Nur drei Tage nach Beginn der russischen Invasion gründete eine Gruppe weiblicher Freiwilliger eine Einheit, die mit dem Smartphone den Angriffskrieg dokumentiert. Seither sorgt das «Dattalion» mit seiner Arbeit weltweit für Aufsehen.
Am 27. Februar, drei Tage nach Beginn der russischen Invasion, startete die Ukrainerin Mariya* mit Freunden eine Spezialeinheit, wie es sie noch nicht gegeben hat auf der Welt.
Die Freiwilligen-Truppe nennt sich «Dattalion», sie besteht vor allem aus Ukrainerinnen und Helfern im Ausland, und ihre wichtigsten Waffen sind das Smartphone und das Web.
So beschreibt sich die Einheit selbst:
Der Name ist eine Kombination aus den beiden englischen Wörtern Data («Daten») und Batallion («Bataillon»).
Eine Reporterin der französischen Frauenzeitschrift «Marie Claire» konnte Marya befragen. Sie verriet, dass die Initiantinnen zunächst ein Brainstorming durchgeführt hätten mit mehreren ausländischen Journalisten.
Seit dem Überfall auf ihr Land sammeln die freiwilligen Helferinnen und Helfer Augenzeugenvideos und Fotos, die direkt an sie übermittelt oder auf eine der bekannten Social-Media-Plattformen hochgeladen werden.
Dann sichten sie das Material, laden es auf die eigenen Social-Media-Kanäle und in die freie Datenbank (siehe unten) hoch und fügen Ortsnamen, Geodaten und Tags hinzu.
Ziel sei es, die Bombardierungen und Attacken auf die Zivilbevölkerung zu dokumentieren und die von den Invasoren begangenen Kriegsverbrechen anzuprangern.
Die Datenbank richtet sich an Reporter, Politiker, Prominente, Dokumentaristen – im Prinzip einfach an jede Person, die über eine Plattform, bzw. Reichweite verfügt.
Gegenüber der Frauen-Zeitschrift «Marie Claire» betonte die Initiantin, dass Dattalion die ukrainische Regierung unter Präsident Wolodymyr Zelensky unterstütze.
Dattalion nutzt die Social-Media-Kanäle auch, um positive Nachrichten im Informationskrieg zu verbreiten. Seien dies Schilderungen von mutigen Mitbürgerinnen, Fotos von geretteten Haustieren oder ungewöhnliche Hilfsaktionen, wie die eines polnischen Bäckers, der nach Bekanntwerden der russischen Gräuel in die Stadt Butscha nahe Kiew reiste, um Brot zu backen für ukrainische Soldaten und Zivilisten.
watson hat sich durch Ordnerstruktur und die nach Datum aufgelisteten Videos und Bilder geklickt, um sich einen eigenen Eindruck des Materials zu verschaffen. Warnung: Es finden sich darunter nicht nur Aufnahmen von zerstörten Gebäuden, wie Schulen und Wohnblocks, sondern auch Leichen und zivile Opfer mutmasslicher Kriegsverbrechen.
Die Dattalion-Verantwortlichen, die anonym bleiben möchten, nennen auf ihrer Website eindrückliche Zahlen*.
* Stand: 21. April 2022, Quelle: dattalion.com
Die Gründerinnen treten nur unter Pseudonym auf und halten vor der Kamera ihr Gesicht bedeckt, bzw. wollen unerkannt bleiben, weil ihnen Vergeltungsmassnahmen drohen.
Die Gruppe ist seit der Gründung auf mehr als 120 Freiwillige angewachsen, sie besteht hauptsächlich aus Frauen und überwiegend aus Ukrainerinnen. Darunter soll es zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft haben. Aber auch Künstlerinnen und Sportlerinnen gehörten dazu.
Ungefähr die Hälfte der Dattalion-Helferinnen sei in der Ukraine und die andere Hälfte ausserhalb des Landes. Zudem habe man ausländische Freiwillige auf der ganzen Welt.
Im folgenden bei Twitter veröffentlichten Video ist eine ukrainische IT-Unternehmerin zu hören, die sich Martina nennt. Sie erzählt, dass sie nicht mit herkömmlichen Waffen umzugehen wisse, darum habe sie sich entschieden, so zu helfen.
Cataloging evidence: When Russia invaded Ukraine, a team of female professionals began documenting the potential war crimes committed by Russian forces. Rik Glauert spoke to one of @dattalion's founding members – an IT businesswoman who has asked to keep her identity hidden. pic.twitter.com/vpXFdMvsvh
— TaiwanPlus (@taiwanplusnews) April 18, 2022
Viele seien Ehefrauen und Mütter, die, nachdem sie ihre Kinder vor allem im Westen des Landes in Sicherheit gebracht hatten, in die Kriegsgebiete zurückkehrten. Dort versuchen sie, die Gräueltaten mit dem Handy zu filmen.
Gemäss Einschätzung von unabhängigen Fachleuten, aber auch den Dattalion-Verantwortlichen selbst, gibt es einen grossen Vorbehalt in Bezug auf das veröffentlichte Material: Die Freiwilligen, die Videos und Fotos bereitstellen, seien keine ausgebildeten Journalisten, und viele Inhalte würden anonym eingereicht.
Zwar versichern die freiwilligen Helferinnen und Helfer, die Authentizität von Fotos und Videos werde basierend auf Zeit- und Ortsangaben überprüft. Genauere Angaben werden dazu allerdings nicht gemacht. Bei Google Drive wird das Material in Ordnern nach den Kriterien «Trusted» (Vertrauenswürdig) und «Not Verfied» (Nicht überprüft) abgelegt.
Das ist fraglich.
Bekanntlich herrscht in Russland eine rigorose Zensur. Das Putin-Regime versucht, das Land abzuschotten und die Bevölkerung mittels Propaganda zu beeinflussen.
Die Dattalion-Verantwortlichen sagen, sie hätten ihre Datenbank allen unabhängigen russischen Medien zur Verfügung gestellt, und mittlerweile sei sie ja frei zugänglich.
Und die Dattalion-Gründerin Marya meint:
* Marya sagte gegenüber «Marie Claire», es gehe ihr nicht um die physische Gefährdung, wenn sie anonym bleiben wolle, denn nun halte sie sich in der EU auf und fühle sich sicher. Es gehe ihr vielmehr «um Cyber-Bedrohungen». Denn durch einen Angriff auf sie oder irgendein anderes Mitglied des Dattalion-Teams könnten Hacker an die Datenbank gelangen und sie zerstören.
Die Bewunderung für die mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer steigt immer mehr und die Abscheu vor der russischen Führung mit ihrer unmenschlichen Armee ebenso.
Dafür, dass angeblich nur ausgebildete Journalisten wahrheitsgemäss berichten könnten, habe ich allerdings wenig Verständnis!
Vielmehr glaube ich, dass gerade die freiwilligen Helferinnen, die verständlicherweise anonym bleiben wollen, über die Wahrheit ungeschönter berichten!
Ein anderes, russisches, „Dattalion“ sollte aber im Auge behalten werden:
Seit Kriegsbeginn hätten an die 30‘000 junge Informatiker Russland verlassen und seien nach Westen „geflüchtet“, hiess es kürzlich.
Das sei ein Beweis, dass die junge russische Intelligenzija kritisch gegenüber dem Regime sei.
Warum ausgerechnet so viele Informatiker?
Sind das effektiv alles Putingegner?
Oder werden nun tausende regimetreue IT-Spezialisten in den Westen geschleust?
Würde ich aktuell ausgerechnet einen Russischen IT-Spezialisten in meiner Firma anstellen wollen?