnis zu seinem Vater hatte, hat später Mühe mit körperlicher Nähe zu seinem Kollegen. Vielfach spielen auch gängige Muster innerhalb einer Gruppe eine Rolle. Wo viel geherzt wird, passen sich frisch Dazugehörige an. Wo das verpönt ist, unterlässt man entsprechende Emotionen automatisch.

Noch ist Letzteres nach wie vor die Regel. «Unter Männern dreht sich vieles um Macht, Leistung und Konkurrenz», sagt Reinhard Felix-Lustenberger. Da habe Herzlichkeit wenig Platz. Und falls doch, so frage sich manch einer: «Ist der homosexuell?» Das habe Gründe: Männer, die sich umarmen, seien nach wie vor unkonventionell. Wir können sie in unserem Rollenverständnis nicht einordnen.

Menschen haben in aller Regel ein gutes Gespür dafür, wer Nähe zulässt. Nicht jeder junge Mann ist offen für eine Umarmung. «Schwul mich nicht an», heisst es dann, obschon der Freund genau weiss, dass keine homosexuelle Neigung besteht. Generell beobachtet Reinhard Felix-Lustenberger nach wie vor in gewissen Kreisen eine grosse Feindlichkeit gegenüber Homosexualität. «Das ist ein zweischneidiges Thema, auch in der Schweiz. Nach wie vor gibt es Gruppierungen, die es sich zum Spass machen, am Wochenende Homosexuelle zu verprügeln. Ganz zu schweigen von anderen Kulturen, wo für Homosexualität die Todesstrafe gilt.»

Interessant: In der Türkei wie in anderen Ländern des Mittelmeerraumes sind die Menschen expressiver im Umgang miteinander. Sie unterstreichen ihre Worte durch Mimik und Gestik, umarmen sich auch einmal. Oder wie in Indien: Sie laufen Händchen haltend durch die Strasse.

Enterotisierter Körperkontakt

Im Falle der Türkei ist dies umso interessanter, weil dort Homosexualität verpönt ist und ein Outing zur Diskriminierung führt. «Dieser Körperkontakt ist komplett enterotisiert», erklärt der in Wien lebende Soziologe mit kurdischen Wurzeln Kenan Güngör. Während in südlichen Ländern der gleichgeschlechtliche Körperkontakt entsexualisiert sei, sei der Körperkontakt zwischen Mann und Frau umso stärker sexuell aufgeladen. Deshalb sei er auch stärker reglementiert und tabuisiert. Hingegen sei in Ländern wie der Schweiz, in Österreich oder in Deutschland der Raum für enterotisierte Körperlichkeit deutlich breiter: Der gemeinsame Saunagang mit dem anderen Geschlecht sei da ohne Erotik möglich.

Aus seinen Therapiegesprächen weiss der in Sursee praktizierende Psychologe Reinhard Felix-Lustenberger: «Es gibt junge Männer, die mit ihrem Rollenbild nicht klarkommen. Auf der einen Seite haben sie Lust, ihren Freund auch einmal zu umarmen. Auf der anderen Seite fragen sie sich: ‹Kann ich das? Ich bin ja nicht schwul.›» Aus Unsicherheit würden viele dann den spontan aufkommenden Wunsch, der irgendwie auch eine bedrohliche Komponente besitzt, unterdrücken und auf Lebendigkeit verzichten.

Heilsame Gesten

Generell gilt: Je emotional eigenständiger und selbstbewusster der Mann ist, desto eher getraut er sich, einen Kollegen zu umarmen. Aus eigener Erfahrung weiss Reinhard Felix-Lustenberger: «Diese Geste kann unter Umständen sehr guttun und heilsam sein.» Generell gewinnt er Männerfreundschaften viel Positives ab: «Früher galten Männerseilschaften als suspekt; sie waren negativ behaftet.» Heute sei das glücklicherweise nicht mehr so. Männer könnten von Freundschaften mit Gleichgesinnten profitieren. «Manchmal ist es einfacher, mit einem Mann über Herausforderungen im Alltag zu reden. Schliesslich machen beide ähnliche Erfahrungen und wissen entsprechend, wovon der andere spricht.»