Drohende Ärzteschwemme?
Ja, es gibt zu wenig Ärzte. Doch das ist längst kein Grund für mehr Studienplätze
Erinnert sich jemand an die „Ärzteschwemme“? Ja, die gab es mal, und ich war mittendrin. Lieber Wahlpatensohn Basti, wenn ich dir heute davon erzähle, dann deshalb, weil du drauf und dran bist, Medizin zu studieren. Und weil die Berufschancen exzellenter nicht sein könnten, schließlich wird doch seit Jahren schon über einen „Ärztemangel“ geklagt. Drastische Prophezeiungen wagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vor zwei Wochen: 50.000 Ärztinnen und Ärzte zu wenig seien in den vergangenen zehn Jahren ausgebildet worden. „Daher werden uns in den nächsten Jahren flächendeckend die Hausärztinnen und Hausärzte fehlen." Der Deutsche Ärztetag hatte bereits im Mai vergangenen Jahres gefordert, die Zahl der Studienplätze um 6000 zu erhöhen.
Man fragt sich, wie konnte es so weit kommen? Wir sind doch alle noch da und arbeiten. Wir Boomer, der wir immer zu viele waren. Denn wir haben uns ja durchgebissen, trotz aller düsterer Vorhersagen. Gab ja keine andere Wahl: Die „Lehrerschwemme“ war noch nicht vorbei, während meines Studiums gab es sogar eine Ingenieursschwemme. Alles längst vergessen, auch in diesen Berufen herrscht heute ein dramatischer Arbeitskräftemangel. An der „Ärzteschwemme“ aber kann man hervorragend erklären, wie fragwürdig all diese aus einer akuten Situation geborenen Langzeitprognosen sind. Jetzt eben auch der „Ärztemangel“, aber dazu später.
Wie war das also damals in der Zeit der Schwemmen? Ich erinnere mich an mehrere Veranstaltungen in den ersten Semestern, in denen uns erklärt wurde: Ihr seid zu viele. Ein Drittel von euch wird nie in diesem Beruf arbeiten können. Sucht euch was anderes, solange es noch geht.
Rückblickend war die Wortschöpfung „Ärzteschwemme“ großer Unsinn. In der Statistik ist sie nicht auffindbar. Ein kurzer Rückblick: Im Jahr 1980, kurz bevor sie angeblich begann, waren in Deutschland 173.346 Ärztinnen und Ärzte berufstätig. Im Jahr 2002, als sie angeblich endete, waren es 301.060. Dazwischen stieg ihre Zahl stetig an, nirgendwo zeigt sich eine Ausbeulung in den Balkengrafiken, in die Absolventen wie ich reinpassen, der ich am historischen Höhepunkt der Ärzteschwemme 1997 auf den Arbeitsmarkt drängte – so wie ja auch deine Mutter, Basti, die heute Kinderärztin ist und 80 kleine Patienten am Tag durch ihre Praxis jagen muss, für jeden hat sie nur wenige Minuten.
Die Bundesanstalt für Arbeit verzeichnete im Januar 1997 genau 10.594 arbeitslos gemeldete Ärztinnen und Ärzte, Tendenz angeblich rasant steigend, sogar Fachärztinnen und -ärzte waren betroffen. Das deutsche Ärzteblatt titelte im Jahr 1998: „Ärztliche Arbeitslosigkeit: Vom Fremdwort zum Langzeitproblem“. Fünf Jahre später dann, als die Ärzteschwemme gerade erst offiziell für beendet erklärt worden war, erschien dann dann ein Artikel unter dieser Zeile: „Ärztemangel: Der Nachwuchs bricht weg.“
Uups. So schnell ändert sich die Lage. Und so lange schon fehlen in Deutschland Ärzte. Und das, obwohl ihre Zahl bis heute stetig steigt, wir liegen nun bei gut 428.000. Mehr als eine Verdoppelung also seit dem Beginn der „Ärzteschwemme“ – und trotzdem suchen die Krankenhäuser landauf landab händeringend Mediziner, trotzdem schließt auf dem Land eine Hausarztpraxis nach der anderen.
Also haben wir es doch wirklich mit einem Ärztemangel zu tun, wirst du jetzt sagen - oder? Hmmh… jein. Lass uns erst mal einen internationalen Vergleich ziehen: Bei der sogenannten „Ärztedichte“ belegen die Deutschen mit 453 Medizinern auf 100.000 Einwohner immer noch einen der vorderen Plätze, weit vor Ländern wie Frankreich, Belgien oder Ungarn. Und das, obwohl sie bekanntlich weder gesünder sind noch länger leben.
Die reinen Zahlen aber sagen wenig aus. Ärzteebbe herrscht in Deutschland oft auf dem Land, während sich in den Großstädten die Fachärzte ballen. Sie vergeben Termine oft bevorzugt an Privatpatienten, nicht wenige besitzen keine Kassenzulassung. Deutschland leistet sich den teuren Luxus einer „doppelten Facharztschiene“ aus Niedergelassenen und Krankenhausärzten, beide wollen gut verdienen. Deutsche sind im europäischen Vergleich möglicherweise wehleidiger, jedenfalls gehen sie häufiger zum Arzt ihre europäischen Nachbarn. Zum gefühlten Ärztemangel gehören auch überfüllte Notaufnahmen und heillos überarbeitete Krankenhausärzte – was an einer überbordenden Bürokratie, einem vielerorts insuffizient aufgestellten Niedergelassenen-Sektor und dem mittlerweile allseits bekannten Abrechnungssystem nach „Fallpauschalen“ liegt, das immer noch Kliniken belohnt, die möglichst viele Patienten in möglichst kurzer Zeit durchschleusen.
Nun aber kommen wir zur Gretchenfrage: Soll ich dir raten, Medizin zu studieren? Drei Monate Pflegepraktikum hast du ja schon hinter dir. In wenigen Tagen machst du den „Medizinertest“. Mit einer Abinote von 1,2 und deinem großen Talent für Naturwissenschaften besteht kein Zweifel: Du wirst deinen Studienplatz bekommen.
Wenn ich nun sowas sage wie „folge deinem Bauchgefühl“, dann stimmt natürlich immer. Aber vielleicht denkst du ja auch pragmatisch. Und da stellt sich die Frage: Wird es im Jahr 2030 immer noch einen Ärztemangel geben – oder vielleicht schon wieder eine Ärzteschwemme? Zweiteres erscheint unvorstellbar, schließlich werden wir ja alle immer älter und medizinisch bedürftiger, und auch viele Ärztinnen und Ärzte stehen heute kurz vor dem Rentenalter. Trotzdem wagte die auf die Bewältigung des Hausärztemangels spezialisierte Beratungsgesellschaft Dostal & Partner schon vor sechs Jahren diese Prognose: „Doch ist die nächste Ärzteschwemme bereits vorbestimmt.“ Die genannten Argumente passen heute noch: Bis ein massiver Ausbau der Medizinstudienplätze, wie er jetzt wieder von der Politik und Ärzteverbänden lautstark gefordert wird, zu mehr Absolventen führen wird, haben wir das Jahr 2030 überschritten. Es wird moderne und effizientere Strukturen geben. Wahrscheinlich gibt es kein Fallpauschalensystem mehr. Die Digitalisierung ist weit vorangeschritten, die KI wird Ärzte bei ihrer Arbeit unterstützen. Neben sie sind dann wahrscheinlich auch akademisch ausgebildete Pflegekräfte (Community Health Nurses) und besonders qualifizierte Medizinische Fachangestellte getreten, die viele Routinebehandlungen übernehmen und sogar Rezepte ausstellen dürfen. Diese „Delegation“ von ärztlichen Aufgaben an solche Fachkräfte ist im aktuellen Koalitionsvertrag schon festgeschrieben. Sie ist im Grunde alternativlos, auch wenn die Ärzte sich noch wehren. Nein, mehr Medizinstudienplätze brauchen wir nicht, die Lösungen werden und müssen schon früher greifen.
Was ich dir sagen will, Basti: Bis du mal fertig bist mit deinem Studium, könntest du einer völlig veränderten Arbeitsmarktsituation gegenüberstehen.
Was könnte das für dich bedeuten? Vielleicht ergeht es dir dann wie damals uns. Als Mittel gegen die „Ärzteschwemme“ wurde damals der „Arzt im Praktikum“ eingeführt. Die Idee dahinter: (Fast) volle ärztliche Verantwortung, je nach Fachgebiet zwei bis zehn Nacht- und Wochenenddienste im Monat, aber nur ein Drittel des Gehalts eines Assistenzarztes. Machte damals etwa 1500 Mark. Wenig, findest du? An einer Klinik meiner Unistadt Bochum teilten sich damals drei Absolventen in meinem Wunschfach Neurologie eine Stelle, sie arbeiteten voll, für ein Drittel von 1500 Euro. Als ich darüber klagte, stauchte mich mein Patenonkel Herbert zusammen, ein niedergelassener Internist und passionierter Kunstsammler mit großer Villa und Swimmingpool. Er sagte: „Nach dem Krieg war überhaupt kein Geld da. Ich habe ein Jahr umsonst gearbeitet und geforscht. Das habe ich gerne getan.“ Will heißen: Es könnte sogar schlimmer kommen, als meine Generation es erlebt hat.
Wenn du es also unbedingt willst, tu es. Aber sei leidensfähig. Und stell dich darauf ein, dass deine Berufschancen vielleicht nicht mehr so rosig sind, wie es jetzt aussieht. Aber auch dann heißt das natürlich nicht, dass du als Absolvent auf der Straße stehen wirst: Tatsächlich kenne ich niemanden, dem das wegen der angeblichen Ärzteschwemme passiert wäre. Meine Kommilitoninnen und Kommilitonen haben schnell Arbeit gefunden, 60 Stunden pro Woche als Assistenzärztinnen und -ärzte geschuftet, es zu Ansehen und Wohlstand gebracht, und die meisten fühlen sich erfüllt in ihrem Beruf.
Noch eine Schlussbemerkung, Basti, falls du immer noch überlegst, ob Lehrer eine Alternative zum Arztberuf wäre. Auch an denen herrscht ein dramatischer Mangel, wissen wir – oder? Nun ja – eine aktuelle Bertelsmannstudie prognostiziert, dass schon im kommenden Jahr mehr Lehrkräfte für Grundschulen zur Verfügung stehen, als Stellen zu besetzen sind. Kommt auch die Lehrerschwemme zurück?
Geh also einfach, wohin dein Herz dich trägt und lass dich dabei nicht zu sehr von Prognosen leiten.