Marburger Rede
Die Marburger Rede war eine Rede von Vizekanzler Franz von Papen an der Universität Marburg am 17. Juni 1934. Diese Rede gilt als die letzte, die im nationalsozialistischen Deutschen Reich auf hoher Ebene und öffentlich gegen den umfassenden Machtanspruch des Nationalsozialismus gehalten wurde.
Inhalt und Verbreitung
Von Reichspräsident Paul von Hindenburg ermutigt, sprach sich von Papen über die Exzesse der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler aus, denen er selbst erst 17 Monate zuvor zur Macht verholfen hatte. Die Marburger Rede forderte ein Ende von einschüchterndem Terror, beklagte das Verschwinden einer freien Presse und beinhaltete eine Warnung vor einer „Revolution in Permanenz“, einem „ewigen Aufstand von unten“ und dem „Gerede von der zweiten Welle, welche die Revolution vollenden“ werde – eine Warnung, die sich deutlich auf die Sturmabteilung der NSDAP (SA) bezog. Papen hielt die Rede in der Aula der Alten Universität für die Jahreshauptversammlung des Marburger Universitätsbundes; er wurde am 30. April 1934 dazu eingeladen, nachdem der Wunschredner abgesagt hatte.[1]
Konrad Heiden fasste 1936 Papens Äußerungen zusammen:[2]
- „Die Lage sei ernst, sagt er, die Gesetze hätten Mängel, das Volk spüre die Wirtschaftsnot, Gewalt und Unrecht würden geübt, man höre auf mit der falschen Schönfärberei! Papen geißelte die Ablenkung der Unzufriedenheit auf ‚hilflose Volksteile‘. Auch dürfe man das Volk nicht unausgesetzt bevormunden. Das alles ging gegen Goebbels. Doktrinäre Fanatiker müßten verstummen – dies ein Hieb gegen Rosenberg. Das Schärfste aber war: Falscher Personenkult sei unpreußisch. Große Männer würden nicht durch Propaganda gemacht. Byzantinismus täusche nicht darüber hinweg. Und nun ganz schneidend: wer von Preußentum spreche, solle zunächst an stillen und unpersönlichen Dienst, aber erst zuletzt, am besten gar nicht, an Lohn und Anerkennung denken. Ein Peitschenhieb gegen Göring. Fast nach jedem Satz Beifallssalven. Die Rede war Deutschland aus dem Herzen gesprochen. […] Die Rede stellte die Männer um Hitler und diesen selbst vor dem ganzen Volke bloß.“
Alan Bullock[3] hielt 1952 fest, Goebbels habe die Frankfurter Zeitung, die die Rede abgedruckt habe, beschlagnahmen lassen, ebenso eine Broschüre mit dem Redetext. Da aber einige Exemplare aus Deutschland hinausgeschmuggelt wurden, sei die Rede im Ausland publiziert worden und habe dort großes Aufsehen erregt. Am 20. Juni habe Papen Hitler aufgesucht und verlangt, das Veröffentlichungsverbot für die Rede aufzuheben. Weiters habe er mit seinem Rücktritt gedroht und mit dem der anderen konservativen Regierungsmitglieder. Als sich Papen am 24. Juni in Hamburg in der Öffentlichkeit gezeigt habe, sei er mit lautem Jubel begrüßt worden.
Golo Mann urteilte 1958: „Die Rede, man muss es zu Ehren des windigen Mannes sagen, war gut. Aber mehr als Reden oder heimliche Gespräche hatten die verschiedenen konservativen Kreise […] nicht vorbereitet.“[4]
Die Rede war hauptsächlich von dem Münchener Rechtsanwalt und Schriftsteller Edgar Julius Jung, der seit 1933 als Papens Ghostwriter fungierte, verfasst worden. Einfluss auf den Text hatten zudem Papens Pressechef Herbert von Bose, der auch die illegale Verbreitung der Rede in 5000 heimlich in der Germania Druckerei gedruckten Exemplaren organisierte, und Papens Adjutant Fritz Günther von Tschirschky. Die Behauptung, Erich Klausener habe an dem Text mitgewirkt, ist mit großer Sicherheit unzutreffend, geht wahrscheinlich auf Publikationen deutscher Exilantenkreise zurück und hat seither als Wanderfehler ein hartnäckiges Nachleben gefristet.
Hitler, der zu dieser Zeit auf einer Gauleitertagung im thüringischen Gera weilte, reagierte wütend auf die Rede, Papen zeigte ihm daraufhin das Glückwunschtelegramm Hindenburgs. Propagandaminister Joseph Goebbels unterband die Veröffentlichung der Rede und antwortete kurz darauf öffentlich: „Lächerliche Knirpse! Kümmerlinge! Hergelaufene Subjekte! Das Volk hat die Zeiten, da diese Herren in den Klubsesseln regierten, noch nicht vergessen.“[2] Im Inland konnte die Rede nur in der Abendausgabe der „Frankfurter Zeitung“ vom 17. Juni abgedruckt werden. Durch die von Bose lancierten Privatdrucke kursierten jedoch einige tausend Exemplare in In- und Ausland, die unter der Hand weiterverbreitet und kopiert wurden.
Während der von Hitler inszenierten parteiinternen Säuberungsaktion (Röhm-Putsch) zwei Wochen später blieb Papen auf persönlichen Rat Görings in seiner Wohnung.[5] Sein Büro wurde verwüstet, Jung, Bose, Klausener und viele andere wurden ermordet. Konrad Heiden dazu: „Sie alle erleiden einen schrecklichen Tod. Ihr Führer Papen lebt – und dient Hitler weiter“.[6] Er trat als Vizekanzler zurück, schied am 7. August 1934 aus der Reichsregierung aus und wurde von Hitler als Gesandter nach Österreich geschickt.
Nach 1945 behauptete von Papen wiederholt, er sei der eigentliche Verfasser der Rede gewesen und Jung habe nur Material für sie gesammelt und geringfügige stilistische Verbesserungen beigetragen. Die späteren Zeugnisse Tschirschkys sowie Heinrich Brünings und der Jung-Freunde Edmund Forschbach und Karl Martin Graß stimmten hingegen darin überein, dass Jung der Verfasser war. Tschirschky behauptete sogar, Papen habe die Rede erst auf der Zugfahrt nach Marburg erstmals zu Gesicht bekommen. Änderungen des Jungschen Textes habe er, Tschirschky, mit dem Verweis, dass Kopien der Rede bereits ins Ausland verschickt worden seien, verhindert.
Drucke
- Rede des Vizekanzlers von Papen vor dem Universitätsbund, Marburg, am 17. Juni 1934, Germania, Berlin 1934, 16 Seiten oktav (online auf der Homepage des landesgeschichtlichen Infosystems Hessens (LAGIS) (ursprüngliche Version))
- Rede des Vizekanzlers von Papen vor dem Universitätsbund, Marburg, am 17. Juni 1934, in: Edmund Forschbach: Edgar J. Jung. Ein konservativer Revolutionär 30. Juni 1934, 1984, S. 154ff.. (Vollständiger Nachdruck der Rede im Anhang)
Literatur
- Reiner Küpper: Der "Ghostwriter" des "Herrenreiters". Der Diskurs Edgar Julius Jungs und die für den Vizekanzler Papen verfasste Marburger Rede vom 17. Juni 1934: ein Beitrag zur Analyse der Sprache im frühen Nationalsozialismus. Essen 2010.
- Rainer Roth: „Die Marburger Rede als Initialzündung zum geplanten «Staatsstreich»“, in: Ders.: "Der Amtssitz der Opposition"?: Politik und Staatsumbaupläne im Büro des Stellvertreters des Reichskanzlers in den Jahren 1933–1934. Böhlau, Köln 2016, S. 451–472. ISBN 978-3-412-50555-4.
Weblinks
- „Marburger Rede des Vizekanzlers von Papen, 17. Juni 1934“. Zeitgeschichte in Hessen. In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).
- Wortlaut der Rede beim Bundesarchiv
Einzelnachweise
- ↑ Stephan M. Buchholz: Wie Papen in Marburg baden ging, in: Marburger UniJournal, Nr. 15, April 2003, S. 61 ff., gekürzte Fassung eines am 17. Jänner 2003 gehaltenen Vortrages; der Titel bezieht sich darauf, dass Papen nach der Veranstaltung mit seinen Begleitern im Universitätsschwimmbad badete.
- ↑ a b Konrad Heiden: Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Eine Biographie, Europa-Verlag, Zürich 1936, S. 423.
- ↑ Alan Bullock: Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Band 1, Der Weg zur Macht, Original: Hitler. A Study in Tyrrany, 1952, deutsche Ausgabe: Droste Verlag, Düsseldorf 1953, zitiert nach: Fischer Bücherei, Bücher des Wissens, Band 583 / 584, Frankfurt am Main 1964, S. 304.
- ↑ Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1958, 18. Auflage 1985, ISBN 3-10-347901-8, S. 834.
- ↑ Konrad Heiden: Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Eine Biographie, Europa-Verlag, Zürich 1936, S. 447.
- ↑ Konrad Heiden: Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Eine Biographie, Europa-Verlag, Zürich 1936, S. 454.