Prostatakrebs-Früherkennung "Ganz schnell auf die Bremse treten"

Brauchen Männer ab 45 den PSA-Test zur Prostatakrebs-Früherkennung? Über diese Frage ist ein heftiger Streit entbrannt. Biophysiker Hans-Hermann Dubben über unnötige Studien und fehlende Aufklärung.

Herr Dubben, in einer neuen Leitlinie haben die Urologen gerade festgelegt, wie Prostatakrebs behandelt werden soll. Sie kritisieren das Werk an einigen Stellen. Warum?
Es geht um die Aufklärung für Männer, bevor sie einen PSA-Test zur Früherkennung von Prostatakrebs machen. In der Leitlinie steht, es sei nachgewiesen, dass dies einen Vorteil bringt. Aber das stimmt so nicht. Ich fürchte zudem, dass Männer auf Basis dieser neuen Leitlinie von ihrem Urologen nicht ausreichend aufgeklärt werden.

Können Sie das genauer erklären? Immerhin wird Männern ab 50 oft nahegelegt, einen PSA-Test durchzuführen.
Die Früherkennung kann nicht nur nutzen, sie kann auch schaden. Zum Beispiel gibt es Menschen mit einem Tumor, die keinerlei Symptome haben und auch nicht an dem Krebs sterben. Eine Behandlung ist völlig unnötig. Ohne Früherkennung würde niemand von diesen Tumoren erfahren. Beim Screening werden sie aber diagnostiziert und wie aggressiver Krebs behandelt. Dies sind so genannte Überdiagnosen und Überbehandlungen. Die Leitlinie bezieht sich auf eine große europäische Untersuchung, die sogenannte ERSPC-Studie. Diese kommt zum Ergebnis, dass 1410 Männer per PSA-Test gescreent werden müssen, damit einer weniger an Prostatakrebs stirbt. In der Studie erhielten 116 dieser 1410 Männer eine Krebstherapie. 48 davon waren jedoch Überbehandlungen. Sie bekommen die schreckliche Diagnose Krebs, werden operiert, bestrahlt oder beides. Ihre Lebensqualität wird mit Sicherheit verschlechtert, auf eine Operation können Inkontinenz oder Impotenz folgen. Es werden, um einen Vergleich zu nennen, sehr viele Unschuldige verhaftet.

Es liegt mir fern, die Krankheit Prostatakrebs zu verharmlosen. Ich weiß, welches Elend in der Spätphase damit verbunden ist. Wer diese Krankheit tatsächlich hat, dem wünsche ich alle erdenkliche Hilfe - auch in Form von solider Forschung. Aber man muss die Gesunden, die glücklicherweise weit in der Überzahl sind, da raushalten.

Sie haben ihre Kritik an der Leitlinie geäußert, als eine vorläufige Fassung - Konsultationsfassung genannt - veröffentlich worden war. Was passierte dann?
Mir wurde mitgeteilt, dass das Kapitel "Früherkennung" überarbeitet wird, was mich natürlich gefreut hat. Doch in der Endfassung der Leitlinie wurde die vorher fehlerhafte Wiedergabe des Schadens durch eine verwirrende ersetzt. Dort heißt es jetzt: "In dem mit neun Jahren noch kurzen medianen Beobachtungszeitraum wurden in der Screening-Gruppe 48 Prostatakarzinome mehr diagnostiziert als in der Kontrollgruppe. Das bedeutete in der Folge, dass in der Behandlung von 48 Prostatakarzinompatienten zusätzlich in der Screening-Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe statistisch ein Todesfall an Prostatakarzinom verhindert wurde." Das klingt wie eine Erfolgsmeldung: Sinn der Früherkennung ist es schließlich, Tumore zu erkennen. Aber die armen 48 Männer hatten ja gar keine bedrohliche Krankheit! Ich halte das Ergebnis der Studie für eine Katastrophe, und ich bin enttäuscht, dass die Deutsche Gesellschaft für Urologie versäumt hat, das vernünftig darzustellen. Außerdem liest man in der Leitlinie immer noch, dass ein Vorteil durch Früherkennung nachgewiesen ist. Zwei Seiten weiter steht allerdings, es gebe bislang keinen Nachweis. Der beratende Urologe muss wohl selbst entscheiden, welchen dieser Sätze er glaubt.

Sind die Ärzte denn nicht gut genug informiert?
Kann man erwarten, dass ein Urologe gut informiert ist, wenn die Leitlinie seiner Zunft an dieser Stelle mangelhaft ist?

Wieso ist der Nutzen der Früherkennung nicht belegt? Es gibt doch große Studien.
Ob die Früherkennung nutzt oder nicht, lässt sich mit einer klinischen Studie überhaupt nicht beantworten, das ist das Fazit einer Untersuchung, die ich im Fachblatt "Lancet Oncology" veröffentlicht habe. Es liegt schlicht daran, dass relativ wenige Menschen an Prostatakrebs sterben. Und ab der Diagnose, die ein Mann meist im Alter zwischen 60 und 70 bekommt, lebt man noch 10 bis 15 Jahre ziemlich gut. Das hat zur Folge, dass Wissenschaftler sehr viele Studienteilnehmer über einen langen Zeitraum beobachten müssen. Wenn sie nach Jahrzehnten ein Ergebnis haben, ist es schon veraltet. Die Diagnostik hat zwischenzeitlich Fortschritte gemacht, die Therapie auch, also helfen die Erkenntnisse der Studie nicht mehr weiter. Die Forschungsgelder, die man für zum Scheitern verurteilte Screening-Studien ausgibt, sind meiner Einschätzung woanders besser angelegt, etwa beim Erforschen von Behandlungsoptionen, die den tatsächlich Kranken zugute kommen.

Können Sie die Zahlen dazu nennen?
Etwa drei Prozent der Männer sterben an einem Prostatakarzinom. Nehmen wir eine Gruppe von 200.000 älteren Männern, von denen die Hälfte zum Screening geht, die andere Hälfte nicht, und beobachten sie fünf bis zehn Jahre, bis zu dem Zeitpunkt, an dem etwa zehn Prozent verstorben sind. Dann sind in der Gruppe, die keine Früherkennung wahrgenommen hat, 300 Männer an Prostatakrebs gestorben. Damit das Screening empfehlenswert ist, müsste das Risiko, an dem Krebs zu sterben um 25 Prozent gesenkt werden. Das bedeutet: In der Screening-Gruppe sollten ein Viertel weniger, also nur 225 Männer, wegen eines Prostatakarzinoms gestorben sein. Sie suchen also unter 200.000 Probanden 75, die gerettet wurden. Das allein ist schon extrem schwierig. Dazu kommt aber, dass die Studien in der Realität nicht perfekt laufen. Manche Männer, die zum Screening eingeladen werden, gehen nicht hin. Andere aus der Kontrollgruppe nehmen die Früherkennung dagegen in Anspruch. Auch wird die Todesursache nicht immer richtig ermittelt. Um solche Unschärfen auszugleichen, bräuchten die Forscher mehr Studienteilnehmer - und zwar Millionen. Das lässt sich nicht umsetzen.

Zu welchem Schluss kommt die ERSPC-Studie?
In die Auswertung sind die Daten von 162.000 Männern eingeflossen. Am Ende sind in der Screening-Gruppe 51 Männer weniger an Prostatakrebs gestorben als in der Kontrollgruppe. Stellen wir uns vor, bei einer Präsidentschaftswahl in einem windigen Land hat der Präsident bei 162.000 gezählten Stimmen mit 51 Stimmen Vorsprung gewonnen. Das kann man natürlich gelten lassen, weil die Regeln so sind. Aber dann wir bekannt, dass 17.000 Portugiesen nachträglich von der Wahl ausgeschlossen wurden. Trauen Sie dann noch dem 51-Stimmen-Vorsprung? Tatsächlich wurden in der ERSPC-Studie 17.000 Portugiesen nachträglich ausgeschlossen. Sie werden mit nur einem lapidaren Satz erwähnt - nämlich, dass die portugiesischen Wissenschaftler ihre Beteiligung an der Studie abgebrochen hätten, da sie nicht in der Lage waren, die notwendigen Daten zu liefern. 10.000 Männer der Altersgruppe 70 bis 74 wurden ebenso nachträglich bei der Auswertung ausgeschlossen. Wir reden also von 51 Männern, die den Unterschied ausmachen, der den Nutzen des Screenings beweist, während 27.000 einfach unter den Tisch gefallen sind. Kann man so eine Studie ernst nehmen?

Was folgern Sie daraus?
Ein positiver Effekt des Screenings lässt sich nicht nachweisen. Das ist nicht nur beim Prostatakrebs so, sondern auch beim Brust- und Darmkrebs. Dies liegt übrigens nicht an den Diagnose-Methoden. Koloskopie, Mammographie, Hämoccult und PSA-Test können sinnvoll sein, wenn jemand mit Symptomen zum Arzt kommt. Und was den Schaden des Prostatakarzinom-Screenings angeht: Wenn man der ERSPC-Studie überhaupt etwas entnehmen kann, dann die ernste Warnung, ganz schnell auf die Bremse zu treten.

Zur Person

Privatdozent Dr. Hans-Hermann Dubben arbeitet am Zentrum für Psychosoziale Medizin der Uniklinik Hamburg-Eppendorf. Der Biophysiker beschäftigt sich seit Jahren mit der statistischen Auswertung wissenschaftlicher Studien und hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht.

Nina Bublitz