Kathedersozialismus

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Der Ausdruck Kathedersozialismus war eine meist polemisch-abwertend gebrauchte Bezeichnung für die Ideen einer Gruppe von Wissenschaftlern der Nationalökonomie, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus strategischer Motivation heraus für eine staatliche Sozialpolitik einsetzten, um der revolutionären Sozialdemokratie entgegenzuwirken. Heute wird der Begriff in der Geschichtswissenschaft auch wertneutral gebraucht.

Mit dem Ausdruck Kathedersozialismus hat der Rechtswissenschaftler und liberale Politiker Heinrich Bernhard Oppenheim zuerst in einem Artikel der Nationalzeitung vom 7. Dezember 1871[1], dann in seiner 1872 erschienenen Schrift Kathedersozialismus die Professoren der Nationalökonomie polemisch charakterisiert, die sich seinerzeit vehement für eine staatliche Sozialpolitik einsetzten.[2]Katheder“ war damals gängige Bezeichnung für das Pult eines Schul- oder Hochschullehrers. Der Begriff spielt also darauf an, dass die damaligen Vertreter des Kathedersozialismus aus dem akademischen Milieu stammten.

Der so gekennzeichneten Gruppe von Hochschullehrern wurden Nationalökonomen zugeordnet wie Gustav von Schmoller, Hans Delbrück, Lujo Brentano, Adolf Held, Werner Sombart und Adolph Wagner.

Vertreter dieser Richtung wie Gustav von Schönberg und Erwin Nasse gründeten 1901 die Gesellschaft für soziale Reform. Sie unterstützte Maßnahmen zur Einführung von Sozialversicherungen. Gleichzeitig bemühte sie sich um Einfluss auf die Anhänger des Reformismus, die innerhalb der SPD für eine Umgestaltung des Staates durch Reformen statt durch Revolution eintraten. Nach der Analyse des deutschen Parteiensystems durch M. Rainer Lepsius gab es jedoch eine „Moralgrenze“ zwischen den bürgerlich-konfessionellen Gesinnungsgemeinschaften und der Arbeiterbewegung, die die Isolierung der Arbeiterbewegung aus dem System bewirkte.[3]

Schumpeter stellte fest, dass unter der politischen Hinwendung der deutschen Nationalökonomie auf die soziale Frage bzw. aktuelle Themen der Sozial- und Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik die Qualität der akademischen Lehre gelitten habe, was schließlich innerhalb des Vereins für Socialpolitik zum Werturteilsstreit geführt habe. Nach Schumpeters Auffassung ging es dabei weniger um ein erkenntnistheoretisches Problem als darum, ob ein politisches Glaubensbekenntnis fachökonomische Qualifikation ersetzen dürfe. Doch hat der Verein eine beeindruckende Reihe von 188 Bänden zu wirtschaftlichen Einzelfragen produziert, teilweise durch Arbeitsgruppen oder unter Hinzuziehung von Privatgelehrten.[4]

Die damals noch sozialdemokratische Politikerin Rosa Luxemburg vermerkte in der 2. Auflage ihrer Schrift „Sozialreform oder Revolution?“,[5] dass dieselben „Kathedersozialisten“ wenige Jahre später als Reichstagsabgeordnete für die Verlängerung des Sozialistengesetzes gestimmt hätten. Für Sozialreformen sei von den Professoren, die übrigens auch für Schutzzölle, Militarismus usw. eintraten, „nicht ein Jota geleistet worden“; der Verein befasse sich seither auch mit Krisen, Kartellen und dergleichen.[6]

Wertung und Wirkung des Begriffs Kathedersozialismus

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Joseph A. Schumpeter nannte diese Bezeichnung „eine unübertreffliche Ungeschicktheit“,[7] Rosa Luxemburg schrieb: „Dieselben von dem Liberalen Oppenheim ironisch als ‚Kathedersozialisten‘ bezeichneten Herren“.[8] Dennoch, oder gerade deswegen, hat sich diese Bezeichnung als politisches Schlagwort festgesetzt.

  • Heinrich Bernhard Oppenheim: Kathedersozialismus. Oppenheim, Berlin 1872 (2. Aufl. 1873)
  • Maurice Block: Die Quintessenz des Kathedersozialismus. F. A. Herbig, Berlin 1878.
  • Adolf Fleischmann: Die Sonneberger Spielwaaren-Hausindustrie und ihr Handel. Zur Abwehr gegen die fahrenden Schüler des Katheder-Sozialismus in der National-Oekonomie. Simion, Berlin 1883
  • Gegen den Kathedersozialismus. Hobbing, Berlin Heft 1, 1909 bis Heft 4, 1911
  • Hans Gehrling: Die sozialpolitischen Anschauungen der deutschen Freihandelsschule, Fischer, Jena 1909 (= Die wissenschaftliche Grundlegung der Sozialpolitik im Prinzipienstreit zwischen Manchestertum und Kathedersozialismus, Phil. Habil. Halle 27. Mai 1909)
  • Gustav Ruhland: Volkswirtschaftliche Grundbegriffe. Dem internationalen Verbande zum Studium der Verhältnisse des Mittelstandes vorgelegt. Eine Orientierungstafel über Freihandel, Sozialismus, Kathedersozialismus und organische Mittelstandsauffassung. Kairos, Berlin 1910
  • Gegen den Katheder-Sozialismus! Bismarck als Leitstern sozialer Erkenntnis. Berlin 1911
  • Paul Kampffmeyer: Vom Kathedersozialismus zum Kathederkapitalismus. Eine Antwort auf Professor L. Bernhards ‚Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik‘. Gerisch & Cie, Ludwigshafen 1913
  • Hans Gehrig: Die Begründung des Prinzips der Sozialreform. Eine literar-historische Untersuchung über Manchestertum und Kathedersozialismus. Fischer, Jena 1914
  • Lujo Brentano: Ist das 'System Brentano' zusammengebrochen? Über Kathedersozialismus und alten und neuen Merkantilismus. Reiss, Berlin 1918
  • Fritz Völkerling: Der deutsche Kathedersozialismus. Verlag die Wirtschaft, Berlin 1959.
  • Werner Krause: Werner Sombarts Weg vom Kathedersozialismus zum Faschismus. Rütten & Loening, Berlin 1962
  • Hans-Jürgen Scheler: Kathedersozialismus und wirtschaftliche Macht. Freie Universität Berlin. 1973 (Berlin, FU, Fachbereich Wirtschaftswiss., Diss. v. 15. Juni 1972).
  • Jürgen Backhaus (Hrsg.): Essays on Social Security and Taxation. Gustav von Schmoller and Adolph Wagner Reconsidered. metropolis : Marburg 1997. ISBN 3-89518-139-0.

Einzelnachweise

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  1. Abgedruckt in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur Kaiserlichen Sozialbotschaft (1867–1881), 8. Band: Grundfragen der Sozialpolitik in der öffentlichen Diskussion: Kirchen, Parteien, Vereine und Verbände, bearbeitet von Ralf Stremmel, Florian Tennstedt und Gisela Fleckenstein, Darmstadt 2006, Nr. 31
  2. Otto Ladendorf: Kathedersozialisten. Historisches Schlagwörterbuch. Schlagworte. (1906)
  3. M. Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft. In: Demokratie in Deutschland. Vandenhoeck & Ruprecht : Göttingen 1993. ISBN 3-525-35763-X. S. 44.
  4. Joseph A. Schumpeter, (Elizabeth B. Schumpeter, Hg.): Geschichte der ökonomischen Analyse. Zweiter Teilband. Vandenhoeck Ruprecht Göttingen 1965. S. 980ff.
  5. Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution? 2., durchgesehene und ergänzte Aufl., Verlag der Leipziger Buchdruckerei, Leipzig 1908.
  6. Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Bd. 1 1893 bis 1905. Erster Halbband. Dietz Verlag, Berlin 1970, S. 403 Fußnote 6.
  7. Joseph A. Schumpeter, (Elizabeth B. Schumpeter, Hg.): Geschichte der ökonomischen Analyse. Zweiter Teilband. Vandenhoeck Ruprecht Göttingen 1965. S. 977, Anm. des Herausgebers.
  8. Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution? In: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Bd. 1 1893 bis 1905. Erster Halbband. Dietz Verlag, Berlin 1970, S. 403 Fußnote 6.