Wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein, läuten beim Journalisten die Alarmglocken. Umso gespannter war ich, was meine Recherchen zu einer viel gepriesenen «Wunderwaffe» der ukrainischen Armee ergeben würden.
GIS Arta. So lautet der Name einer App, die nicht weniger als das «Uber der Artillerie» sein soll und die russischen Invasoren angeblich das Fürchten lehrt. Im Mai machten erste sensationell klingende Meldungen im Internet die Runde.
Weil das Satelliten-Internet des umtriebigen Milliardärs Elon Musk eine zentrale Rolle spielt, war vom «ersten Starlink-Krieg der Geschichte» die Rede. Blogger und Journalisten weltweit griffen das Thema auf. Und dann schrieb auch das Nachrichtenmagazin «Spiegel» von einer «Blitzkrieg-App».
watson hat die Entwickler kontaktiert und aufschlussreiche Antworten erhalten. Diese fliessen in die im Folgenden präsentierten wichtigsten Fakten zu GIS Arta ein.
Internet-Nutzerinnen und -Nutzer im Westen, die den Ukraine-Krieg am Bildschirm verfolgen, dürstet es nach «Good News». Der heroische Abwehrkampf der Überfallenen gegen die russischen «Orks» stösst auf riesiges Interesse.
Da verwunderte es nicht, dass Schilderungen über eine bis dato unbekannte ukrainische Spezial-Software, ein «Uber der Artillerie», weltweit für Schlagzeilen sorgten.
Auslöser war Trent Telenko, ein Amerikaner und gebürtiger Ukrainer. Bei Twitter beschrieb der unabhängige Militärbeobachter im Mai, wie die ukrainische Artillerie dank einer selbstentwickelten App blitzschnell und präzise zuschlage.
Der Name der Software: GIS Arta.
Telenko hatte schon zuvor mit Twitter-Analysen zum Ukraine-Krieg für Aufsehen und weltweite Reaktionen gesorgt. Etwa mit seinen Überlegungen zu den russischen Militär-Lastwagenreifen, die in desolatem Zustand waren. Und nun widmete er sich also GIS Arta in einem ellenlangen Thread und strich dabei die Rolle von Elon Musk hervor.
Sein Fazit: Die ukrainische Armee lehre im «ersten Starlink-Krieg» Russland das Fürchten. Das von den Amerikanern lancierte Satelliten-Breitband-Internet ermögliche «einen einzigartigen Kampfstil im 21. Jahrhundert».
Die logische Folge: Social-Media-User, Blogger und Journalisten griffen die sensationell klingenden Schilderungen Telenkos auf und verbreiteten die Geschichte weiter.
Das Problem: Die Berichte sprühten vor Begeisterung, entfernten sich aber von der Realität. Zudem fanden sich im Web wenig unabhängige Quellen und gesicherte Fakten zu GIS Arta, zumindest auf Englisch, so dass einige Berichterstatter die ukrainische App zur Wunderwaffe hochstilisierten.
Schliesslich sahen sich die GIS-Arta-Macher selber zu einer Stellungnahme auf ihrer Facebook-Seite veranlasst.
An dieser Stelle ist anzumerken, dass watson die Entwickler von GIS Arta am Vortag per E-Mail kontaktiert und ihnen einen umfangreichen Fragenkatalog geschickt hatte.
Die Antwort kam postwendend:
watson wartete in der Folge aber mit der Publikation eines Artikels, da trotz der ausführlichen Antworten des GIS-Arta-Teams zentrale Punkte offen blieben und die Verantwortlichen auf Rückfragen leider nicht mehr reagierten.
In der Zwischenzeit liegen neue und gesicherte Erkenntnisse vor, nämlich Einschätzungen renommierter Militärexperten, darunter der Artillerie-Chef der deutschen Armee.
Darum erachtet es der watson-Redaktor als vertretbar, nun die ganze Geschichte von GIS Arta zu erzählen.
Ausserdem ist es höchste Zeit, dass auch hierzulande möglichst viele Leute von der ukrainischen Innovationskraft erfahren. Denn diese spielt im ungleichen Kampf gegen die Invasoren eine wichtige, vielleicht entscheidende Rolle.
Ein digitales Feuerleitsystem, das Artillerie-Verbände der ukrainischen Armee einsetzen, um ausgemachte Ziele innert Minuten oder gar Sekunden zu beschiessen.
Wenn über eine Aufklärungs-Drohne oder eine Spezialeinheit ein potenzielles Ziel gesichtet wird, geben die Soldaten dessen Standort ins System ein und übermitteln sie über einen sicheren digitalen Kanal an den Kommando-Server.
GIS Arta zeigt anhand der genauen Koordinaten und mithilfe von Luftaufnahmen, ob es sich um ein legitimes Ziel handelt. Um Kollateralschäden zu vermeiden, darf es zum Beispiel nicht bei einer Schule oder einem Spital liegen.
Zudem zeigt die Software den Verantwortlichen auf der in Echtzeit aktualisierten Karte an, welche feuerbereiten Waffensysteme in Reichweite liegen und berechnet automatisch die für die präzise Bombardierung relevanten Daten.
Die von ukrainischen Freiwilligen entwickelte Software läuft als App auf herkömmlicher, frei käuflicher Hardware wie Tablets, Laptops oder Smartphones. Eine weitere Besonderheit ist die dezentrale Funktionsweise des Systems. Die Datenübertragung erfolgt verschlüsselt über diverse Kanäle, eine wichtige Rolle spielt das Satelliten-Breitband-Internet Starlink des US-Unternehmens SpaceX (von Elon Musk).
Einige fantastisch klingende Schilderungen in Telenkos Twitter-Thread liessen sich nicht direkt verifizieren, da die GIS-Arta-Entwickler mitten im Verteidigungskrieg gegen Russland aus nachvollziehbaren Gründen keine Detailfragen beantworten und keine Betriebsgeheimnisse preisgeben.
Doch zum Glück nahm sich der österreichische Militärexperte Markus Reisner des Themas an und veröffentlichte dazu eine seiner sehenswerten Video-Analysen. So liegt uns eine professionelle Einschätzung eines unabhängigen Fachmannes vor, eines Historikers und Militärforschers.
Das Video (oben) mit Oberst Reisner stammt von Ende Mai und lieferte eine wertvolle Einschätzung. So sagte der österreichische Militärexperte, der Erfolg der ukrainischen Artillerie lasse sich auf drei Kernelemente herunterbrechen:
Die Präzisionsschläge, dezentrale Kommunikation und der Umstand, rasch zuschlagen zu können, seien für die Einsatzführung der ukrainischen Artillerie wesentlich.
GIS Arta war unter anderem bei den spektakulären Artillerie-Schlägen Mitte Mai in der Ostukraine im Einsatz. Laut Schilderungen konnten ukrainische Einheiten dort auch dank frisch gelieferter amerikanischer M777-Haubitzen mehr als 70 russische Militärfahrzeuge und Panzer «zerschmettern», als diese den Fluss Siwerskyj Donez überqueren wollten.
Die GIS-Arta-Entwickler schrieben mir:
Ein Team von Freiwilligen in der Ukraine.
Initiiert wurde das Projekt 2014 von einer Gruppe von Unternehmern aus der Ukraine, die der Armee ihres Heimatlandes nach der russischen Annexion der Krim helfen wollten. Sie entwickelten «High-Tech-Systeme», die auch von den Verteidigern im Donbass eingesetzt werden konnten.
Die Entwicklungsarbeit bei GIS Arta wurde von ukrainischen IT-Spezialisten und Ingenieuren geleistet, darunter Fachleute für digitale Kartografie, die vor Jahren nach Grossbritannien gereist seien und mit britischen Unternehmen Kenntnisse über digitale Kartierung ausgetauscht hätten.
Gegenüber watson erklären die Entwickler:
Die allererste Version von GIS Arta wurde vor mehr als acht Jahren, Ende Mai 2014, einer ukrainischen Artillerieeinheit zur Verfügung gestellt, wie die Entwickler schreiben.
Durch private Initianten und Geldgeber.
Das ursprüngliche Budget betrug 50'000 Franken.
Das öffentliche Gesicht des GIS-Arta-Projekts ist der ukrainische Unternehmer Borys Kostenko, der sich seit vielen Jahren für sein Heimatland einsetzt und auch als militärischer Freiwilliger in der Ostukraine war. Er ist öfters auf Fotos zu sehen, die von GIS Arta bei Facebook gepostet werden. Und auch in YouTube-Videos nahm er öffentlich Stellung.
In einem Ende 2021 publizierten Interview erklärte er, dass es sich beim Team nicht um klassische Freiwillige handle.
Anzumerken ist, dass GIS Arta seit Mai 2015 mit der ukrainischen Hilfsorganisation «Come Back Alive» kooperiert.
Laut «Forbes» ist es der grösste private Fonds, der sich voll der Unterstützung der ukrainischen Armee widmet und seit seiner Gründung 2014 Material und Ausrüstung im Wert von weit über 110 Millionen Dollar beschafft hat.
Mit Spendengeldern kauft Come Back Alive die nötige Hardware, vorwiegend Laptops. Das Team von GIS Arta übernimmt dann die Installation der Spezialsoftware, die Wartung der Geräte und bietet einen 24-Stunden-Support.
Dazu die Entwickler:
Dazu die Entwickler:
Tatsächlich handelt es sich bei GIS Arta um eine Applikation, die vor allem auf Android-Tablets und Windows-Laptops läuft. Dabei handelt es sich um sogenannte «Rugged»-Mobilgeräte, also besonders robuste Modelle, die für den Outdoor-Einsatz konzipiert sind und Erschütterungen überstehen.
Das Zauberwort lautet «Distributed Computing», was auf Informatiker-Deutsch als – zugegeben etwas holprig klingend – «Verteiltes Rechnen» übersetzt werden kann.
Es geht darum, dass die Komponenten eines Softwaresystems auf mehrere Computer verteilt und durch ein stabiles und schnelles Netzwerk verbunden sind, was eine hohe Effizienz und Leistung gewährleistet. Zudem wird das System von den Usern dennoch als einheitlich wahrgenommen.
Die Entwickler betonen:
GIS steht für Geografisches Informations-System (dazu gleich mehr) und Arta für Artillerie, also den ursprünglichen Zweck des Systems: die präzise Bombardierung gegnerischer Stellungen mithilfe von Echtzeit-Geodaten.
Die Entwickler selbst sprachen schon vor Jahren vom «Uber der Artillerie», wie aus einem älteren Bericht hervorgeht.
Wie beim bekannten Fahrdienst-Vermittler erledigt scheinbar eine einfache App auf einem Mobilgerät die Arbeit. Dahinter verbirgt sich ein komplexes IT-System.
Bekanntlich weist der amerikanische Fahrdienst Kundinnen und Kunden, die von A nach B gebracht werden wollen, das am besten geeignete Fahrzeug zu. Der am schnellsten verfügbare Uber-Fahrer erhält in der Regel den Auftrag.
In ähnlicher Weise ist GIS Arta ein Tool, das den Standort der ukrainischen Truppen kennt, die im Kampfgebiet verteilt sind. Und es kann ihnen automatisch Angriffsbefehle zuweisen, um Ziele möglichst schnell und effizient zu beschiessen.
Offenbar wird der Begriff Artillerie-Uber nun auch im Nato-Hauptquartier verwendet, wie der stellvertretende Generalsekretär David van Weel kürzlich in einem Interview sagte. Dies, weil die Software «so intelligent und zeitgemäss» sei.
Der Satelliten-Kommunikationsdienst des US-Unternehmens SpaceX ist für die Ukraine zu einem besonders wertvollen, ja unverzichtbaren Werkzeug im Verteidigungskrieg gegen Russland geworden. Und dies gilt nicht nur für den Informationskrieg, also die Bekämpfung russischer Propaganda und Desinformation, sondern auch bezüglich GIS Arta.
Die Entwickler antworten zurückhaltend:
Als ich nachfrage, ob die neue Generation der SpaceX-Satelliten (Version 1.5 und 2.0), die über Laser miteinander kommuniziert, einen Wendepunkt darstelle, antworten sie:
Die Entwickler verneinen.
Schon vor ein paar Jahren hatte die amerikanische IT-Sicherheitsfirma Crowdstrike behauptet, dass russische Hacker die GIS-Arta-App manipuliert hätten. Dies stimme nicht.
Tatsächlich attackierten mutmasslich russische Hacker kurz vor der Invasion im Februar den Satelliten-Betreiber Viasat mit einer neuartigen Malware und versuchten, die von den Ukrainern genutzten Kommunikationsdienste lahmzulegen. Elon Musk sprang daraufhin mit SpaceX und Starlink ein.
Der österreichische Militärexperte Markus Reisner hob in seinem Video im Mai (siehe oben) die Wichtigkeit von Starlink für die militärische Kommunikation hervor:
Dies wird durch den Artillerie-Ausbildungschef des deutschen Bundesheeres, Oberst Dietmar Felber, bestätigt. Das Starlink-Netz sei in der Ukraine «dermassen verdichtet», dass es nahezu überall verfügbar sei, und es habe sich als «sehr störungsresistent» herausgestellt. Zu den ukrainischen Artillerie-Verbänden, die mit GIS Arta operieren, sagte er: «Sie sind online, mit dem Vorteil der grossen Reichweite.»
Interessant: Die ukrainische Armeeführung berichtete in ihrem Lagebericht vom 18. Juli von erneuten russischen Versuchen, die Satelliten-Verbindungen zu blockieren: «Der Feind setzte Mittel der funkelektronischen Kriegsführung ein, um Satellitenkommunikationskanäle zu unterdrücken.»
Die italienische Zeitung «La Repubblica» zitierte in einem Artikel zu GIS Arta einen ukrainischen Offizier:
Die Entwickler von GIS Arta stellen auf Anfrage von watson zunächst klar, dass der in diversen Berichten erwähnte Jaroslaw Scherstjuk nicht der Erfinder der App sei.
Abgesehen davon bestätigen die GIS-Arta-Entwickler, dass bei der Erfassung möglicher militärischer Ziele auch von Hinweisen aus der Bevölkerung profitiert wird.
Die Entwickler zeigten sich auf Anfrage bescheiden. Sie hätten bislang nicht die Gelegenheit erhalten, die Leistungsfähigkeit und Zielgenauigkeit ihres Systems mit der Standard-Artillerieführung des US-Militärs zu vergleichen. Aber:
Und dies ist dem GIS-Arta-Team offensichtlich gelungen.
An dieser Stelle soll der Ausbildungschef der deutschen Artillerie zu Wort kommen, Oberst Dietmar Felber. Er leitet die Artillerieschule der Bundeswehr in Idar-Oberstein und hat die Ausbildung ukrainischer Soldaten an der Panzerhaubitze (PzH) 2000 in Deutschland hautnah mitverfolgt. In einem Anfang Juli veröffentlichten Video zeigte er sich beeindruckt.
Mehrere PzH 2000 der Bundeswehr und der Niederlande sind mittlerweile in der Ostukraine im Einsatz. Sie könnten den Krieg zwar nicht entscheiden, sagte Oberst Dietmar Felber. «Aber da, wo sie regional eingesetzt sind, werden sie durch ihre Reichweite, durch ihre Kampfkraft, durch ihre taktischen Fähigkeiten und auch durch moderne Munition den Gefechtswert der ukrainischen Streitkräfte erhöhen.»
Die ukrainischen Artilleristen hätten die von den Deutschen gesetzten Ausbildungsziele erreicht. Oberst Felber sprach von einer «guten Trefferlage und hervorragenden Zeiten». Die Soldaten könnten die relativ komplexen Waffensysteme auch unter schwierigen Bedingungen im Gefecht einsetzen.
Anzumerken ist, dass die Ausbildung gemeinsam mit den Niederländern durchgeführt wurde. Während die niederländischen Panzerhaubitzen auf Englisch bedient würden, sei bei den deutschen Geschützen die Schriftbarriere die grösste Herausforderung gewesen für die Ukrainer. «Die Panzerhaubitze ist ein interaktives Geschütz, das spricht über Schrift mit den Geschützführern und erwartet Eingaben.»
Die Sprachbarriere (Kyrillisch) habe man mithilfe von Dolmetschern überwinden können, bis zu 40 Übersetzer seien vor Ort gewesen, so der deutsche Ausbildungschef. Man habe zudem die Beschriftungen an den Panzerhaubitzen überklebt, «aber am Ende des Tages mussten die ukrainischen Soldaten die ungewohnten Bezeichnungen auswendig lernen.»
Enorm wichtig.
Trotzdem würde ich nicht von einer «Wunderwaffe» im engeren Sinn sprechen: Zwar kann der schnelle und präzise Artillerie-Einsatz den Verlauf der Kampfhandlungen im jeweiligen Einsatzgebiet zugunsten der ukrainischen Einheiten beeinflussen, wie wir gesehen haben.
Ob es aber der ukrainischen Armee insgesamt gelingen wird, die russischen Aggressoren entscheidend zurückzudrängen und eine für Verhandlungen erforderliche Position der Stärke zu erlagen, hängt von weiteren Faktoren ab:
Der praktische Nutzen, respektive Wert von GIS Arta für die ukrainischen Streitkräfte, wird weiter zunehmen. Dies hat mit den westlichen Waffenlieferungen zu tun und vor allem mit der erfolgreichen Einbindung leistungsfähiger moderner Artilleriegeschütze wie der Panzerhaubitze 2000 oder der französischen CAESAR ins digitale Feuerleitsystem.
Ein grosses Problem bleibt: Die Vorräte an Artilleriegeschossen gehen zur Neige, wie der deutsche Artilleriechef Anfang Juli mahnte. Nachschub im Land bleibe aus, weil viele Munitionsfabriken mittlerweile zerstört seien.
Ein renommierter Sicherheitsanalyst hielt fest, dass die Ukraine diese Art von Kampf nur mit einer stetigen Versorgung mit westlichen Waffen und Munition aufrechterhalten könne.
Sonst bringt die beste Software nichts.
«Ja, das ist möglich», teilen die Entwickler mit. Es hänge aber «vom jeweiligen Land» ab. Im Gegensatz etwa zur umstrittenen, in Israel entwickelten und in die ganze Welt exportierten iPhone-Spionagesoftware Pegasus, soll GIS Arta nicht an demokratiefeindliche Staaten verkauft werden.