Zum Inhalt springen

ADB:Gneist, Rudolf von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Gneist, Rudolf von“ von Julius Hatschek in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 403–413, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gneist,_Rudolf_von&oldid=- (Version vom 12. November 2024, 09:35 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Gnauth, Adolf
Nächster>>>
Gobat, Samuel
Band 49 (1904), S. 403–413 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Rudolf von Gneist in der Wikipedia
Rudolf von Gneist in Wikidata
GND-Nummer 118717790
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|49|403|413|Gneist, Rudolf von|Julius Hatschek|ADB:Gneist, Rudolf von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118717790}}    

Gneist: Heinrich Rudolf Hermann Friedrich von G. wurde am 13. August 1816 zu Berlin geboren. Als Sprosse einer Familie, die ihren Mitgliedern Militärdienst und Beamtenberuf zuwies, ward er in der Lebensanschauung altpreußischen Beamtenthums erzogen. Sie ließ ihn in reiferen Jahren in der Politik nie weiter gehen, als ein gemäßigter Liberalismus auf sein Parteiprogramm schreibt, und lehrte ihn schon von früher Jugend an – wie er selbst sagt – „das Landleben kennen, würdigen und in politischen Combinationen berücksichtigen“.

Sein Vater Ernst Andreas, Justizcommissar beim Berliner Kammergericht, wurde bald nach der Geburt seines Sohnes nach Eisleben und 1834 nach Aschersleben versetzt. In Eisleben besuchte G. die Elementarschule und später, nachdem er mehrere Jahre im Hause des Bruders seiner Mutter, Bernhardi, eines Landpfarrers in Pommern verbracht hatte, das Gymnasium. Als Jüngling von 17 Jahren bezog er 1833 die Universität Berlin, um Jura zu studiren. Hier saß er zu Savigny’s Füßen und lauschte Worten, die ihn für die Anwendung historischer Methode auf das Staatsrecht in späteren Jahren, besonders schulten. 1836 wurde er Auscultator, 1841 Assessor, hierauf Hülfsrichter beim Berliner Kammergericht, später Hülfsrichter beim Obertribunal. Sein Eintritt in die Praxis that jedoch keineswegs den theoretischen Studien Abbruch, da er 1838 doctor juris, 1839 Privatdocent der Rechte und 1844 etatsmäßiger, außerordentlicher Professor an der Berliner Universität wurde.

Das Leben des jungen Professors verlief in unausgesetzter Arbeit, die zwischen Praxis und Theorie getheilt war, wobei die Sommerferien acht Jahre hindurch zu Studienreisen nach Italien, Frankreich, insbesondere England verwendet wurden. Im J. 1848 ließ er sich nur zur Stadtverordnetenversammlung wählen, und kam hier oft dazu, selbst bessernd Hand an die damaligen politischen Zustände zu legen und öffentlich Kritik an ihnen zu üben. Während des Zeughaussturmes vom 14. Juni finden wir ihn in [404] der Bürgerwehr um die Erhaltung der öffentlichen Ordnung bemüht. In den Octobertagen veranlaßt er die Stadtverordneten zum Protest gegen die Verlegung der Nationalversammlung nach Brandenburg, im November zu einer Petition, in welcher der in Berlin unter v. Unruh tagende Rumpf der Nationalversammlung vor der Steuerverweigerung gewarnt wird. Trotzdem diese Stimme unbeachtet verhallt, vertheidigt er vor dem Prinzen von Preußen, nach den Motiven der Steuerverweigerung gefragt, dieselbe unter Berufung auf sein Amt, das Recht zu lehren und zu sprechen, damit, daß die Verlegung der Nationalversammlung nach Brandenburg „ein einseitiges Abweichen vom ein Mal eingenommenen Vertragsstandpunkte bedeute“.

Vom Richtercolleg des Obertribunals, dem er angehörte, wegen dieser Aeußerung vor dem Prinzen von Preußen in den Tagesblättern desavouirt, nimmt er 1850 seine Entlassung. Nunmehr widmet er sich mit vollem Eifer der Stadtverordnetenthätigkeit.

I. Lehrjahre (1848–1858).

Es war die Zeit der Verfassungsreform in Preußen, als G. auf den politischen Plan trat. Seit der Verfassungsurkunde von 1850 drehte sich der politische Kampf hauptsächlich um vier Punkte. Da war vor allem ein Parlamentarismus, repräsentirt durch zwei Kammern, von denen die eine ausschließlich auf einem Vermögenscensus ruhte, sodann eine Selbstverwaltung, die man sich aus kleinen Dorf-, Kreis-, Bezirks- und Provinzial-Parlamenten zusammengesetzt dachte. Diese kleinen Unterparlamente waren ebenfalls auf einen Wahlcensus gebaut, der nach einer Einkommensteuer abgestuft jeden Zusammenhang des Grundbesitzes mit dem Gemeindeleben ignorirte und den bisher bevorrechtigten Grundbesitz zum Anschlusse an die Gemeinde durch Incommunalisirung der Gutsbezirke zwang. Eine Consequenz dieser Herabdrückung des Großgrundbesitzes und Landadels auf die Stufe einfacher Steuererträger in der Gemeinde war, daß die Verfassung und die mit ihr in Verbindung stehende Gesetzgebung, dem Landadel außer der Patrimonialgerichtsbarkeit, die Ortspolizei und die Steuerexemtionen, insbesondere die Exemtionen von der Grundsteuer nahm.

Dagegen setzte nun seit 1851 die Reaction ein, welche dem Agrarbesitz und Landadel wieder zu seiner alten Stellung verhelfen sollte. Sie vollzog sich ohne Verfassungsbruch. Der Grund hierfür lag nach Gneist’s Meinung darin, daß man zuerst mit dem Dachgiebel begonnen und mit dem Fundamente geendigt hatte, statt den umgekehrten Weg zu gehen. Daß dieser zu gehen wäre, lehrten ihn seine englischen Studien. Sie waren durch die Frage nach der zweckmäßigsten Einrichtung der Geschworenengerichte angeregt. Als er näher zusah, fand er die überraschende Thatsache, daß in England dieselben nicht als Bollwerk der politischen Freiheit angesehen wurden, wie auf dem Continente, sondern lediglich als Beweismittel, das ganz friedlich und wenig aufregend wirkte. Als Grund hierfür erkannte G. die Thatsache, daß hier die Geschworenenpflicht als Communaldienstpflicht durch Communalehrenämter (Friedensrichter und Sheriff) in Thätigkeit gesetzt würde, welche alle vom zeitlichen Partei- und Minister-Regime unabhängig wären. Diese Erkenntniß verallgemeinerte er nun und fand darin ein Heilmittel für die trostlose Parteiwirthschaft in Preußen. Nicht von oben müsse man den Staat bauen, sondern von unten, nicht zuerst den Parlamentarismus um jeden Preis durchführen, sondern das Selfgovernment. Wenn man in der Gemeindeverwaltung dem alten bevorrechtigten Großgrundbesitz eine ähnliche Position gebe, wie sie in England die alte Gentry des 18. Jahrhunderts hatte, so declassire man ihn nicht. Man gäbe ihm nur [405] die Ortspolizei wieder, aber nicht als ständisches Recht, sondern als Ehrenamt. Man regulire die Gemeindesteuern als Grundsteuern in der Gemeinde und gebe so jedem Gemeindeangehörigen nur so viel Rechte als er Pflichten in der Gemeinde, Ehrenamt oder Steuerpflichten trüge; dann könne man dem Landadel getrost seine Steuerprivilegien nehmen. Man verbinde das Staatsamt mit der Communalverwaltung. Denn Selbstverwaltung sei Staatsverwaltung durch Ehrenämter und Steuerpflichten in der Gemeinde. Nicht Rechte, insbesondere Wahlrechte seien hier zu vergeben, sondern schwere, ernste Communalpflichten. Wenn man so jeden Staatsbürger an die Erfüllung derselben gewöhnt habe, dann mögen die Communen ihre Vertreter zum Unterhause senden, in welchem keine Interessenmajorität, kein Parteiregime mehr zu finden sei, sondern freie, unabhängige Männer, die keinem ministeriellen Drucke nachzugehen hätten.

So wird für G. das Selfgovernment zum Unterbau des Parlamentarismus, der Geschworenengerichte, der Steuerverfassung, in der die Communalbesteuerung das wichtigste Glied bleibt, kurz zum Mittelpunkt des politischen Lebens in Preußen.

II. Die Kampfjahre (1858–1868).

Aus seinem bisherigen Wirkungskreise, der Stadtverordnetenversammlung, wurde G. im J. 1858 in den politischen Kampf gezogen. Die „neue Aera“ war angebrochen und vor ihren Lichtstrahlen verzog sich die Reaction. Die Regentschaft brachte neue Minister von liberalem Ruf auf den Plan. Im November fanden die parlamentarischen Neuwahlen statt und mit den neuen Volksvertretern zog auch G. für den Wahlbezirk Rathenow-Stettin im Abgeordnetenhause ein. Er schloß sich der liberalen Partei an, die damals von Georg v. Vincke geleitet, später 1862 wegen der plan- und ziellosen Führerschaft zerfiel. Von diesem Zeitpunkt an gehörte G. dem linken Centrum an, das sich unter Leitung von Bockum-Dolffs von der Vincke’schen Partei abgetrennt hatte und dann zwischen der Rechten und der Fortschrittspartei eine vermittelnde Stellung mit starker Hinneigung an die letztere einnahm.

Schutz vor Polizeiwillkür war das Postulat der Liberalen. Ueber die Wege hierzu waren die Ansichten getheilt. Die einen wollten nur die bisherigen Beschränkungen der civil- und strafrechtlichen Beamtenverantwortlichkeit aufgehoben wissen. Eine andere Meinung wollte den Staat überall haftbar machen, wo Polizeiwillkür vorlag; eine dritte Polizeistrafverfügungen unter allen Umständen vom ordentlichen Richter überprüfen lassen. Das Resultat aller dieser Anläufe war das Gesetz vom Jahre 1861 über die Erweiterung des Rechtswegs. G. war der Referent dieses Gesetzes. Schon damals erkannte er an, daß die ordentlichen Gerichte allein zum Schutze der individuellen Rechtssphäre gegenüber staatlichen Hoheitsrechten nicht berufen sein könnten. Die Gesetzgebung müsse positive Bestimmung darüber treffen, wann Gerichte, wann Verwaltungsbehörden entscheiden sollten. Damit kam er auf sein zweites Lieblingsprincip, welches dem Ruf nach Schutz vor Polizeiwillkür aus „abstracten Principien“ stets die Durchbildung und detaillirte Feststellung der Verwaltungsrechtsnormen entgegenstellte: das Princip des Rechtsstaats.

Gerade das Fehlen durchgebildeter Verwaltungsrechtsnormen in jedem einzelnen Verwaltungszweige bewirkte damals jene polizeiliche Willkür und grenzenlose Abhängigkeit der Beamten vom Ministerium und dessen politischen Freunden. Die Verfassungsurkunde hatte eine ganze Reihe von Grundrechten gewährleistet. Aber diese „Verfassungsversprechen“ wurden durch keine organische Gesetzgebung erfüllt. Dazu sollte es auch vorläufig noch nicht kommen. Ein [406] Ereigniß von weittragender Bedeutung trat dazwischen: der Verfassungsconflict von 1862–1866.

G. glaubte, der Regierung den Weg zur Umkehr dadurch zu bieten, daß er im damaligen Conflict nur eine Frage der gesetzlichen Heeresorganisation, nicht eine Budgetfrage erblicken wollte. Doch stand er zur ganzen Opposition, als es galt, die Rechte der Volksvertretung zu wahren. – Damals sprach G. in der Sitzung vom 6. October 1862 die Worte: „Unsere Verfassungsartikel sind nicht ein Spielwerk mit Worten, an das die Sophistik und die Macht beliebig herantrete. Nein, in uns lebt nicht bloß die Ueberzeugung, daß diese rechtliche Grundlage die eigentliche entscheidende ist, sondern wir Deutsche haben auch die Widerstandskraft im Großen und die Kraft des Duldens im Kleinen, um die Frivolität wie die Gewalt, welche an unser Verfassungsleben herankommt, zu überwinden“. In ebenso energischer Weise nahm er gegen die Preßordonnanzen von 1863 Stellung.

Wenn wir Gneist’s Wirken in dieser Periode übersehen, so hat es im Gegensatz zur früheren den Charakter des Kampfes um die Aufrechterhaltung von Recht und Gesetz. Und wie in der Zeit seiner Lehrjahre die Reaction von 1851–1858 ihm zur Lehrerin wurde, weil sie ihm das Thatsachenmaterial für seine Formel der Selbstverwaltung bot, so jetzt die Conflictszeit für sein Staatsideal „den Rechtsstaat“. Dies sei der Staat, in welchem die Verwaltung nach den Gesetzen handle und die Grenzen von Gesetz und ministerieller Verordnung streng gewahrt würden. Sie dürften nicht, wie es die constitutionelle Doctrin wollte, nach allgemeinen Formeln, sondern müßten für jeden Verwaltungszweig besonders gezogen werden. So würde die Durchbildung des Verwaltungsrechts durch Gesetze erreicht. Drei Arten von Controlle seien zu diesem Zwecke im Rechtsstaat nothwendig. Vor allem die administrative in Gestalt eines Staatsraths, der der inneren Verwaltung die Directive gebe und eine straffe Aufsichtsgewalt über untergeordnete Staats- und Communalbehörden bei gut ausgebildetem Beschwerderecht der Individuen ausübe. Sodann die Rechts- und Gerichtscontrolle, die aber nicht in einer allgemeinen Haftbarkeit der Beamten, nicht in einer allgemeinen Haftbarkeit des Staats für gesetzwidrige oder schädigende Beamtenhandlungen zu bestehen hätte, sondern in einer geregelten Ministerverantwortlichkeit und in der Anknüpfung der Verwaltungsgerichtsbarkeit an die Communalverbände. Schließlich die parlamentarische Controlle, aber nicht im Sinne der constitutionellen Doctrin, als Steuer- und Ausgabebewilligungsrecht, sondern als Mitarbeit des Parlaments an der Verwaltung, welch letztere durch politische Ministerverantwortlichkeit beaufsichtigt würde.

Jeder Satz dieser Theorie hat politischen Hintergrund und läßt eine Episode des Verfassungsconflicts durchblicken. Vor allem mußte sich ihm die Frage nach der Abgrenzung von Gesetz und Verwaltungsverordnung aufdrängen. War ja doch dies der Ausgangspunkt des Verfassungsconflicts gewesen. Auch mochten die Preßordonnanzen ihn nicht wenig dazu angeregt haben. Und die drei Controllinstanzen! Wer wird bei der „administrativen Controlle“ nicht an die sogen. oppositionellen Landräthe erinnert? Wer nicht bei der „Rechts- und Gerichtscontrolle“ der liberalisirenden Postulate gedenken, alle Verwaltungsbeamte wegen ihrer Amtshandlungen vor den ordentlichen Richter zu ziehen? Auch die „parlamentarische Controlle“ ist nichts anderes als eine Reminiscenz des Verfassungsconflicts.

Wenn wir G. im Entwurfe dieses Idealstaats folgen, so werden wir manchmal theoretischen Abweichungen von seiner, während des Verfassungsconf1icts eingenommenen politischen Haltung wahrnehmen. Auch seine spätere [407] Wandlung in der Stellung zu Bismarck erscheint als inconsequent. Doch schweres Unrecht und schnöder Undank wäre es, wenn wir ihn deshalb wirklich der Inconsequenz zeihen wollten. G. war nie der Politiker, welcher die später gewonnene bessere Ueberzeugung einem früher eingenommenen Standpunkte zuliebe geopfert hätte. Dazu kommt noch ein Charakterzug, der zu seinem innersten Wesen gehörte, nämlich sein Vertrauen zur Unfehlbarkeit des sich durchsetzenden Staatsgedankens. Dieses Vertrauen trieb ihn mächtig zu jenem Manne hin, der nach 1866 für ihn die Verkörperung der Staatsidee darstellte, zu Bismarck. Vor dem großen staatsmännischen Genie des Reichskanzlers beugte er sich dann willenlos.

III. Meisterjahre (1868–1895).

Nach Beendigung des Verfassungsconflicts wandte man sich in Preußen wieder den Reformfragen, die durch diesen in den Hintergrund gedrängt worden waren, vor allem der Reform der Selbstverwaltung zu. Aber man hatte bereits unter Gneist’s Einfluß gelernt, daß die Selbstverwaltungsreform ohne gleichzeitige Reform der gesammten Staatsverwaltung undurchführbar sei. Im October 1869 wurde der erste Entwurf der Kreisordnung dem preußischen Landtage vorgelegt. Kurz vor diesem entscheidenden Momente finden wir G. bei dem Ministerpräsidenten Grafen Bismarck, zu einer Conferenz geladen, „die sich bis in die späte Nacht fortsetzt und ihm Gelegenheit bietet, seine Auffassung der Lage und die Gründe des Scheiterns der bisherigen Gesetzgebung darzulegen und positive Vorschläge daran zu knüpfen“. Diese wurden später in einer Denkschrift zusammengefaßt und von dem Ministerpräsidenten dem Staatsministerium mitgetheilt. Drei Mal mußte der Entwurf einer Kreisordnung dem Landtag vorgelegt werden, ehe er für Altpreußen Gesetz wurde. Dies geschah am 13. December 1872. Die gesammte Reformarbeit wurde erst 1883, recht eigentlich erst 1891 mit der Landgemeindeordnung für die sieben östlichen Provinzen abgeschlossen. An allen diesen Reformarbeiten hat G. einen hervorragenden Antheil genommen. Die Reform, wie sie in ihren Grundzügen schon in der Kreisordnung von 1872 angedeutet ist, wird als gemeinsame Arbeit Gneist’s und des Ministers Grafen zu Eulenburg bezeichnet werden müssen. G. hat in seinen Schriften seit den fünfziger Jahren die theoretischen Grundzüge, Eulenburg die praktische Ausgestaltung der Reform geliefert.

Ebenso erlangte Gneist’s Idee vom Selfgovernment bei der Reform des preußischen Communalsteuersystems praktische Anwendung. In gleichem Sinne werden wir auch sein energisches Eintreten für jene im Gesetz begründete preußische Volksschule, „in welcher die Religion confessionell gelehrt werden muß, die Wissenschaft nicht confessionell gelehrt werden darf“, zu verstehen haben.

Wie im preußischen Abgeordnetenhause, so trat G. auch im Reichstage, dem er von 1868–1884 angehörte, für seine Lieblingsideen ein. So bei Berathung der Reichsjustizgesetze 1874 in der vom Reichstage zur Vorberathung gewählten 28gliedrigen Commission und im Plenum; so ferner, als er 1872 bis 1875 in dem großen Culturkampf an Bismarck’s Seite kämpfte. Der Commissionsbericht zum Jesuitengesetze von 1872 ist ein Meisterwerk Gneist’s. Er endet mit dem Satze, daß gegenüber Ordensorganisationen, die eine Gefährdung des kirchlichen Friedens enthielten, die Autorität des Staats und der Staatsgesetze nach einheitlichen Grundsätzen hergestellt werden müßte, nicht durch bloße Polizeiverbote, sondern durch zusammenhängende Maßregeln der Gesetzgebung und der Regierung innerhalb ihrer Zuständigkeit. Das war wieder die praktische Anwendung seiner Rechtsstaatidee. In leicht begreiflicher [408] Aufwallung schleudert er den Gegnern die Worte zu: „Bringen Sie uns nur nicht die Worte Freiheit und Recht, um die Herrschaft der Jesuiten in Deutschland einzuführen; handelt es sich um die Frage der Freiheit und des Rechts, so ist das die Seite, auf der wir stehen!“

In dieser Periode seines Lebens setzte er auch den Schlußstein seines Gedankenbaues über Englands Verfassung und Verwaltung: „Die englische Verfassungsgeschichte“ (1882), die reifste und bleibendste Frucht seiner englischen Studien, welche, wie wir wissen, schon am Ausgange der 40er Jahre begonnen waren.

Um Gneist’s Bedeutung als Kenner des englischen Rechts zu würdigen, müssen wir auf seine Vorgänger in Kürze zurückgehen. Beinahe alle diese Männer haben die Eigenthümlichkeit, daß sie nach England ihre Blicke wenden, wenn die Noth daheim am größten und eine Krise des heimischen Staatswesens eingetreten ist oder einzutreten droht. Mit politisch so befangenen Blicken sehen sie das englische Vorbild an und construiren in das englische Recht jene Thatsachen hinein, die sie für die weitere heimische Staatsentwicklung als nothwendig ansehen. Auch G. ist von diesem Fehler nicht freizusprechen.

Angeregt durch den Kampf, den die Regentschaft des Herzogs von Orleans mit den französischen Parlamenten seiner Zeit geführt, hat Montesquieu die ihm von Locke und Bolingbroke überkommene Theorie der Dreitheilung der Gewalten mit ihrem gegenseitigen Gleichgewichte in England wiederzufinden geglaubt, nur daß er neben die gesetzgebende und executive nicht wie Locke die Staatsverträge schließende, sondern die unabhängige richterliche Gewalt, welche Frankreich damals am meisten Noth that, setzt. Montesquieu’s Methode ist politisch-vergleichend, nicht rechts-vergleichend, weil man damals die Scheidung von Recht und Politik nicht kennt. Sie verführt ihn zu jener falschen, politischen Anschauung, daß die in England von ihm gewünschte Dreitheilung der Gewalten verwirklicht sei.

Ehe die deutsche Nation mit Montesquieu’s Lehren allgemein und nachhaltig erfüllt wird, ersteht ihr an der Schwelle des 19. Jahrhunderts der erste gründliche Kenner des englischen Rechts, Ludwig v. Vincke. Er schildert rein descriptiv, indem er sich – wie sein Freund Niebuhr von ihm erzählt – bei jedem Verwaltungsweig die Frage vorlegt, wie derselbe wohl in England betrieben werde. Seine Schilderung englischer Verhältnisse in seinem Schriftchen über die innere Verwaltung Großbritanniens ist so wahrheitsgetreu, daß der Freiherr v. Stein davon Abstand nimmt, englische Verwaltungsorganisation in Preußen nachzuahmen, trotzdem Vincke sie wärmstens empfiehlt. Vincke’s Methode ist die staatswissenschaftliche, welche durch Adam Smith und dessen deutsche Schüler Thaer, Kraus, Jacob u. A. bei uns damals herrscht. Verwaltungssrecht und Verwaltungspolitik schlummern in ihr friedlich nebeneinander, ganz so wie in der von Büsch damals gelehrten Handlungswissenschaft, Handelsrecht und Handelswissenschaft.

Diese staatswissenschaftliche, descriptive Methode ist zu ehrlich, um lange Schule zu machen. Zur Erreichung dieses Zieles muß man damals Verfassungsrecepte aus England in Montesquieu’scher Manier zu holen verstehen. Dies geschieht auch, als die siegreiche Nation nach den Befreiungskriegen die nach englischem Vorbilde gefertigte französische Charte Ludwig XVIII. in Gestalt der süddeutschen Verfassungen auf unseren vaterländischen Boden zu verpflanzen versucht. Nun erfolgt die gründlichste Reception. Englisches Recht gilt nicht bloß, sofern es in den Staatsverfassungen Aufnahme gefunden, sondern auch außerhalb des Gesetzes als „lebendige Vernunft“ jedes öffentlichen Rechtslebens. Blackstone und Delolme, deren Autorität bei uns jener [409] der römischen Juristen gleichkommt, predigen das monarchische Princip, und daher lassen die deutschen Regierungen der Reception englischen Rechts freien Lauf, ja sie fördern sie, ohne viel darüber nachzudenken, ob die englischen Rechtsinstitute auf heimischen Boden übertragbar seien.

Diese Reception dauert solange, als sich die deutsche Nation jenen Scheinconstitutionalismus gefallen läßt. Das Jahr 1830, die Julirevolution, bringen ein anderes Schlagwort auf: den Parlamentarismus, d. i. die Einrichtung einer Regierung, die der Mehrheit des Parlaments entnommen ist. Der Musterstaat für Deutschland ist nicht mehr England, sondern Frankreich und Belgien. Doch schon zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts wird man darüber belehrt, wie das französische Bürgerkönigthum seine Musterverfassung zu einer Oligarchie der besitzenden Classen eingerichtet habe, wie sehr die heißersehnte individuelle Freiheit unter dieser Classenherrschaft darniederliege. Die Opposition in der französischen Deputirtenkammer, die Staatsprocesse Weidig in Hessen und Jordan in Kurhessen, dies alles macht den Ruf nach Garantieen der individuellen Freiheit in Frankreich und Deutschland laut erschallen. Als solche Garantieen gelten damals besonders der englische Strafproceß und die Geschworenengerichte. In Frankreich sorgen Danou, Cottu, Rey und Cherbouliez, in Deutschland Mittermaier und insbesondere G. für die Verbreitung dieser Ansicht. So sind Gneist’s englische Studien von vornherein durch zwei Momente bestimmt, durch das Freiheitsproblem im öffentlichen Rechte und durch die Abkehr vom Parlamentarismus. Wir hörten bereits, wie G. bei seinen englischen Studien von der Frage nach der Zweckmäßigkeit und Einrichtung der Geschworenengerichte ausging, um die Wurzel derselben im englischen Selfgovernment aufzufinden, und wie er nun diesen Satz dahin verallgemeinerte, daß das Fundament jeder Staatseinrichtung das Selfgovernment sei. So berechtigt nun dieses Selfgovernment von G. damals in den Mittelpunkt der preußischen Reformen, wie wir oben sahen, gestellt wurde: es mußte sich jedenfalls ein Zerrbild ergeben, wenn man mit diesem daheim so gewonnenen Selfgovernment an die Betrachtung der englischen Verhältnisse ging. Dies that nun G. und verfiel damit auch in denselben Fehler wie Montesquieu: er construirte England aus dem Gesichtswinkel seines Selfgovernments, wie Montesquieu aus dem der Dreitheilung der Gewalten.

Betrachten wir nun im einzelnen das Bild des englischen Staates, das uns G. in der „Geschichte und heutige Gestalt der Aemter in England“, 1857 (später „Das Selfgovernment“ betitelt) entwirft:

Als Fundament des Staates denkt er sich ein Selfgovernment, d. i. die Verwaltung der Grafschaften und Ortsgemeinden nach den Gesetzen des Landes durch Ehrenämter und Communalsteuern. Diese Communalverbände haben keine Autonomie. Ihre Autonomie ist schon seit Jahrhunderten gebrochen. Es existirt hier keine communale Decentralisation in dem Sinne, daß den Gemeinden ein Recht auf Ausübung ihrer Verwaltungsaufgaben gegeben wäre, sondern nur strengste Centralisation. Dies ist eben die bleibendste Erkenntniß, die wir G. danken, die er allerdings nur politisch faßt, die wir aber juristisch dahin präcisiren können, daß die englischen Communalverbände Verbände, aber keine Corporationen sind, daß Selbstverwaltung in England Staatsverwaltung ist.

Die Männer, die das Selfgovernment handhaben, die Ehrenämter ausfüllen, die Communalsteuern zahlen, sind nach G. die alte landed gentry, jener alte Grundadel, der als seine vornehmste Aufgabe die Selbstthätigkeit im parlamentarischen Leben und im communalen Ehrenamte als Friedensrichter, [410] als Sheriff erblickt, und der mittlere Grundbesitz, der sich damit zufrieden gibt, seinen Geschworenendienstpflichten und seinen Steuerpflichten nachzukommen. Hier liegt nun ein Construiren in Montesquieu’scher Weise vor. Weil in der preußischen Verfassungsreform seit 1848 Großgrundbesitz und Landadel wieder restaurirt werden müssen, deshalb soll in England um die Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts jene alte gentry des 18. Jahrhunderts wieder ausgegraben werden, sie, das Ideal eines pflichtgetreuen Adels. G. ignorirt hierbei die Entwicklung des englischen Selfgovernment seit 1832. Als nämlich die Reformbill in England durch Erweiterung des parlamentarischen Wahlrechts dem Capitalismus Theilnahme am Parlamente gewährte, da wurde es alsbald auch klar, daß die alte, damals wol verknöcherte landed gentry und ihre aristokratische Herrschaft im Selfgovernment nicht mehr genügten, daß zur Ergänzung der friedensrichterlichen die Thätigkeit gewählter Communalbehörden, der sog. local boards, hinzutreten müßte, um dem aristokratischen Regime der von der Krone ernannten Friedensrichter das Gegengewicht zu halten. Diese local boards waren schon seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ins Leben getreten und haben sich seit jener Zeit bis auf den heutigen Tag so vollkräftig entwickelt, daß sie immer weitere Verwaltungsgebiete ehemaliger friedensrichterlicher Thätigkeit an sich ziehen oder zum mindesten im Verein mit den Friedensrichtern besorgen. Das Wirken dieser local boards ignorirt G., weil sie in den Rahmen seines Staatsideals für das damalige Preußen, nicht passen. Er schildert sie als gewissen- und pflichtenlose Interessengemeinschaften, bezeichnet sie als eine Art capitalistischer Verwaltungsräthe von Actiengesellschaften, in welche diese boards die Gemeinden umzuwandeln drohten, weil sie aus Wahlen hervorgingen, die einen Census auch unabhängig vom Grundbesitz in der Gemeinde voraussetzten. In dieser Loslösung der Communalrechte von Grund und Boden erblickt G. das gefährlichste Symptom des fortschreitenden Capitalismus und in diesem den gefährlichsten Concurrenten des Landadels. Daß, wie wir dies heute sehen, Friedensrichter und local boards, landed gentry und industrielles Capital durch eine stramme Centralgewalt zu gemeinsamer Thätigkeit im Dienste der Selbstverwaltung vereinigt werden könnten, kam ihm damals um so weniger in den Sinn, als das englische Selfgovernment diese Kraftprobe recht eigentlich erst seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bestanden hat. Das Vorurtheil gegen die gewählten boards gab aber G. zeitlebens nicht auf.

Auch die Vorzüge des englischen Communalsteuersystems hat G. zum mindesten überschätzt, vor allem die Thatsache, daß die englischen Communalsteuern Realsteuern sind, die auf Grund und Boden ruhen und den jeweiligen Inhaber treffen. Gerade das fortwährende Anwachsen der den englischen Gemeinden vom Staate übertragenen Aufgaben stand und steht immer im Conflict mit der Thatsache, daß die Kosten dieser überwiesenen Verwaltungsaufgaben nicht immer am zweckmäßigsten durch Grundsteuern aufgebracht werden können, weil Grundbesitz nicht immer der richtigste Maßstab für die aus jenen Verwaltungsaufgaben gezogenen Vortheile der Communalangehörigen ist. Soann erblickt G. auch einen Vorzug dieses Communalsteuersystems in der gesetzlichen Fixirung des Steuerfußes und der hierdurch hervorgerufenen Gleichmäßigkeit der Besteuerung, die übrigens in England nie bestanden hat und nicht besteht. Auch hier legt G. in englische Verhältnisse das hinein, was - wie wir oben hörten - Preußen 1848/49 Noth that: ein Communalsteuersystem, ruhend auf Grund und Boden, um den Landgemeinden den inneren Zusammenhalt und das Ansässigkeitsgefühl zu erhalten, eine gesetzliche Fixierung des Steuerfußes, um die Steuerabwälzung auf die in den Gemeinden [411] schwächer vertretenen Interessengruppen zu verhüten. Weil schließlich G. so sehr die alte landed gentry in ihrer friedensrichterlichen Thätigkeit und das englische Communalsteuersystem überschätzt, weil er die Thätigkeit der gewählten boards ignorirt, werthet er auch die parlamentarische Regierung in England gering.

G. führt die Entstehung der parlamentarischen Regierung in England auf die Zeit nach der Reformbill von 1832 zurück. Daher ist für ihn parlamentarische Regierung und das Aufstreben des industriellen Capitalismus, wie solches wirklich seit 1832 erfolgte, identisch und bedeutet den Verfall Englands. Weil der eben erwachte Parlamentarismus in Preußen wie im übrigen Deutschland damals so bald ausspielte, ist er nach Gneist’s Auffassung ein Unglück auch für England. Denn das Parlament, die herrschenden Classen, insbesondere der industrielle Capitalbesitz, drücken, nach Gneist, auf das Parteiministerium; dieses auf die willenlosen local boards und auf deren besoldete Beamte. G. betrachtet eben hier englische Verhältnisse wieder durch die Brille des continentalen Beobachters, dem der heimische Parlamentarismus Wechselfällen und heilloser Parteiwirthschaft ausgesetzt erscheint. Er will die englische Geschichte aufhalten, den Einfluß der alten landed gentry zu neuem Leben erwecken und die neue Parlamentsherrschaft zum alten Eisen gestellt sehen.

Trotz der fehlerhaften Einzelheiten kann die geniale Conception, die Gneist’s Darstellung des englischen Rechts enthält, nicht hoch genug gewürdigt werden. Wie Montesquieu die Dreitheilung der Gewalten, so hat auch G. Selfgovernment und Rechtsstaat in die englischen Verhältnisse hineinconstruirt, aber er erhebt sich auch über das Niveau Montesquieu’s durch die Feststellung von unvergänglichen Wahrheiten. Bleibend ist Gneist’s Erkenntniß, daß Englands Staatsverwaltung vorwiegend im Selfgovernment durch Ehrenämter und Steuern im Nachbarverbande bestehe. Bleibend ferner Gneist’s Lehre, daß England für uns insofern ein Musterland ist, als infolge der Continuität seiner Rechtsordnung der Gegensatz zwischen Verwaltungs- und Verfassungsrecht überhaupt nicht gekannt wird. Jeder einzelne englische Verwaltungsrechtssatz ist infolge der Durchbildung des englischen Rechts bis in die kleinsten Punkte doch schließlich auf ein oberstes Rechtsprincip zurückzuführen, das meist common law ist. Darin liegt die Bedeutung der Unantastbarkeit der common law. Wir auf dem Continent hatten der ausgebildeten Verwaltungsordnung des Polizeistaats die constitutionelle Verfassungsform erst aufdrücken und diese Rechtscomplexe zusammenschweißen müssen: ja wir thun es auch noch heute unausgesetzt. Das ist eben das Problem des richtig verstandenen Rechtsstaates. Daher wird uns England, das seine Rechtsordnung wie aus einem Gusse fertiggebracht, immer als Vorbild dienen. Doch darf dies nicht zur sklavischen Nachahmung des fremden Rechts führen. G. selbst sagt hierüber: „Englische und französische Staatsbildung können für uns ein Mittel der Erkenntniß unseres Selbst sein, die der deutsche Geist so gerne in weiter Ferne sucht. Die wirkliche Gestaltung unseres Staatswesens kann schon deshalb weder dem englischen noch dem französischen folgen, weil es in vielen seiner Grundlagen tüchtiger, weil es in der geistigen, sittlichen und wirtschaftlichen Entwicklung der Massen des Volks sowol England als Frankreich überlegen ist“.

Diese Worte Gneist’s lenken unser Auge hinüber zu seiner methodischen Behandlung fremden Rechts. Es ist die historische und rechtsvergleichende Methode, die G. zum ersten Male auf wirklich juristische Grundlagen setzt. Montesquieu’s Methode war bloß politisch-vergleichend, die Vincke’s eine rein descriptive, ohne zu vergleichen und mit heimischen Rechtsverhältnissen zu contrastiren. Die Methode der Reception englischen Rechts zu Beginn des 19. Jahrhunderts trug zwar juristisches Rüstzeug der constitutionellen Doctrin aus [412] England herüber, ohne aber die Verschiedenheit der socialen und historischen Verhältnisse zu berücksichtigen.

Alle diese Irrthümer vermeidet G. Seine Methode ist durch ihren historischen Grundzug jener Receptionszeit überlegen. Hierin erkennen wir eben G. als würdigen Schüler Savigny’s.

Aber auch Vincke’s Methode überholt er, weil er fremde Rechtsverhältnisse nicht bloß beschreibt, sondern mit den heimischen contrastirt; und Montesquieu’s Methode läßt er weit hinter sich, da er fremde Rechtsverhältnisse nicht bloß politisch, sondern auch juristisch wiederzugeben versteht. Doch in dieser juristischen Wiedergabe liegt, wie sein Vortheil, so auch sein Nachtheil gegenüber Montesquieu. Er construirt das fremde Recht nicht mit dessen Rechtsbegriffen, sondern mit den heimischen, preußisch-deutschen. Was wir gegenüber dieser Art fremdes Recht wiederzugeben nunmehr auch verlangen dürfen, ist fremdes, also hier das englische Recht aus englischen Rechtsbegriffen und socialen Verhältnissen heraus zu verstehen und gegen die unserigen zu contrastiren. Dann erreichen wir vielleicht die Ziele, die G., der Begründer rechtsvergleichender Methode, dieser letzteren steckte: die Erkenntniß „des eigenen Selbst“ – wie er sagt –, die Erkenntniß der heimischen Rechtsinstitute durch den Contrast mit den ausländischen. Wir bewahren uns vor dem Glauben an logisch unwandelbare Rechtskategorien, wenn wir sehen, daß ein politischer Effect mit anderer Rechtstechnik erzielt wird, als unsere eigene ist.

Außer diesem erkenntnißtheoretischen verfolgt die rechtsvergleichende Methode auch einen gesetzgebungspolitischen Zweck, und G. hat, wie wir wissen, dem letztern in hohem Grade nachgestrebt. Derselbe besteht darin, vor mißverständlichen Receptionen fremden Rechts zu warnen, weil nur zu oft ausländisches Recht, stückweise aus dem historischen und socialen Milieu und aus der heimischen Rechtsordnung herausgerissen, auf fremdem Boden ein Torso bleiben muß. Er besteht aber auch darin, und G. hat unter dem Schlagwort der „anwendbaren Grundsätze des fremden Rechts“ dieses so glänzend verstanden, fremde Rechtsinstitute zu recipiren, sodaß man ihnen in unserem Recht entsprechende functionelle Bedeutung zuweisen kann.

Das war G. – ein Kämpfer um politische Freiheit, ein Mitbegründer der deutschen Staatsrechtswissenschaft. Daneben entfaltete er eine große Theilnahme an Vereinen, die dem Wohl der Menschheit und der Wissenschaft zu dienen bestrebt sind. Jahrzehnte hindurch war er Vorsitzender des Vereins für das Wohl der arbeitenden Classen, Vorsitzender und werkthätiges Mitglied des deutschen Juristentages, Mitbegründer und der erste Präsident des Vereins für Socia1politik. Auf solch inhaltreiches Leben zurückzublicken ist nur wenigen Gelehrten vergönnt. Hochgeschätzt von den Monarchen, unter deren Scepter er lebte – er war Geheimrath, Prinzenerzieher und 1888 geadelt worden –, von den Mitbürgern und der Wissenschaft tief betrauert, starb er am 23. Juli 1895.

Ersch u. Gruber, Encyclopädie, LXXI, 167. – Die Zeit, Jahrg. 1864. – Gneist u. J. St. Mill. Altenglische und neuenglische Staatsanschauung, eine politische Parallelle, 1869. – Walcker, Rudolf v. Gneist. Berlin (Verlag des litterarischen Deutschlands) 1888. – Gierke, R. v. Gneist, 1896. – Löning, Münchner Allgemeine Zeitung 1895 (Beil. 179/80). – Preuß in der Nation, Jahrg. 1895. – Böhmert, Rudolf v. Gneist, im Arbeiterfreund 1894 u. 1895. – Redlich, Englische Lokalverwaltung, 1901, S. 741 ff. (dazu meinen krit. Aufsatz Jurist. krit. Vierteljschr. 1902, S. 254 ff.), schließlich mein Engl. Staatsrecht (in Marquardsens Handb. d. öff. Rechts), 1904, § 4. – Unter Gneist’s eigenen Schriften kommen für seine Biographie hauptsächlich [413] in Betracht: Berliner Zustände 1849. – Die Militärvorlage 1892 und der preußische Verfassungsconflict, 1893. – Die staatsrechtlichen Fragen des preußischen Volksschulgesetzes, 1892. – Die nationale Rechtsidee von den Ständen und das preußische Dreiclassenwahlrecht, 1894. – Der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Classen (Rechenschaftsbericht und Festschrift), 1894. – Vollständige Angabe der Gneist’schen Schriften bei Böhmert, a. a. O., Arbeiterfreund 1895, S. 145–148.