Guido Fluri: «Ich bin in der Tat unerbittlich»

Der Initiant der Wiedergutmachungs-Initiative und selber ein Heimkind hat von der Universität Luzern die Ehrendoktorwürde erhalten. Ausruhen auf den Lorbeeren kommt für Guido Fluri aber nicht in Frage.

Interview: Balz Bruder
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Guido Fluri auf der Bahnhofbrücke in Olten. Bild: AZ/Bruno Kissling (6. November 2018)

Guido Fluri auf der Bahnhofbrücke in Olten. Bild: AZ/Bruno Kissling (6. November 2018)

Ein sonniger Novembernachmittag. Treffpunkt Bahnhofbuffet Olten. Es erscheint ein junggebliebener Fünfziger. Sein Händedruck ist fest. Die Begrüssung verbindlich. Guido Fluri, erfolgreicher Unternehmer, dreifacher Familienvater, in der Öffentlichkeit besser bekannt als Kämpfer für die Rechte von Verdingkindern, hat eben die Ehrendoktorwürde von der Theologischen Fakultät der Universität Luzern erhalten.

Guido Fluri, was bedeutet Ihnen diese Ehrung?

Ich habe sie, ehrlich gesagt, nicht erwartet. Ich war überrascht und erfreut. Ich widme sie jenen, die Unrecht erlitten haben und nun späte Anerkennung für das Erlebte erfahren haben. Wiedergutmachen kann auch eine Ehrendoktorwürde nichts, aber sie ist ein Zeichen der Anerkennung und der Solidarität für die Opfer.

Guido Fluri wird am 10. Juli 1966 in Olten als Sohn einer alleinerziehenden, unmündigen Mutter geboren. Weil seine Mutter an Schizophrenie erkrankt, wird er in den ersten Lebensjahren an mehreren Orten fremdplatziert, unter anderem auch im Kinderheim Mümliswil. Danach nimmt ihn seine Grossmutter in Matzendorf auf. Nach einer gescheiterten Lehre als Spengler tritt er eine Ausbildung als Tankwart an.

Wie war das damals, als Tankwart anzufangen?

Es war eine schwierige Zeit – und eine, die mich geprägt hat. Dieser Teil meiner Biografie ist wie ein Stempel, der mit aufgedrückt wurde. Aber es gab nichts anderes, ich musste damit klarkommen.

Die Trinkgelder, die er als Tankwart erhält, legt er zur Seite. Mit seinen ersten Ersparnissen von 5000 Franken und einem Bankkredit ersteht er mit 20 Jahren ein Stück Land, das er kurz darauf bebaut. Danach verkauft Guido Fluri das Haus mit mehreren Wohnungen wieder gewinnbringend. Das Startkapital ermöglicht ihm den Weg zum Unternehmer. Mit seinem Instinkt für unterbewertete Anlageobjekte baut Guido Fluri insbesondere während der Immobilienkrise der 90er-Jahre ein umfassendes Immobilienportefeuille auf.

Es ist die klassische Tellerwäscherkarriere. Stört Sie die Bezeichnung?

Das ist ein Klischee. Aber es stimmt natürlich, dass ich mich heraufgekrampft habe. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht einfach war. Als ich die ersten Liegenschaften erwarb, war ich mit Flugblättern auf der Strasse unterwegs, um die Wohnungen an den Mann zu bringen.

Vor acht Jahren gründet der Unternehmer die Guido-Fluri-Stiftung. Sie verfolgt drei Zwecke: Mitwirken gegen Hirntumore, Verhindern von Gewalt an Kindern, Verbesserung der Integration von Menschen mit Schizophrenie. Rund ein Drittel der Gewinne, welche die GF Group Holding AG erwirtschaftet, fliessen in die Stiftungsprojekte.

Das Engagement: Woher rührt es? Ist es Ihre Art, etwas zurückgeben zu wollen? Vielleicht sogar zu müssen?

Ja, das ist für mich ein Teil der Aufarbeitung meiner eigenen Geschichte. Es war und ist ein Prozess, der viel mit mir selber zu tun hat. Der Vorteil ist: Als Betroffener weiss ich immer, worum es tatsächlich geht. Ich hatte eine Mutter, die schizophren war, und weiss, wie solche Menschen durchs Leben gehen – und was sie für ihr familiäres Umfeld bedeuten. Ich bin als Kind fremdplatziert worden und ich kann nachvollziehen, wie sich das Verdingtsein anfühlt. Ich hatte einen Hirntumor und weiss, wie existenziell qualitativ gute und zugängliche Medizin ist. Daraus entspringt mein Ansporn für die Projekte, mit denen ich etwas für die Menschen bewegen will.

2010 beginnt auch die historische Aufarbeitung der Ereignisse in Schweizer Kinderheimen. Unter Einbezug von Erfahrungsberichten ehemaliger Heimkinder, Akten, Bildquellen und Literatur werden erstmals frühere Missstände, Missbräuche und Übergriffe untersucht. Die Stiftung von Guido Fluri initiiert und finanziert das Projekt. Es ist der Auftakt zu einem umfassenden Engagement im Zusammenhang mit einem trüben Kapitel Schweizer Sozialgeschichte.

Wäre der Einsatz auch möglich gewesen, wenn es die persönliche Betroffenheit nicht gegeben hätte?

Frühkindliche Erfahrungen, Urängste, die damit verbunden sind, kann man nicht wegtherapieren. Diese Erfahrung habe ich gemacht und für mich einen anderen Weg gefunden. Weil ich die Möglichkeiten habe, Menschen mit Schicksalen, die ich kenne, zu helfen, tue ich dies. Das ist meine soziale Verantwortung für die Gesellschaft.

Die in Cham domizilierte Fluri Real Estate AG erwirbt 2011 den Landgasthof Sternen in Matzendorf, um den seit 1617 bestehenden Betrieb als gesellschaftlichen Treffpunkt zu bewahren. Mit dem symbolischen Betrag von 1 Franken im Jahr wird der darin befindliche Sternensaal an die Gemeinde vermietet. So ist sichergestellt, dass der Saal durch die einheimischen Vereine gratis genutzt werden kann. Der Kauf mitsamt einem Coop-Neubau und einem neuen Gesundheitszentrum ist der Auftakt eines Kulturengagements für die Region Thal, für das Guido Fluri insgesamt über 10 Millionen Franken investiert hat.

Das Engagement an einem Ort Ihrer Kindheit: Gab es Phasen, da Sie dachten: Nie mehr zurück?

Nein, das nicht. Aber ich bin in meinem Leben an viele Grenzen gestossen. An meine psychischen wie an meine physischen. Das Engagement, der konkrete Umgang mit Schicksalen, das Herausfinden, wo und wie Hilfe am besten wirkt, treiben mich stets von neuem an.

«In meinem Leben bin ich an viele Grenzen gestossen.»

Guido Fluri, Unternehmer

Das ehemalige Kinderheim Mümliswil, wo Guido Fluri eine kurze Zeit seiner Kindheit verbrachte, öffnet 2013 seine Tore als erste Nationale Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder in der Schweiz. Das Gebäude wurde im Jahr 2011 durch Guido Fluri erworben und restauriert. Die Gedenkstätte ermöglicht Interessierten, sich vor Ort ein Bild über die früheren Missstände zu verschaffen.

Kritisch könnte man einwenden: Fluri kommt von «seinem» Thema einfach nicht los.

Ja, das habe ich auch schon gehört. Aber ich kann loslassen und auch abschliessen. Meine Erfahrung ist einfach die: Hadern über Dinge, die angeblich nicht zu ändern sind, braucht viel zu viel Energie, die nutzlos verpufft. Ich mache lieber etwas Konkretes und mit ganzem Einsatz. Wenn es darum geht zu wissen, was Sache ist, bin ich in der Tat unerbittlich. Weil ich authentisch sein will in dem, was ich tue. Ohne Glaubwürdigkeit geht es nicht. Wobei ich natürlich weiss, dass ich mich dadurch auch angreifbar mache. Das ist der Preis für das Exponiertsein.

2013 lanciert Guido Fluri die Wiedergutmachungs-Initiative. Sie fordert eine finanzielle Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, eine wissenschaftliche Aufarbeitung der früheren Missstände und einen Fonds über 500 Millionen Franken für schwer betroffene Opfer. Engagierte Helferinnen und Helfer, darunter viele ehemalige Verdingkinder, sammeln die benötigten 100000 Unterschriften.

Der Schritt vom Privaten ins Politische: Was war ausschlaggebend?

Das ist ein interessanter Punkt. Ich hätte nie gedacht, dass das politische Geschäft derart anspruchsvoll ist – und unendlich viel Überzeugungsarbeit bedingt. Das war beim Unterschriftensammeln so. Das war im politischen Prozess im Parlament so. Das war bei der Ausrichtung der Solidaritätsbeiträge an die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen so. Was mich antrieb, war immer dies: Ich darf die Hoffnungen, die Erwartungen der Betroffenen nicht enttäuschen.

Der Bundesrat reagiert mit einem Gegenvorschlag auf die Initiative. National- und Ständerat stimmen diesem zu, worauf die Initianten ihre Initiative zurückziehen. In Rekordzeit ist es gelungen, dass die Politik das Leid der ehemaligen Verdingkinder anerkennt, diesen einen Solidaritätsbeitrag ausrichtet und das dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte wissenschaftlich aufarbeiten lässt. Seit Januar 2017 ist das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 in Kraft. Rund 9000 Betroffene stellten Gesuche für Solidaritätsbeiträge.

Welche Rolle spielt die persönliche Befriedigung bei dem, was Sie tun?

Ich würde nicht von Befriedigung sprechen, auch wenn ich wie jeder andere Mensch Anerkennung brauche für das, was ich tue. Entscheidend ist das aber nicht. Mir geht es darum, dass unsere Gesellschaft sensibel bleibt für das Unrecht, das geschieht. Deshalb schaue ich hin und tue im Rahmen meiner Möglichkeiten das, was ich als richtig empfinde.

2017 initiiert die Guido-Fluri-Stiftung eine Anlaufstelle für Personen, die mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, den Beiständen oder dem Gericht wegen Schutzmassnahmen in einer Konfliktsituation sind. Die neue Anlaufstelle Kindes- und Erwachsenenschutz (Kescha) wird gemeinsam mit Fachverbänden und der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz aufgebaut.

Hat sich so der Kreis geschlossen?

Vielleicht. Ich weiss aber auch, dass ich die Sache mit der WiedergutmachungsInitiative und dem, was daraus geworden ist, kein zweites Mal schaffen würde. Es ging mir extrem an die Substanz, weil mir die Schicksale sehr nahegingen. Ich weiss nicht, wie viele Menschen mir ihr Leben ausgebreitet haben. Das war ausserordentlich berührend, hat aber emotional stark an den Kräften gezehrt.

Am Donnerstag hat Guido Fluri die Ehrendoktorwürde erhalten. In der Laudatio heisst es: «Guido Fluri steht stellvertretend für all jene, die sich für Gerechtigkeit und Versöhnung engagieren.»

Können Sie sich nun im akademischen Olymp niederlassen und auf den Lorbeeren ausruhen?

Als Nichtakademiker komme ich trotz Ehrendoktortitel nie im Olymp an (lacht). Meine Arbeit wird nicht aufhören. Ich brauche den Kontakt mit den Menschen. Ich will wissen, was sie beschäftigt. Und ich will mich einsetzen gegen das Unrecht und Vergessen. Das gibt mir Kraft.