Frankreich hat Großbritannien einen "Mangel an Menschlichkeit" gegenüber Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine vorgeworfen. In einem Brief an seine britische Kollegin Priti Patel, den AFP am Samstag einsehen konnte, beklagte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin einen "komplett unangemessenen" Umgang der britischen Behörden mit Flüchtlingen, die in den vergangenen Tagen im nordfranzösischen Calais angekommen seien und von dort zu Angehörigen in Großbritannien weiterreisen wollten.
In den vergangenen Tagen seien 400 ukrainische Flüchtlinge an Grenzposten in Calais vorstellig geworden, schrieb Darmanin. 150 von ihnen seien aufgefordert worden, nach Paris oder Brüssel zu fahren, um in den dortigen britischen Konsulaten Visa für das Vereinigte Königreich zu beantragen.
Frankreich fordert unbürokratische Visa-Abwicklung vor Ort, um weitere "Tragödien" zu verhindern
Großbritannien müsse in Calais echte konsularische Dienste anbieten, forderte Darmanin. "Es ist unerlässlich, dass Ihre konsularische Vertretung – ausnahmsweise und für die Dauer dieser Krise – Visa für die Familienzusammenführung vor Ort in Calais ausstellen kann", schrieb der Innenminister an seine Kollegin. Es sei "nicht nachvollziehbar", dass das Vereinigte Königreich in der Lage sei, solche Dienste an der polnisch-ukrainischen Grenze anzubieten, nicht aber in seinem direkten Nachbarland Frankreich.
"Unsere Küsten waren Szenen so vieler Tragödien", schrieb Darmanin mit Blick auf die zahlreichen Flüchtlinge, die jährlich bei dem gefährlichen Versuch sterben, über den Ärmelkanal von Frankreich nach Großbritannien zu gelangen. "Lassen Sie uns nicht diese ukrainischen Familien noch zu ihnen hinzufügen."
Situation der Flüchtlinge am Ärmelkanal regelmäßig Gesprächsthema
Die Flüchtlingsproblematik am Ärmelkanal belastet die Beziehungen zwischen Großbritannien und Frankreich. Befeuert worden waren die Spannungen durch ein schweres Bootsunglück im November, bei dem 27 Flüchtlinge ums Leben gekommen waren. Paris und London hatten sich damals gegenseitig vorgeworfen, nicht genug gegen Schlepperbanden zu unternehmen.
Nach UN-Angaben sind seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine mehr als 1,3 Millionen Menschen aus dem Land geflohen. Allein 756.000 von ihnen wurden bislang vom Nachbarland Polen angenommen.