Vor 20 Jahren wurde Rabin ermordet "Die Kugel, die uns alle traf"

Vor genau 20 Jahren hat ein jüdischer Extremist Israels große Friedenshoffnung ermordet: den damaligen Premier Jitzchak Rabin. Die Schockwellen wirken bis heute. Eine persönliche Erinnerung.

Eigentlich war ich immer der Meinung, dass der Frieden einer ganzen Nation nicht mit der Existenz einer einzelnen Person stehen und fallen kann. Nun scheint mich die Geschichte eines Besseren zu belehren. 

Der Morgen des 4. November 1995 war grau und regnerisch - für das tropische Klima Israels nicht ganz selbstverständlich. Das kann man ganz melodramatisch als Kulisse des Schicksals interpretieren, muss man aber nicht. Ich, damals zarte sieben Jahre alt, betrat noch halb-schlafend die Küche, wo meine Mutter an der Theke stand und die Zeitung anstarrte, als hoffte sie, die Buchstaben der riesigen Schlagzeile würden sich magisch neu anordnen und die traurige Botschaft in eine Kurzgeschichte über Ponys in Regenbogenfarben verwandeln. Es funktionierte aber nicht.

"Rabin wurde letzte Nacht erschossen", sagte sie. Für einen kurzen Moment kam es mir so vor, als hätte mich meine Mutter mit einer anderen Person verwechselt. Das war nicht der Tonfall eines Erwachsenen, der mit einem Kind spricht, den ich sonst gewohnt war. Es klang, als müsste sie unbedingt mit jemandem reden, egal wem, um das zu verarbeiten, was sie gerade erfahren hatte.

Friedenshoffnung und "Verräter"

Ganz Israel schien an jenem grauen Morgen von einer Schockwelle durchgerüttelt. Es war dieses mulmige Gefühl, das wir manchmal bei schlechten Nachrichten bekamen, als Zeitungen aus Papier waren und auf MTV noch Musikvideos liefen. Heute bringen wir solch emotionalen Zusammenbrüche höchstens mit einem traurigen Emoticon zum Ausdruck :-(

Ausgerechnet Jitzchak Rabin, der versierte Feldherr, der 27 Jahre lang als Soldat diente und in so vielen Kriegen gekämpft hat, kam näher an den Frieden heran als jeder andere. Nicht alle standen hinter ihm: Die rechte Likud Partei, angeführt von einem ehrgeizigen Abgeordneten namens Benjamin Netanjahu, lehnte Gewalt und Hetze gegen ihren politischen Gegner zwar öffentlich ab, doch ihre Anhänger schickten Drohungen, montierten Rabins Gesicht in das von Hitler und bezeichneten ihn als Verräter. Auf jeder Parteiveranstaltung.

Natürlich ließ er sich davon nicht einschüchtern, der Mann war ein Löwe. Israel hatte viele Anführer, die stark genug waren, um den jungen Staat vor seinen vielen Feinden zu verteidigen, doch nur Rabin war stark genug, um die Waffen niederzulegen, solange der Frieden eine Chance hatte.

Für einen kurzen Moment schien es so, als könnte er das Unmögliche schaffen. Dann feuerte ein ultraorthodoxer Jura-Student zwei Schüsse auf ihn ab, unmittelbar nach einer großen Friedenskundgebung in Tel Aviv unter dem Motto "Ja zum Frieden, Nein zur Gewalt". Rabin starb im Krankenhaus, und mit ihm der Frieden. Noch nie haben zwei Schüsse so viele Menschen umgebracht.

Sein Vermächtnis stirbt immer noch

20 Jahre später ist alles anders in Israel: Die Rechten sind stärker denn je, die politische Linke gesellt sich bald zu Rabin ins Grab, und von Frieden spricht niemand mehr, nicht einmal die Optimistischsten unter uns. Nur eine Parallele bleibt: Wer liberal denkt, wird als Verräter bezeichnet. Ausgerechnet die, die den Frieden als einzigen Weg für die Weiterexistenz Israels sehen, werden als Staatsfeinde diffamiert. Das gehört heute fast schon zum guten Ton.

Ich konnte damals nicht begreifen, wie tragisch der Tod von Rabin war. Mit sieben hatte ich schon eine Intifada und mehrere Sitzungen im Bombenkeller hinter mir. Menschen starben ständig. Heute trauere ich all dem nach, was hätte sein können, wenn Rabin noch da wäre.

Wir standen nicht in der Schusslinie, aber die Kugeln haben uns alle getroffen. Ein Mann hat nicht nur einem anderen des Lebens beraubt. Er hat einer ganzen Nation ihre Zukunft genommen. Eine Zukunft, die vielleicht ganz anders gewesen wäre. Besser. Das ist nicht nur Mord, das ist Verrat.

Das Vermächtnis von Jitzchak Rabin liegt noch immer auf der Straße in Tel Aviv und stirbt vor unseren Augen. Diesmal geht es auf unsere Kappe, wenn wir ihn nicht retten.