Die Gartenlaube (1884)/Heft 8
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No. 8. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Etwa vierzehn Tage waren vergangen, als Tante Lott eines
Morgens die Treppe hinabstieg und nach Moritz fragte.
Er sei bei der gnädigen Frau, berichtete der Diener,
und die alte Dame durchschritt nun den blauen Salon
Frieda’s und fragte, an der Portière stehen bleibend:
„Störe ich nicht, Kinderchen?“
„Immer herein, Tante Lott!“ rief Moritz.
Frieda saß am Schreibtische. „Einen Augenblick, Tante,“ bat sie, und sie las noch einmal einen zierlichen wappengeschmückten Briefbogen durch:
„Meine liebste Lilli!
Nur in aller Eile ein paar Worte, damit Du au fait bist wegen meiner Balltoilette für Berlin, da wir ja doch jedenfalls viel neben einander sein werden. Ich habe mir bei Gerson ein weißes Atlascostüm bestellt mit Silberstickerei, die Corsage aus Drap d’argent, und will meine Brillanten dazu tragen statt Blumen; ich denke, es wird distinguirt aussehen. – Mama und Moritz bestehen darauf, daß Else, die neuerdings mehr als langweilig geworden ist (à cause de Monsieur Bernardi), mitkommt. Mama will sie partout in ein rosa Seidenfähnchen stecken; ich habe nachgerade diesen Elisabeth-Cultus satt und werde Moritz meine Meinung gründlich sagen. Ich bitte Dich herzlich, Lilli, nimm niemals ein junges Mädchen in Dein Haus, die quasi Familienrechte hat, es ist mehr als gräßlich, besonders wenn der Hausherr sich so sehr verpflichtet fühlt, die väterliche Vorsehung und nebenbei den Ritter zu spielen, wie Moritz. Lange hält meine Geduld nicht mehr vor.
Grüße die Eltern. Auf Wiedersehen.
Deine Schwester Frieda.
NB. Der Bennewitzer kommt merkwürdig oft jetzt, ich traue meiner Schwiegermutter nicht in diesem Punkte; sie sagt, Else’s Vaters wegen. Es giebt da ein altes Sprüchwort, das ich aber nicht hier hin schreiben will. F.“
„So, Tantchen. Was giebt’s denn?“ fragte sie, nachdem sie den Brief adressirt und geschlossen. Und sie trat zu einem reizenden kleinen Möbel, zog die sämmtlichen Schubfächer auf und schickte sich an, eine Revue abzuhalten über ihre Schmucksachen. Sie war im hellblauen Schlafrock und auf dem üppigen schwarzen Haar saß eine Spitzenrosette mit blauer Schleife.
„Ach Gott,“ begann Tante Lott, sich zu Moritz wendend, der regungslos am Kamin saß im grauen Flauschrock und Stulpenstiefeln, wie er vom Felde gekommen. „Ach Gott, Moritz, es drückt mir noch das Herz ab, die Else – sie klagt nicht, sie sagt nichts, aber sie schläft keine Nacht, sie genießt nichts und sie wird so mager; willst Du mir nicht einmal den Arzt heraufschicken, wenn er kommt? Ich fürchte, sie grämt sich krank um diesen Bernardi.“
„Ist denn die Komödie noch nicht zu Ende?“ fragte die junge Frau. „Was wollt Ihr denn? Else scheint höchst vergnügt zu sein. Daß sie noch ein bischen Scheu hat, auszugehen, ist natürlich, sie war acht Tage lang hier das Stadtgespräch.“
„Ja, sie nimmt sich sehr zusammen, Frieda,“ sagte die alte Dame und nickte ernsthaft mit dem Kopfe, „aber –“
„Nun, Ihr thut ja auch alles in Hülle und Fülle, um sie zu trösten,“ fuhr Frieda gereizt fort und legte etwas unsanft eine kostbare Gemme in den Kasten. „Ob mir noch etwas paßt, darnach fragt kein Mensch mehr, immer nur Else. So macht es die Mama, so machen es die Kinder und so macht es Moritz; ich darf nicht einmal mehr sprechen, wie ich will und was ich will, und nächstens sage ich bei Tisch kein Wort mehr.“
Tante Lott sah förmlich entsetzt Moritz an, der so gleichmüthig in dem Sessel lehnte.
„Siehst Du, Tante, Frieda weiß, daß es ihr so gut steht, wenn sie ein bischen schmollt. Aber das darfst Du mir nicht anthun, Kind, diese häßliche Laune mit nach Berlin zu nehmen, denn –“
„Wenn Du darauf bestehst, daß Else mitkommt, so bleibe ich mitsammt meiner häßlichen Laune hier,“ unterbrach sie.
„Du mußt das mit Mutter ausmachen,“ entgegnete er ruhig; „sie hat gewünscht, daß Else uns begleitet.“
„Ich kann dann nicht mit, der Kinder wegen,“ beharrte die junge Frau. „Ich sehe überhaupt nicht ein, wozu ich eine Erzieherin habe, wenn ich nicht einmal beruhigt aus dem Hause gehen darf.“
„Bis jetzt hat Dir ja zur Beaufsichtigung immer die alte Kinderfrau genügt. Aber wie Du willst, Frieda; ich habe mich noch nie mit Dir gezankt, wenn es Dir beliebte, Dein Trotzköpfchen aufzusetzen, Du weißt es. Heute ist der letzte Tag, an dem Else als Erzieherin fungirt; ich werde noch in dieser Stunde Schritte thun, eine andere Dame zu engagiren.“
Frieda schwieg und schloß mit unendlicher Langsamkeit ein Schubfach nach dem andern.
[126] „Ich bitte nur um die eine Rücksicht, Frieda,“ begann er nochmals, „laß das Mädchen nicht ahnen, weshalb dieses Arrangement getroffen wird. Das Weitere findet sich.“
Er hatte sich erhoben, nahm Mütze und Reitpeitsche vom nächsten Stuhl und schritt hinaus. In demselben Moment schlug die junge Frau die Hände vor das Gesicht und brach in Weinen aus.
„O Tante Lott, ich bin so namenlos unglücklich!“
Die gute alte Dame stand dieser Scene verständnißlos gegenüber. „Um Gotteswillen, Frieda, was ist Dir?“
„Er liebt mich nicht mehr!“ schluchzte die schöne Frau und warf sich auf den nächsten Fauteuil; „ich weiß es zu genau, er liebt mich nicht mehr!“
„Herr Gott, Du bist doch nicht eifer – – ?“ Das ganze Wort wollte nicht über die Lippen der erschrockenen alten Jungfer.
„Und nun geht er zu Mama – zu Mama, die mich immer wie ein unvernünftiges Kind behandelt!“
Sie fuhr plötzlich empor; die blauen Vorhänge hatten sich getheilt und Frau von Ratenow trat in ihrer ganzen Stattlichkeit über die Schwelle des Zimmers.
„Nun, Frieda? Ich höre eben von Moritz, daß Dir nicht ganz wohl ist,“ begann sie, sich neben die Weinende setzend.
Frieda stammelte etwas von Kopfschmerzen. „Natürlich!“ Die alte Frau faßte nach ihrer Hand. „Es, wird Dir zu viel, den ganzen Tag mit dem Kindertrubel; ich kenne das ja, heutzutage sind die Nerven Mode. Ich will Dir aber einen Vorschlag machen: Du schickst die kleinen Mädchen in die Schule, es ist dann eine himmlische Ruhe im Hause, mein Töchterchen, und Du brauchst Dich nicht mehr zu ärgern über eine Erzieherin. Wie?“
Die junge Frau schnellte von ihrem Sessel aus der liegenden Stellung empor, aber sie kam nicht zum Antworten.
„Else Hegebach bleibt meine Gesellschafterin im Hause, liebes Kind,“, sprach die alte Dame weiter mit erhobener Stimme, „und als solche werde ich sie zu schützen wissen vor jeder Kränkung, Frieda!“
Frieda war ein wenig blaß geworden. „So habe ich es nicht gemeint!“ sagte sie, schon wieder weinend.
„Wo ist Else?“ fragte die Schwiegermutter.
„Im Kinderzimmer; sie ertheilt eben Rechenstunde,“ war die im leisen Tone gegebene Antwort.
„Ich hoffe, Euch heute Abend zum Thee drüben zu sehen,“ fuhr Frau von Ratenow fort. „Tante Lott, bitte, pünktlich! Der Bennewitzer hat sich angemeldet.“
„Das dritte Mal seit vierzehn Tagen!“ bemerkte Frieda und erhob sich. „Früher kam er nie, oder doch sehr selten.“
„Allerdings! Er hatte jahrelang eine kränkliche Frau und bis jetzt noch tiefe Trauer. – Habe ich das Vergnügen, Euch heute Abend zu sehen?“ fragte sie noch einmal.
„Ich bedaure lebhaft, Mamachen; wir sind zum Thee bei Frau von Z.“
„Else auch?“
„Sie war gebeten, sagte aber ab.“
„Na, hoffentlich nicht bei mir!“ Und die alte Dame nickte äußerst freundlich ihrer Schwiegertochter zu. „Adieu, mein süßes Kind, schicke die Kleinen ein bischen, wenn es Dir recht ist.“
„Siehst Du, Tantchen, so ist die Mama immer!“ klagte die junge Frau. „Jeder Mensch wird mir doch Recht geben darin: wenn Else es einmal unternommen hat, die Kinder zu erziehen, soll sie es auch ganz thun; ich bin die Letzte, die etwas Uebermäßiges von ihr verlangen würde. Wenn die Geduld einmal reißt, es ist kein Wunder. Ich denke nun eben, die kleinen Mädchen lernen, da kommt Moritz und sagt: ‚Elschen, wir gehen zum Subscriptionsball nach Berlin, Mutter will Dir ein Kleid schenken!‘ Wo soll da Andacht und Ernst herkommen?“
„Ich glaube, Else wollte Eure Freundlichkeit gar nicht annehmen, Frieda,“ vertheidigte die geängstigte alte Dame ihren Schützling. Sie mußte aber noch ein langes Lamento anhören, Frieda war ja so sehr in allen ihren Rechten gekränkt; sie bekam es sogar fertig, bei Tische ihr Wort wahr zu machen und nicht eine Silbe zu sprechen.
So war mit einem Male das Gewitter heraufgezogen, das schon lange an Moritz’ Ehehimmel gedroht; eine schwüle Luft wehte im Hause trotz des klaren Frostwetters draußen. Else merkte es gar nicht; sie hatte zur Rechten und zur Linken je eins der kleinen Mädchen, und sie war hinreichend beschäftigt, die Fragen der Kinder zu beantworten. Moritz hatte anfänglich nicht gewollt, daß die Kinder mit am Tische säßen, aber Else hatte gemeint, das müsse so sein, und so geschah es denn auch zum größten Jubel der Kleinen.
Ja freilich, sie sah elend aus, und still war sie auch; das machte das Kämpfen mit einem stolzen, gekränkten Herzen, das ewige stumme Fragen „warum ich?“ Das machten die schlaflosen Nächte und die peinigende Sehnsucht nach den verlorenen goldenen Tagen; sie kam sich vor wie eine Paria unter den Anderen, trostlos und ausgestoßen, und nur, weil sie – arm! Nicht einmal weinen konnte sie mit den braunen Augen, wie es im Liede heißt vom „armen Mägdelein“. Ach ja, es gab noch Vieles in der Welt, was das Leben lebenswerth macht; Hunderte und aber Hunderte theilten ihr Loos und waren schließlich ruhig und zufrieden bei harter Arbeit – ohne Glück. Aber sie Alle waren einen Weg gegangen durch Nesseln und Dornen, um so weit zu kommen; ein junges krankes, glücksbedürftiges Herz läßt sich nicht in ein paar Tagen in den Schlaf des Vergessens wiegen, dazu gehören Jahre, lange Jahre!
Abends war das Zimmer der alten Frau von Ratenow das gemüthlichste im ganzen Hause; der Kachelofen bullerte und fauchte in allen Tonarten, die schweren Gardinen hingen zusammengezogen vor den Fenstern, jedes Zuglüftchen abhaltend, und legten sich noch in stolzer Schleppe auf den dicken weichen Teppich; der Lampenschein spiegelte sich in Silber und Krystall auf schneeweißem Damast-Tischtuch, und Tante Lott und die Bewohnerin saßen auf dem Sopha; Letztere den weißen Strickstrumpf in den Händen. Else, mit einer feinen Arbeit beschäftigt, saß neben dem „stummen Diener“, auf welchem der silberne Kessel dampfte; sie war im dunklen Hauskleide und trug ein zierlich gesticktes Schürzchen. Der Bennewitzer wurde erwartet.
Else waren diese Stunden mit dem alten Herrn nahezu entsetzlich, sie hatte zu gemischte Gefühle dabei. Seitdem der Vater neulich zu ihr die ersten freundlichen Worte gesprochen, stand ihr Kindesherz in voller Gluth für den mürrischen Mann. Sie wußte, daß er nicht recht handelte dem Vetter gegenüber, aber er hatte gesagt, er thue es ihretwegen, und das hob Alles auf in den Augen des Mädchens, seine Launen, seinen Eigensinn, sein geringes Interesse für sie. Er war längst wieder genau so unzugänglich ihr gegenüber wie früher, aber sie hatte doch einmal einen Einblick in sein verbittertes Gemüth gethan, nun war ihr kein Wort zu hart, keine Stimmung zu finster, es lag ja nur die Schlacke des Kummers und der Einsamkeit über dem Golde im Herzen des alten Mannes; er war ja doch ihr Papa, der einzige Mensch, an dem sie ein Recht hatte, ein heiliges Anrecht.
Der Bennewitzer war ihr peinlich darum; er sprach bis jetzt zwar nie während seiner Besuche in der Burg über den Vater, aber trotzdem – sie wußte, wie er über ihn dachte und wie Tante Ratenow über ihn dachte, und das that ihr unsäglich weh. Tante Ratenow lobte überdies den Bennewitzer so ungemein; Tante Ratenow hatte immer so stark ausgesprochene Sympathien und Antipathien, und man durfte nichts dagegen einwenden, die alte Dame konnte dann so laut ihre Stimme erheben. „Gut oder Schlecht, dazwischen giebt’s nichts!“ pflegte sie zu sagen. Etwas Halbes existirte nicht für sie, wie es auch ihrem ganzen Charakter fremd war. Bernardi’s Name war nie wieder über ihre Lippen gekommen, die Sache war abgethan, ein für allemal; je weniger man davon sprach, desto besser! Eine Wunde müsse sich ausbluten, meinte sie, aber das könne stillschweigend geschehen, ohne daß die Leute etwas davon merkten.
„Else,“ begann sie mit ihrer tiefen Stimme – sie schob die Brille zurück und ließ das Zeitungsblatt sinken – „Du kannst mir das mal vorlesen; mit meinen Augen wird es täglich schlechter. Ich weiß nicht, Lottchen, wie Du Deine so gut conservirt hast bei dem ewigen Lesen. Es ist mir ein wahrer Trost, daß Moritz sich meinen Bitten gefügt hat und den Unterricht der Kinder Dir abnahm, Else; ich bin wirklich weder im Stande, Morgens die Zeitung zu lesen, noch einen Brief zu schreiben ohne gründliche Krakelfüße.“
Else ergriff das Blatt. „Wenn ich nur die Beruhigung hätte, liebe Tante, daß Moritz und Frieda nicht unzufrieden mit meinen Leistungen als Lehrerin waren.“
[127] „I, so fragt man die Leute aus, wenn man was Schönes hören will,“ erwiderte die alte Dame. „Nein, nein, es ist so, ich habe Moritz darum gebeten! Was meinst Du, was daraus Alles entstehen kann, wenn man nicht ordentlich mehr sieht? Dort kommt übrigens der Bennewitzer,“ unterbrach sie sich.
Ueber den Hof war ein Wagen gerasselt und hielt nun vor der Hausthür still; man hörte Schritte im Vorflur und Frau von Ratenow erhob sich mit einer gewissen Feierlichkeit.
„Guten Abend, mein lieber Hegebach!“ rief sie, kräftig seine Hand schüttelnd, „es freut mich, daß Sie uns drei einsamen Frauenzimmern die Zeit ein wenig vertreiben wollen.“
Er küßte ritterlich die dargebotene Hand und begrüßte Tante Lott und Else. Letzterer überreichte er eine weiße Papierdüte.
„Die Einzige, die im Glashause erblüht war,“ sagte er verbindlich. Es war eine prächtige Marschall Niel, die am graziösen Stengel schwer den wundervollen gelben Kelch neigte.
„Ich danke sehr, Herr von Hegebach!“
Sie stellte die Rose in eine kleine Vase und machte sich am Theetisch zu schaffen.
„Nichts Neues, lieber Hegebach?“ fragte Frau von Ratenow. Und damit war man im Gespräch. Die ganze Umgegend kannten sie ja Beide, und von der heutigen kamen sie auf die alte Zeit.
„Pardon, lieber Hegebach, ich bin zehn Jahre älter als Sie, gerade so alt wie Ihr Vetter, ich weiß das ganz genau.“
„Nein, Sie irren sich, Gnädigste,“ erklärte er sehr ruhig, „allerhöchstens acht Jahre sind Sie älter; als ich mich verheirathete, war ich sechsunddreißig Jahr, und Achtzehn sind seitdem verflossen. Denken Sie doch, daß mein ältester armer Junge schon Obersecundaner war.“
„Wahrhaftig, wie die Zeit vergeht, Hegebach!“
„Freilich, freilich, Else wird im Frühling Neunzehn!“ berechnete Tante Lott.
„Na, es giebt Aeltere als wir, Hegebach; Sie sind ja überhaupt noch ein junger Mann,“ meinte Frau von Ratenow.
Tante Lott warf einen Blick zu ihm hinüber; er sah vornehm, stattlich aus, auch recht gut noch – aber jung? Sie war schon lange nicht mehr jung, und viel mehr Jahre zählte sie auch nicht. Die Männer sind da einmal wieder allzusehr im Vortheil, dachte sie.
Else saß still dabei, ihre Gedanken waren so ganz wo anders. Was kümmerten sie alte längst vergangene Geschichten? Das lag Alles so weit, so unendlich weit im Duft der Vergangenheit. Eine qualvolle nervöse Unruhe bemächtigte sich ihrer wie so oft schon, sie wäre gern hinaufgegangen in ihr Stübchen, hätte sich an das Fenster gesetzt und gedacht und geträumt – es war so namenlos schwer, den traurigen sehnsüchtigen Gedanken nicht nachzugeben – nur um zu antworten, um zu hören.
„Wie geht es Ihrem Herrn Vater?“ fragte der Bennewitzer, und bog sich über die Lehne seines Sessels zu Else hinüber.
„Danke sehr! Ich glaube, so leidlich,“ erwiderte sie.
„Und noch nicht milder gestimmt?“ Er sprach es leiser und seine dunklen Augen senkten sich mit einem bittenden Ausdruck in die ihren.
Sie erröthete plötzlich. „Papa ändert seine Ansichten nicht über Nacht,“ sagte sie schroff und laut.
Frau von Ratenow’s Gesicht verfinsterte sich. „Else, willst Du den Tisch serviren lassen? bitte!“
Das junge Mädchen erhob sich, schritt lautlos über den weichen Teppich und verschwand im Nebenzimmer. Die Augen des Herrn von Hegebach folgten ihr; er strich langsam mit der wohlgepflegten weißen Hand über den dunklen Vollbart. Frau von Ratenow sprach von etwas Anderem, sie wollte augenscheinlich die schroffe Antwort vergessen machen. Als das junge Mädchen zurückkehrte, unterhielt man sich schon wieder lebhaft.
Herr von Hegebach war ein vorzüglicher Gesellschafter; er hatte weite Reisen gemacht, er war mit einer Menge von Leuten von Auszeichnung und Ruf verbunden. Er sprach von Lappland und vom Libanon, und er sprach gut, er hatte überall das Beste gekostet, er hatte am Nil geschwärmt und gezeichnet und am Niagara gestanden. Er war ein Mann, der das Leben kannte, von der angenehmsten Seite kannte. Und dort in dem finsteren Hause saß ein alter einsamer Mann, der nicht einmal über das Reisegeld zu verfügen hatte, um ein Bad zu besuchen zur Linderung seiner Leiden. Für einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in Teplitz wäre das schon genügend gewesen, was der Vetter in Kairo für einen einzigen kostbaren Dolch verausgabt hatte.
Es waren häßliche, bitterböse Gedanken, die sich hinter Else’s weißer Stirn kreuzten. Alles, woran sie bis jetzt geglaubt, Liebe, Treue, Edelmuth, sie waren ja lächerliche veraltete Dinge. Heutzutage machte nur Eins glücklich, verlieh nur Eins Macht – Geld, Reichthum.
„Auf baldige gute Freundschaft, liebes Nichtchen!“ Der Bennewitzer hob sein Glas. Sie nahm das ihre und stieß mit ihm an.
„Ansehen dabei!“ sagte er ernsthaft.
Wieder überzog eine Purpurgluth ihr Gesicht; sie ärgerte sich über sich selbst, aber diese Augen hatten so sonderbare Blicke.
„Dableiben, Else!“ rief Frau von Ratenow, als gegen elf Uhr der Bennewitzer fortgefahren war, nicht ohne das Versprechen mitzunehmen, daß die Damen ihn bald auf Bennewitz besuchen würden.
Else kehrte zurück und setzte sich wieder. Tante Lott hatte sich schon mit dem Glockenschlage Zehn beurlaubt.
Frau von Ratenow sah ärgerlich aus und wußte doch nicht, wie sie beginnen sollte. „Du hast eine merkwürdige Art, den Bennewitzer zu behandeln, liebes Kind,“ sagte sie endlich; „es ist lächerlich, ihm eine Sache nachtragen zu wollen, die Dein Vater leichtsinniger Weise entrirt hat. Du solltest Dich zum Mindesten neutral verhalten.“
„Ich weiß, daß Herr von Hegebach vollständig in seinem Rechte ist, Tante,“ erwiderte Else und sah voll und groß die alte Dame an. „Ich trage ihm in keiner Weise etwas nach – das wäre thöricht.“
„Gut! Aber warum bist Du so – absprechend gegen ihn?“
„Ich bitte um Verzeihung, Tante –“ stotterte sie.
Frau von Ratenow erhob sich und gab ihr die Hand. „Ich weiß nicht, ob Du anders bist als Andere; – zu Denen, die schwer begreifen, gehörst Du sonst nicht. Gute Nacht, Else.“
Wie gejagt, flog das Mädchen die Stufen hinan und in ihr Zimmer. Nein, es war nicht möglich, das hatte Tante nicht sagen wollen, was ihr im Augenblick so entsetzlich durch den Sinn flog. Ja, was denn auch? – Sie lachte plötzlich, aber es war ein fast verächtliches Lachen, es klang ihr selbst fremd. Sie stand dann vor dem Spiegel und schaute ihr blasses Gesicht an. Gewiß, es war lächerlich, nur die aufgeregte Phantasie konnte ihr solche Thorheit eingeben. Nein, Tante hatte ihr gar nichts sagen wollen, es war eine ihrer gewöhnlichen Redensarten gewesen – natürlich!
„Tante Lott!“ rief sie dann leise. Es war, als fürchte sie sich vor ihren eigenen Gedanken, und sie trat in das peinlich saubere Schlafzimmer der alten Dame.
„Was denn, mein Goldkind?“ klang es verschlafen.
„Mir ist so bang, Tante!“
Und Tante Lott setzte sich, völlig munter, im Bette hoch. „Ich bin heute Abend so an Deine Mutter erinnert worden, Kind,“ begann sie; „so saßen wir immer; dort unten in Cousine Ratenow’s Salon, als Dein Vater sich um sie bewarb. Du siehst ihr so sprechend ähnlich, Else, und etwas hat doch der Bennewitzer auch von Deinem Vater, das Organ und die Handbewegung – über den Bart, weißt Du, und dann, er sah sie auch immer so still dabei an.“
Das Mädchen stand regungslos; eine unerklärliche Angst schnürte ihr fast die Kehle zu.
„Das sind nun beinahe zwanzig Jahre, und mir ist es wie heute, Else,“ fuhr die alte Dame fort in ihrer klagenden weinerlichen Redeweise, „nur daß die Ratenow viel stärker geworden ist und ich ganz weißes Haar bekommen habe; – wie doch manchmal die Vergangenheit lebendig wird! Das Lieschen, Deine Mutter, kam dann auch immer so an mein Bett, und einmal, das weiß ich ganz genau, da sagte sie auch: „Lottchen, Lottchen, mir ist so angst!“
„Tante, ich bitte Dich – ich fürchte mich!“ Die schlanke Mädchengestalt, die jetzt dicht neben dem Bette stand, schüttelte sich in nervösem Schauer.
„Dir ist nicht wohl, Else!“
„Nein; ich glaube, ich werde nächstens krank, Tante.“
„Armes Kind – das macht der Gram.“
„Ich gräme mich nicht, Tante!“
[128] „Ich weiß wohl, Kindchen; aber man thut es, ohne daß man es will. Wenn der Doctor morgen kommt, soll er Dir etwas geben, damit Du schlafen kannst; ich habe es Moritz schon gesagt. Oder denkst Du, ich merke es nicht, wenn Du in die Nacht hinein liest? Ich höre jedes Blatt umwenden. Gute Nacht, Herzenskind, schlafe! Früher konnte ich immer so lange aufbleiben, aber jetzt –“
Es waren Wochen vergangen, nun wollte es Frühling werden. Lange Zeit hatte ein häßlicher Ostwind geweht, der bei klarblauem Himmel und goldenem Sonnenscheine daher brauste und die Leute zum Spazierengehen verführte; wenn sie dann aber hinauskamen, so zauberte er ihnen Husten und Schnupfen an, daß sie sich enttäuscht zurückzogen und die Blumen bedauerten, die sich vorschnell hervorgewagt hatten. Nun aber war feuchtwarme duftende Lenzesluft gekommen, am Himmel jagten sich die grauen Wolken und Sonnenschein und Regen wechselten ab. An den Sträuchern sprangen überall die Knospen, im Burggarten war der Rasen mit Veilchen wie übersäet und auf dem Kirchhofe, auf dem Grabe, welches Else gehörte, blühten die blauen Crocus.
Sie hatte eben einen Kranz um das Kreuz geschlungen, das den Namen der Verstorbenen trug; es war heute der Sterbetag der Mutter, und der war ja auch ihr Geburtstag; ein Dornenreis in dem Lebenskranze des Mädchens, ein düsteres Band, das ihr Dasein mit dem Tode so eng verknüpfte. Sie saß da eine lange Weile auf der Steineinfassung des Grabes, und ihre Hände ordneten mechanisch an den Blättern des Kranzes, während ihre Augen über alle die Kreuze und Steine hinweg in’s Leere blickten.
Ihr Leben war zuletzt ein ewiges wortloses Kämpfen gewesen, mit sich, mit all den Anderen; sie besaß Keinen mehr, dem sie vertrauen konnte. Alle hatten sie Front gemacht gegen sie, selbst Moritz. Sie fühlte es, Moritz hatte irgend etwas gegen sie, er wich ihr förmlich aus, und Frieda war so schrecklich herzlos mitunter.
„Sie hat nie im Leben einen Kummer gehabt,“ sagte Tante Ratenow, „sie ist ein verzogenes Kind, und solchen darf man es nicht so hoch anrechnen, wie ja auch Kinderunarten einen Erwachsenen nicht beleidigen können.“
Tante Lott aber, die war plötzlich abgereist in ihr Stift. Eines Tages war sie mit verweinten Augen von Cousine Ratenow heraufgekommen und hatte ihren Koffer gepackt. Die gestrenge Cousine hatte nämlich gemeint, es sei praktischer für dieses Jahr, wenn Lott im Sommer zu Hause bleibe und jetzt ihre vorgeschriebenen acht Wochen in dem Kloster absäße. Ja, und was Tante Ratenow sagte, das mußte nun einmal geschehen.
Die außerordentliche Bedeutung des großen Kampfes bei Leipzig ist schon durch seine Bezeichnung als „Völkerschlacht“ ausgedrückt. Wie in unserem Kriege von 1870 und 1871 die Schlacht bei Sedan nicht der letzte Sieg über den Feind war und dennoch als höchster Ehrentag gefeiert wird, so war auch diese Schlacht zwar nicht der letzte Entscheidungskampf in den Feldzügen von 1813 bis 1815 gegen Frankreich, aber der glorreichste, denn durch den Sieg bei Leipzig wurde der „deutsche Befreiungskrieg“ erhoben zu dem Befreiungskriege aller Völker Europas von der Gewaltherrschaft des furchtbarsten Mannes seiner Zeit und aller Jahrhunderte. Das hat den Boden der Leipziger Ebene geweiht, denn –
„Wem auf der Welt wär’ es nicht kund,
Wie reich besä’t ist dieser Grund
Von aller Völker Todten!“
Und darum ist das Schlachtgebiet von Leipzig seit jenen Tagen ein Wallfahrtsziel für Tausende aus allen Nationen geworden und noch bis heute geblieben.
Wie war es aber möglich, daß für ein solches nationales Ereigniß weder Erz noch Stein zur Verherrlichung vorhanden zu sein schien? Fühlte die Kunst nicht den Beruf, auf der Stätte einer solchen That ein Denkmal zu erhöhen, der Größe des Siegs und der gefallenen Helden würdig? Fünfzig Jahre vergingen, ehe nur der Gedanke an ein Leipziger Schlachtdenkmal ausgesprochen wurde, und abermals über zwanzig Jahre mußten vergehen, um den im Jahre 1863 festlich gelegten Grundstein zu einem damals geplanten Denkmale spurlos wieder in den Schlachtfeldboden versinken zu lassen.
Wir brauchen die Ursachen einer solchen Möglichkeit nicht zu erörtern; sie lagen in den politischen Zuständen Deutschlands während der Bundestagszeit. Und nun die im Jahre 1863 noch so heiß pochende Sehnsucht nach einem einigen und mächtigen Vaterlande in großartigster Weise erfüllt worden, hat die Kunst näher liegende Aufgaben der Siegesverherrlichung gefunden, und die „Völkerschlacht“ glänzt abermals nur noch in der Geschichte.
So kam es, daß die Erinnerung an die große „Völkerschlacht“ sich nur mit wenigen vereinzelten Denkstätten begnügen muß. Selbst das Bild des weiten Schlachtfeldes ist ein anderes geworden, als es uns die Pläne von 1813 zeigen. Besonders durch Straßen, Canäle und Eisenbahnen sind wesentliche Veränderungen in die Landschaft gebracht; Häuserreihen stehen da, wo der Krieg lange Zeit noch seine Spuren hatte erkennen lassen; die Gegenwart hat keine Scheu mehr vor der Wegräumung von allem Alten, wenn es ihren Verkehrstrieb stört.
Um so aufmerksamer betrachten wir eine Stätte, die uns ein noch unangetastetes Bild jenes Kampfes vor Augen führt: das Schloß, welches unsere Illustration uns im Schmucke winterlicher Umgebung zeigt.
Südlich von Leipzig an den bewaldeten Ufern der Pleiße liegt das Dörfchen Dölitz, auch einer der Orte, wo Goethe seinem eigenen Geständnisse nach „so glücklich war und so viel litt“.
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[130] Heute ist freilich die Erinnerung an Goethe’s Anwesenheit in Dölitz, wo damals der berühmte Maler Oeser ein Landhaus besaß, verweht; nichts erinnert mehr an die Besuche des Dichters, die doch mehr als flüchtiger Art gewesen sein müssen. Von ganz anderer Bedeutung ist, wie wir bereits angedeutet haben, die Rolle, welche das Dölitzer Schloß in der deutschen Geschichte gespielt hat. Eine Tafel über dem alten Thore des Schlosses nennt den Tag, der für Dölitz so bedeutungsvoll geworden ist: es ist der 16. October 1813. Bis zum Jahre 1813 wird Dölitz in den Leipziger Chroniken kaum erwähnt; wenigstens nur im Zusammenhange mit gleichgültigen Vorgängen; eine Vergangenheit im Sinne des Geschichtsschreibers hatte weder das Dorf noch das Schloß Dölitz bis zum ersten Tage der großen Leipziger Schlacht. An diesem Tage aber wurde das Schloß der Schauplatz eines Kampfes von Oesterreichern gegen Polen und Franzosen, der an Heftigkeit vielleicht selbst die Blutscenen von Probstheida, Möckern und Schönefeld überbot. Die Spuren dieses Kampfes sind erhalten geblieben; der Thorweg, der vom Schloßhofe nach dem Dorfe führt, ist ein Unicum, die Mauer ist wie zerhackt von den Geschossen der Belagerer, von Flintenkugeln und Granaten, und wohin das stärkste Feuer gerichtet war, da mag man nicht eine Stelle finden, auf welche man die Hand legen könnte, ohne eine Kugelspur zu bedecken. Wie ein vom Sturme an die Mauer gepeitschter Regen, so müssen die Kugeln hier eingeschlagen haben, und man konnte da mit Recht von einem „Kugelregen“ sprechen. Es giebt wohl kaum ein zweites Bauwerk, an welchem Aehnliches zu sehen ist und das uns die Gewalt eines verzweifelten Kampfes so anschaulich macht. Dafür ist das Dölitzer Schloß freilich auch das einzige noch erhaltene Baudenkmal Leipzigs und der Umgegend, welches von der Erbitterung jener Octoberkämpfe Zeugniß ablegt. Ein Seitenstück dazu fiel leider mit dem alten Zollhause am Ausgange der Gerberstraße, einem mit preußischen Kugeln so reichlich bedeckten Baue, daß man die Erhaltung desselben wohl wünschen konnte. Eingemauerte Kanonenkugeln findet man übrigens noch hier und da an den älteren Vorstadthäusern.
Um zu erklären, warum das Schloß Dölitz für die Verbündeten wie für die Franzosen einen so besonderen Werth hatte, daß kein Preis für seinen Besitz zu hoch schien, müssen wir von den Dispositionen des Fürsten Schwarzenberg, des Oberstcommandirenden der verbündeten Heere, wenigstens das Folgende angeben. Die französische Armee, mit ihrem rechten Flügel bis zum Ufer der Pleiße im Süden Leipzigs reichend, dehnte sich in halbmondförmiger Stellung im Osten der Stadt aus. Gegen ihre Front sollten zwei russisch-preußische Corps in der Stärke von je etwa 50,000 Mann und von den beiden russischen Generalen Barclay de Tolly und Bennigsen commandirt den Hauptvorstoß machen; während dessen aber sollte eine österreichische Colonne unter dem Befehle des österreichischen Cavalleriegenerals Erbprinz von Hessen-Homburg, in der Stärke von 40,000 Mann, vom Süden her über Dölitz, Lösnig und Connewitz vordringen, den Feind in der hinteren Flanke fassen und ihm den Rückzug abschneiden.
Gegen diese Umgehungsbewegung hatte jedoch Napoleon wirksame Maßregeln getroffen; der hier commandirende polnische Fürst Poniatowski wies die Versuche, bei Connewitz oder Lösnig den Uebergang über die Pleiße zu erzwingen, um so erfolgreicher zurück, als seinen Truppen das dichte Gebüsch der Pleißenufer zu statten kam. Nach sehr erheblichen Verlusten mußte der Gedanke, bei einem der beiden erwähnten Dörfer den Uebergang durchzusetzen, aufgegeben werden, und so befahl Fürst Schwarzenberg, die Angriffe gegen die Connewitzer Brücke nur zum Schein fortzusetzen, den Hauptangriff aber gegen Dölitz zu richten, um den Franzosen in die Flanke zu kommen. Das Schloß Dölitz lag auf dem linken, das Dorf auf dem rechten Ufer der Pleiße; der Mühlgraben floß durch den Hof hindurch, während die Pleiße, über welche die hölzerne Brücke vom Schloßthor aus führte, das Schloß und die Wirthschaftsgebäude auf der Ostseite umgab. Zwei österreichische Compagnien stürmten das von den Franzosen schwach besetzte Schloß, überwältigten die Vertheidiger und warfen sie sowohl über die Brücke des Mühlgrabens als auch über die Pleißenbrücke zurück; aber das Schloß war schwerer zu behaupten, als es zu erobern gewesen war. Die zurückgeworfenen Feinde sammelten sich und versuchten, durch zwei Grenadierbataillone verstärkt, wieder in dasselbe einzudringen.
Die vor dem Thor befindliche Pleißenbrücke vertheidigte der österreichische Hauptmann Penzt; nahe davor standen am jenseitigen Ufer die polnischen Tirailleurs theils hinter dicken Bäumen, theils in den gegenüberliegenden Häusern und beschossen Thor und Brücke mit einer bewunderungswürdigen Ausdauer, während die in den Dorfgassen und auf den hinter Dölitz gelegenen Höhen des Kellerberges aufgefahrenen polnischen Geschütze das Schloß mit Granaten und Kartätschen überschütteten. Außerdem war die nahe gelegene Mühle, sowie die buschige Aue rechts und links des Schlosses von zahlreichen französischen Schützen besetzt, sodaß die Oesterreicher ebenso wenig vorwärts zu dringen vermochten, wie die Franzosen und Polen das Schloß überwältigen konnten.
Selbst die hereinbrechende Nacht, die fast auf der ganzen Schlachtlinie das Gefecht zum Schweigen brachte, machte dem Kampfe um das Schloß Dölitz nicht sogleich ein Ende. In völliger Dunkelheit, Abends nach acht Uhr, griffen die Belagerer von Neuem an, indem sie, nachdem ein Parlamentär die Besatzung vergeblich zur Uebergabe aufgefordert hatte, das Geschützfeuer wieder eröffneten. Die Oesterreicher konnten indessen nicht durch die Heftigkeit des Feuers bestimmt werden, die mit so schweren Opfern behauptete Position aufzugeben; wohl aber ging in der Nacht das Dorf in Flammen auf. Gegen zwanzig Häuser und Güter wurden in Asche gelegt, und was das Feuer an Gebäuden verschont ließ, glich in den folgenden Tagen Lazarethen eher als Wohnhäusern. Mit welcher Erbitterung und Ausdauer von beiden Seiten gekämpft worden war, ergiebt sich aus der Thatsache, daß beiden kämpfenden Theilen die Munition ausging. Die Oesterreicher im Schlosse hatten schon am Tage ihre Munition verschossen und mußten durch neue Compagnien abgelöst werden; Fürst Poniatowski aber meldete in der Nacht dem Kaiser Napoleon: „Aller Schießbedarf ist verbraucht, sämmtliche Infanteriepatronen sind verschossen, die Patronentaschen geleert und alle Munitionswagen leer.“
Man weiß, daß die Resultate dieses Schlachttages zu den von beiden Seiten gebrachten Opfern in keinem Verhältniß standen. Diese Opfer waren furchtbare; denn einmal hatte Napoleon bis dahin in der Kriegsgeschichte unerhörte Massenangriffe der Cavallerie und Artillerie ausführen lassen – die große Attacke des Königs Murat mit achttausend Reitern gegen Güldengossa, das concentrirte Feuer von mehr als hundert Geschützen auf die Russen zwischen Wachau und Liebertwolkwitz – andererseits war im Einzelkampfe, Mann gegen Mann, mit der größten Erbitterung gekämpft worden. War es doch stellenweise den Kämpfern nicht möglich gewesen, die Leichen der Gefallenen zu überschreiten. Diesen enormen Verlusten gegenüber fehlte der sichtbare Erfolg; kein Theil war besiegt, wenig Terrain von beiden Seiten gewonnen. Und trotzdem war das Spiel für Napoleon verloren; wurde auch am 18. October so erbittert gekämpft, daß dieser Tag für den Hauptschlachttag der Leipziger Kämpfe gilt, Napoleon kämpfte doch nur noch für seinen Rückzug, der am 19. begann und auch das Dorf Dölitz ein für alle Mal von den Franzosen säuberte.
Das Initialbild unseres Artikels stellt jenen hartumstrittenen Thorweg dar, welcher vom Dorfe Dölitz in den Hof des Schlosses führt und gegen den sich in erster Linie das Feuer der Franzosen und Polen richtete. Die Wirthschaftsgebäude umgeben den Schloßhof von drei Seiten, während man, denselben überschreitend, zum Herrenhause gelangt, hinter welchem sich der Park ausdehnt. Den vortheilhaftesten Blick auf das Herrenhaus gewinnt man ohne Zweifel vom Park aus, und unser Zeichner hat seinen Platz so glücklich gewählt, daß sich aus der Aufnahme des Schlosses ein anziehendes Bild ergeben hat. Hier im Parke befindet sich auch ein Heldengrab aus den Tagen der Schlacht. Ein Rasenhügel, von einer Eiche beschattet, bezeichnet die letzte Ruhestätte eines hohen österreichischen Stabsofficiers, der schwer verwundet vom Schlachtfelde auf den Dölitzer Herrenhof getragen wurde und hier seinen Wunden erlag. Aber auch Fürst Poniatowski sollte bekanntlich nicht nach seiner Heimath zurückkehren; er fand seinen Tod bei dem Versuche, die Elster am Frankfurter Thor zu durchreiten, das vornehmste und von Freund und Feind aufrichtig betrauerte Opfer jener Brückensprengung, welche der großen Leipziger Schlacht einen so grauenvollen Abschluß gab.
Die alten Herren, die manchmal auf den Masken-Redouten unserer Tage erscheinen, werden nicht müde zu versichern, daß die Maskeraden dem Verfalle anheim gegeben seien, daß Alles, was dieselben heute an Geist und Witz bieten, nichts bedeute gegen den Frohsinn, den Uebermuth, die heitere Lebensfreude, deren Stempel alle Maskeraden früherer Tage an sich trugen. Sie mögen Recht haben, aber das Eine ist gewiß: wenn die Maskenbälle dem Verfalle entgegengehen, so wird derselbe sicher kein dauernder sein. Die Geschichte der Maskeraden beweist ja, daß „Epochen des Niedergangs“ in denselben häufig waren, und dennoch blühte immer wieder neues Leben aus verschlissenen Dominogewändern, verblaßten Phantasiecostümen und verstaubten Harlekinslarven auf. Die nie versiegende Lust zu heiteren Intriguen, die harmlosen und doch amüsanten Abenteuer, zu welchen die Maskeraden Anlaß geben, die lustigen Quiproquos auf den Bällen, das Vergnügen an den Vorbereitungen zum Mummenschanz erwiesen sich allezeit wieder als mächtige Hebel, diese angenehmen Vergnügungen in Schwung zu bringen.
Es ist eigenthümlich, daß die alten Griechen, welche die Maske erfanden, die Maskeraden im privaten Leben nicht kannten. Die Larve war nur das Symbol der theatralischen Künste und stand ausschließlich in ihrem Dienste. Die Maskeraden, als gesellige Unterhaltungen, wurden von den alten Römern eingeführt, erfreuten sich bald großer Beliebtheit und zur Zeit der Saturnalien[1] auch eines besonderen Cultus. Italien blieb denn auch bis heute das Land, welches das lebhafteste Maskentreiben besaß und in welchem es den größten Maskenunfug gab. Es ist bekannt, daß der Letztere schon zur altrömischen Kaiserzeit große Dimensionen annahm. Kaiser Nero lief selbst in der Nacht maskirt auf den Straßen umher, verhöhnte durch Costüm, Geberden und Rede den Ernst der Senatoren und beschimpfte die Frauen, die ihm in den Weg kamen.
Die Maskenspiele geriethen denn auch bald in Verruf, vielleicht auch in „Verfall“. Erst die prunkliebenden italienischen Fürsten der Renaissance verhalfen ihnen zu neuem Glanze, indem sie prächtige Maskenaufzüge und heitere Maskenbälle veranstalteten. Im Laufe der Zeiten gewannen denn auch der Carneval in Venedig und der Carneval in Rom, den Goethe mit so viel Vergnügen schilderte, große Berühmtheit. Freilich blieb auch dieses Maskentreiben nicht frei von Unfug. Es kam, besonders in Venedig, so weit, daß die Parloirs oder Sprechzimmer der Klöster zum Rendezvousorte der übermüthigen Masken wurden; je lächerlicher und ausgelassener sie waren, desto besser wurden sie empfangen. Die jungen Nobili waren Wochen lang vor dem Carneval bemüht, die abenteuerlichsten und extravagantesten Maskencostüme zu ersinnen, und zogen dann in großen Schaaren in die Klöster, um die Nonnen durch tausend lustige Geschichten zu zerstreuen und durch ihre originelle Erscheinung heiter zu stimmen. Im Museum Correr in Venedig ist ein Gemälde von Pietro Longhi zu sehen, welches eine solche Carnevalsscene im Kloster darstellt – auf diesem Gemälde tragen auch die Nonnen Larven vor dem Gesichte. Man erzählt, daß es einer tugendhaften Jungfrau, der Aebtissin des Klosters von Santa Croce, Eufemia Giustiniani, durch ihr edles Beispiel und ihre frommen Ermahnungen gelungen sei, diesem unstatthaften Treiben in den venetianischcn Klöstern ein Ende zu machen. Sie wurde dafür in die Reihe der Heiligen aufgenommen. In der schönen Kirche der Santa Maria del Orto werden den Fremden außer den Gemälden Tizian’s und Tintoretto’s in der Sacristei auch zwei verblaßte Portraits der „Beata Eufemia, abbatissa Sanctae Crucis“, wie die Inschrift lautet, gezeigt und der Sacristan versäumt niemals, die Thaten der Glückseligen zu rühmen. Sie waren jedenfalls besser als jene ihrer Portraitisten.
Das war indessen nicht der einzige Unfug, zu dem das Maskentreiben Anlaß gab. Es geschah in Rom, daß die weltlich gesinnten Frauen der ewigen Stadt in höchst ungehörigen Toiletten sogar in den Kirchen erschienen – in decolletirten Kleidern und mit Larven vor den schönen Gesichtchen. Die Mode, den Nacken entblößt zu zeigen, war eben damals – in der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts – aufgekommen und die Damen nahmen keinen Anstand, auf diese Weise auch in den Kirchen zu erscheinen. Damals erregte der Fall bei allen Frommen großen Anstoß. Ich besitze das Büchlein eines frommen Abbé’s aus jener Zeit, das ausschließlich gegen den Toilettenunfug in den Kirchen gerichtet ist. „Nicht nur“ – schreibt der fromme Mann – „daß man in allen Privathäusern, auf allen Bällen, in den Gassen, auf den Promenaden decolletirte und verlarvte Frauen sieht, so giebt es sogar eine Anzahl, die mit erschreckender Verwogenheit Gott sogar am Fuße des Altars zu beleidigen wagt. Die Gerichtshöfe der Pönitenz, die von den Thränen dieser weltlichen Frauen benetzt werden sollten, werden durch ihre Frivolität profanirt.“
Als der Unfug mit den Larven in den Gotteshäusern immer mehr zunahm, sah sich Papst Innocenz XI. (am 30. November 1683) veranlaßt, in einem besonderen Hirtenbriefe die Frauen, welche das Gotteshaus mit Larven vor dem Gesichte betreten sollten, mit allen kanonischen Strafen zu bedrohen. Nachdem aber die Androhung des Bannstrahls nur von geringer Wirkung war, legte sich auch die päpstliche Polizei in’s Mittel und verhängte für jede Entheiligung der Gotteshäuser durch frivolen Mummenschanz hohe Geldstrafen. Wenn fürder eine Dame eine Larve vor das Gesichtchen nehmen wollte, so mußte sie sich für das Incognito ein anderes Terrain erwählen.
Die Maskenbälle, wie sie an den Höfen der italienischen Fürsten und später der französischen Könige – Katharina von Medicis verpflanzte die Masken-Belustigungen zuerst auf französischen Boden – in Mode waren, hatten nicht immer denselben Charakter. Man unterschied vornehmlich drei Arten von Maskeraden.
Auf den Maskenbällen der allerersten Sorte war der Gebrauch, daß einige „Quadrillen“, gebildet aus vier, acht, zwölf oder sechszehn Personen in bestimmten Verkleidungen, zusammen auf einem Balle erschienen, der irgendwo veranstaltet wurde. Diese Masken erfreuten sich der größten Freiheit und waren keinem Gesetze unterworfen.
Sie hatten auch das Recht, auf den fremden Bällen von der Musikcapelle die Weisen aufspielen zu lassen, die ihnen angenehm schienen, um die mit ihren Verkleidungen übereinstimmenden Charaktertänze ausführen zu können. Auf einem Balle, den eine Herzogin von Berry im Januar 1393 in Paris veranstaltete und auf welchem Karl VI. als der Anführer von fünfzehn „Wilden“ erschien, wäre der König beinahe verbrannt, indem sein leichtes Federngewand, sowie das einiger seiner Begleiter Feuer fing. Der König wurde nur durch die Aufopferung der Letzteren gerettet, von welchen zwei an den erhaltenen Brandwunden starben. Eine in der Geschichte der Maskenbälle berühmte „Quadrille“ war die der „Zauberer“ Heinrich’s IV., welche sich durch ihre charakteristische, besonders prächtige Costümirung und ihre ausgesuchten Tänze auszeichnete.
Die zweite Art der Maskenbälle bestand in der regelrechten Darstellung eines Stoffes der Fabel oder der Geschichte. Man bildete zwei und auch mehr Quadrillen zur Aufführung historischer Vorgänge oder poetischer Märchen und tanzte nach einer Musik, welche im Einklange mit den gewählten Sujets stand. Waren die Stoffe weniger bekannt, so wurde zu den Gruppentänzen oft auch ein erklärender Text, in das Gewand einer poetischen Erzählung gekleidet, vorgetragen. Es waren das gewissermaßen Maskenballete, die besonders in Frankreich großen Anklang fanden. Eine ganze Reihe von französischen Balletdichtern wie Todelle, Passerot, Baif, Ronsard, Benserade und Andere, bemühten sich, durch solche Compositionen den Beifall des Hofes zu gewinnen, der sie aufführte. Schließlich gab es noch eine dritte Art von Maskeraden, bei welchen der Tanz durch den Gesang ersetzt wurde. Es waren das Maskensingspiele, wie Benserade und auch Lully einige für den Bedarf des Hofes componirten.
Alle diese Maskenspiele waren an den Höfen der Könige und Fürsten sehr beliebt, weil sie Geist und Geschmack erforderten und der Galanterie ihres Zeitalters freundlich entgegenkamen. [132] Wie aus Italien nach Spanien und Frankreich, so gingen sie aus Frankreich nach Deutschland und England über, wo sie überall an den Höfen den Fürsten Gelegenheit boten, ihre Prachtliebe zu bethätigen. Heinrich IV., der jede Art von Zerstreuungen liebte, war auch ein großer Freund des Tanzes und der Maskeraden. In den einundzwanzig Jahren von 1589 bis 1610 wurden am französischen Hofe nicht weniger als achtzig große Ballete aufgeführt, und unzählig sind die Maskeraden und gewöhnlichen Tanzunterhaltungen, die außerdem stattfanden.
Es war gerade während einer großen Maskerade, als man dem Könige die Nachricht von der Eroberung Amiens’ durch die Spanier brachte. Die Maskerade stellte die Fürstenzusammenkunft (den Friedensschluß) von Thouars dar, welche dem Könige Philipp II. von Frankreich, genannt Augustus, die Normandie, die Bretagne und Anjou eingebracht hatte. Zu dem pompösen Auftreten des Königs bildete man ganze Damenlegionen, welche junge Ritter darzustellen hatten und in prächtigen Gewändern, mit kostbaren Waffen, in seinem Gefolge erschienen. Diese anziehende Schaar wurde von der Schönsten am Hofe, Gabrielle d’Estrées, angeführt. Als nun Heinrich die schlimme Kunde vom Verluste Amiens’ erhielt, rief er aus: „Das ist ein Schlag des Himmels! Nun haben wir genug den König von Frankreich gespielt und wollen wieder der König von Navarra sein.“ Dann wandte er sich an Gabrielle und fügte hinzu „Meine schöne Herrin, wir müssen unsere Waffen niederlegen und zu Pferde steigen, um einen andern Krieg zu führen.“ Und trotz der Thränen der schönen Gabrielle wurde der Maskenball abgebrochen. Heinrich sammelte noch in derselben Nacht Truppen und brach, begleitet von den Edelleuten seines Hofes, gegen Amiens auf.
Es war während der Regentschaft Philipp’s von Orleans, daß die Maskenfeste in Frankreich auf die breitere Basis der Volksbelustigungen gelegt wurden. Merkwürdiger Weise gab ein Mönch den Anlaß dazu. Derselbe arbeitete nämlich ein großes Project behufs der Abhaltung von Maskenbällen im Pariser Opernhause aus und erfand, um das Project dem Regenten noch annehmbarer zu machen, eine besondere Maschine, durch welche in wenigen Stunden der Zuschauerraum und das Orchester des Opernhauses auf das Niveau der Bühne gehoben werden konnten. Der vergnügungssüchtige Herzog von Orleans genehmigte das Project, und bald erschien eine besondere Ordonnanz der Regentschaft, welche die Abhaltung von Maskenbällen im Opernhause dreimal in der Woche gestattete. Die Maschine des industriellen Mönches aber, der sich durch die Ausführung seines Projectes bereichert haben soll – vielleicht war er gar der geheime Associe des Opernhauspächters – ist noch heute, wenn auch bedeutend verbessert, im Gebrauche.
Die höfischen Maskenfeste gingen dabei mit den Volksbelustigungen Hand in Hand, und noch in unserem Jahrhunderte feierte Prinz Carneval in Frankreich große Triumphe. Als Walter Scott Paris besuchte, veranstaltete die Herzogin von Berry zu seiner Huldigung einen Maskenball, auf dem alle die Romanheldinnen des berühmten Erzählers zu sehen waren.
Die graziöse „Kartenquadrille“ unter Louis Philipp wird in den Annalen des Carnevals unvergeßlich bleiben. Die Prinzen des Hauses erschienen als „Könige“ und die vornehmsten Damen des Hofes als ihre „Königinnen“.
Die schöne Kaiserin Eugenie zauberte später sogar den Olymp auf die Erde, und wer seine decolletirten Göttinnen sehen wollte, konnte sie am kaiserlichen Hofe bewundern. Der „Olymp“ der Kaiserin beschäftigte das Volk von Frankreich zu seiner Zeit vielleicht mehr, als die Noten des Kaisers in der Orientfrage.
Die Opernbälle popularisirten die Maskeraden in Frankreich, wo sich lange nur der Hof und die Großen des Reiches damit vergnügt hatten. In Italien und Spanien waren alle Masken-Arrangements längst zu beliebten Belustigungen des Volkes geworden. – Auch in Deutschland hatten sich die Maskeraden als Volksbelustigungen im Nachklange der Darstellungen altheidnischer Götterumzüge längst ganz selbstständig entwickelt, die „Narrenfeste“ am Faschingsdienstage waren überall im Schwung, und in München, Aachen, Düsseldorf, Köln, Mainz etc. wurden die Maskenaufzüge so pompös, daß sie als ebenso glänzende wie wohlgelungene Volksfeste bezeichnet werden konnten. Vieles von diesen lustigen Arrangements hat sich bis auf unsere Tage erhalten, und es muß nur die Welt wieder ein wenig heiterer und sorgenfreier werden, damit sie den alten Glanz ganz und gar wieder erlangen und Diejenigen Lügen gestraft werden, welche den vollständigen Verfall der Maskenfeste für eine nahe Zukunft voraussagen.
Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.
Meine Mutter ist jetzt eine Matrone von 87 Jahren[2] und ihr Geist hat durch das Alter nicht gelitten. Ueber meine wirkliche Denkart hat sie sich nie eine Herrschaft angemaßt und war für mich immer die Schonung und Liebe selbst.
Ihr Glauben war ein strenger Deismus, der ihrer vorwaltenden Vernunftrichtung ganz angemessen. Sie war eine Schülerinn Rousseaus, hatte dessen „Emile“ gelesen, säugte selbst ihre Kinder,[3] und Erziehungswesen war ihr Steckenpferd. Sie selbst hatte eine gelehrte Erziehung genossen und war die Studiengefährtin eines Bruders gewesen, der ein ausgezeichneter Arzt ward, aber früh starb. Schon als ganz junges Mädchen mußte sie ihrem Vater die lateinischen Dissertazionen und sonstige gelehrte Schriften vorlesen, wobei sie oft den Alten durch ihre Fragen in Erstaunen setzte.
Ihre Vernunft und ihre Empfindung war die Gesundheit selbst, und nicht von ihr erbte ich den Sinn für das Phantastische und Romantik. Sie hatte, wie ich schon erwähnt, eine Angst vor Poesie, entriß mir jeden Roman, den sie in meinen Händen fand, erlaubte mir keinen Besuch des Schauspiels, versagte mir alle Theilnahme an Volksspielen, überwachte meinen Umgang, schalt die Mägde, welche in meiner Gegenwart Gespenstergeschichten erzählten, kurz, sie that alles Mögliche, um Aberglauben und Poesie von mir zu entfernen.
Sie war sparsam, aber nur in Bezug auf ihre eigne Person; für das Vergnügen Andrer konnte sie verschwenderisch seyn, und da sie das Geld nicht liebte sondern nur schätzte, schenkte sie mit leichter Hand und setzte mich oft durch ihre Wohlthätigkeit und Freigebigkeit in Erstaunen.
Welche Aufopferung bewies sie dem Sohne, dem sie in schwieriger Zeit nicht bloß das Programm seiner Studien, sondern auch die Mittel dazu lieferte! Als ich die Universität bezog, waren die Geschäfte meines Vaters in sehr traurigem Zustand, und meine Mutter verkaufte ihren Schmuck, Halsband und Ohrringe von großem Werthe, um mir das Auskommen für die ersten Universitätsjahre zu sichern.
Ich war übrigens nicht der erste in unserer Familie, der auf der Universität Edelsteine aufgegessen und Perlen verschluckt hatte. Der Vater meiner Mutter, wie diese mir einst erzählte, erprobte dasselbe Kunststück. Die Juwelen, welche das Gebetbuch seiner verstorbenen Mutter verzierten, mußten die Kosten seines Aufenthalts auf der Universität bestreiten, als sein Vater, der alte Lazarus de Geldern[4], durch einen Successionsprozeß mit einer verheiratheten Schwester in große Armuth gerathen war, er, der von seinem Vater ein Vermögen geerbt hatte, von dessen Größe mir eine alte Großmuhme so viel Wunderdinge erzählte.
Das klang dem Knaben immer wie Märchen von Tausend und einer Nacht, wenn die Alte von den großen Palästen und den persischen Tapeten und dem massiven Gold- und Silbergeschirr erzählte, die der gute Mann, der am Hofe des Kurfürsten und der Kurfürstin[5] so viel Ehren genoß, so kläglich einbüßte. Sein Haus in der Stadt war das große Hotel in der Rheinstraße; das jetzige Krankenhaus in der Neustadt gehörte ihm ebenfalls, sowie ein Schloß bei Gravenberg, und am Ende hatte er kaum, wo er sein Haupt hinlegen konnte.
Eine Geschichte, die ein Seitenstück zu der obigen bildet, will ich hier einweben, da sie die verunglimpfte Mutter eines meiner Kollegen in der öffentlichen Meinung rehabilitiren dürfte. Ich las nemlich einmal in der Biographie des armen Dietrich Grabbe, daß das Laster des Trunks, woran derselbe zu Grunde gegangen, ihm durch seine eigne Mutter frühe eingepflanzt worden sei, indem sie dem Knaben, ja dem Kinde Branntewein zu trinken gegeben habe. Diese Anklage, die der Herausgeber der Biographie aus dem Munde feindseliger Verwandter erfahren, scheint grundfalsch, wenn ich mich der Worte erinnere, womit der selige Grabbe mehrmals von seiner Mutter sprach, die ihn oft gegen „dat Suppen“ mit den nachdrücklichsten Worten verwarnte.
Sie war eine rohe Dame, die Frau eines Gefängnißwärters, und wenn sie ihren jungen Wolf-Dietrich karessirte, mag sie ihn wohl manchmal mit den Tatzen einer Wölfinn auch ein bischen gekratzt haben. Aber sie hatte doch ein ächtes Mutterherz und bewährte solches, als ihr Sohn nach Berlin reiste, um dort zu studiren.
Beim Abschied, erzählte mir Grabbe, drückte sie ihm ein Paquet in die Hand, worin, weich umwickelt mit Baumwolle, sich ein halb Dutzend silberne Löffel nebst sechs dito kleinen Kaffelöffeln und ein großer dito Potagelöffel befand, ein stolzer Hausschatz, dessen die Frauen aus dem Volke sich nie ohne Herzbluten entäußern, da sie gleichsam eine silberne Dekorazion sind, wodurch sie sich von dem gewöhnlichen zinnernen Pöbel zu unterscheiden glauben. Als ich Grabbe kennen lernte, hatte er bereits den Potagelöffel, den Goliath, wie er ihn nannte, aufgezehrt. Befragte ich ihn manchmal, wie es ihm gehe, antwortete er lakonisch: ich bin an meinem dritten Löffel, oder, ich bin an meinem vierten Löffel. Die Großen gehen dahin, seufzte er einst, und es wird sehr schmale Bissen geben, wenn die Kleinen, die Kaffelöffelchen an die Reihe kommen, und wenn diese dahin sind, gibts gar keine Bissen mehr.
Leider hatte er Recht und je weniger er zu essen hatte, desto mehr legte er sich aufs Trinken und ward ein Trunkenbold. Anfangs Elend und später häuslicher Gram trieben den Unglücklichen, im Rausche Erheiterung oder Vergessenheit zu suchen, und zuletzt mochte er wohl zur Flasche gegriffen haben, wie andere zur Pistole, um dem Jammerthum ein Ende zu machen. Glauben Sie mir, sagte mir einst ein naiver westphälischer Landsmann Grabbes, der konnte viel vertragen und wäre nicht gestorben weil er trank, sondern er trank weil er sterben wollte; er starb durch Selbsttrunk.
Obige Ehrenrettung einer Mutter ist gewiß nie am unrechten Platz; ich versäumte bis jetzt, sie zur Sprache zu bringen, [134] da ich sie in einer Charaktristik Grabbes aufzeichnen wollte[6]; diese kam nie zu Stande und auch in meinem Buche del'Allemagne konnte ich Grabbes nur flüchtig erwähnen.
Obige Notiz ist mehr an den deutschen als an den französischen Leser gerichtet, und für letzteren will ich hier nur bemerken, daß besagter Dietrich Grabbe einer der größten deutschen Dichter war und von allen unseren dramatischen Autoren wohl als derjenige genannt werden darf, der die meiste Verwandtschaft mit Shakespear hat. Er mag weniger Saiten auf seiner Leyer haben als Andre, die dadurch ihn vielleicht überragen, aber die Saiten, die er besitzt, haben einen Klang, der nur bei dem großen Britten gefunden wird. Er hat dieselben Plötzlichkeiten, dieselben Naturlaute, womit uns Shakespear erschreckt, erschüttert, entzückt.
Aber alle seine Vorzüge sind verdunkelt durch eine Geschmacklosigkeit, einen Cynismus und eine Ausgelassenheit, die das Tollste und Abscheulichste überbietet, das je ein Gehirn zu Tage gefördert. Es ist aber nicht Krankheit, etwa Fieber oder Blödsinn, was dergleichen hervorbrachte, sondern eine geistige Intoxikation[7] des Genies. Wie Plato den Diogenes sehr treffend einen wahnsinnigen Sokrates nannte, so könnte man unseren Grabbe leider mit doppeltem Rechte einen betrunkenen Shakespear nennen.
In seinen gedruckten Dramen sind jene Monstruositäten sehr gemildert, sie befanden sich aber grauenhaft grell in dem Manuskript seines „Gothland“, eine Tragödie, die er mir einst, als er mir noch ganz unbekannt war, überreichte[8] oder vielmehr vor die Füße schmiß mit den Worten: ich wollte wissen was an mir sey, und da habe ich dieses Manuskript dem Professor Gubitz gebracht, der darüber den Kopf geschüttelt und um meiner los zu werden, mich an Sie verwies, der eben so tolle Grillen im Kopfe trüge wie ich und mich daher weit besser verstünde, – hier ist nun der Bulk!
Nach diesen Worten, ohne Antwort zu erwarten, troddelte der närrische Kauz wieder fort, und da ich eben zu Frau von Varnhagen ging, nahm ich das Manuskript mit, um ihr den Erstling eines Dichters zu verschaffen; denn ich hatte an den wenigen Stellen, die ich las, schon gemerkt, daß hier ein Dichter war.
Wir erkennen das poetische Wild schon am Geruch. Aber der Geruch war diesmal zu stark für weibliche Nerven, und spät, schon gegen Mitternacht, ließ mich Frau von Varnhagen rufen und beschwor mich um Gotteswillen, das entsetzliche Manuskript wieder zurückzunehmen, da sie nicht schlafen könne, solange sich dasselbe noch im Hause befände.
Die Ehrenrettung einer Mutter ist überall an ihrem Platze, und der fühlende Leser wird die oben mitgetheilten Aeußerungen Grabbes über die arme Frau, die ihn zur Welt gebracht, nicht als eine müßige Abschweifung betrachten.
Jetzt aber, nachdem ich mich einer Pflicht der Pietät gegen einen unglücklichen Dichter entledigt habe, will ich wieder zu meiner eigenen Mutter und ihrer Sippschaft zurückkehren, in weiterer Besprechung des Einflusses, der von dieser Seite auf meine geistige Bildung ausgeübt wurde.
- ↑ Das römische Sonnenwend- oder Neujahrsfest, eingesetzt zum Andenken an den glücklichen Naturzustand der Menschen. Während des Festes, das zuletzt drei Tage, vom 17. bis 19. December, dauerte, herrschte überall in Rom die ungezügelteste Freiheit; den Gefangenen wurden die Ketten abgenommen, Sclaven wurden von ihren Herren bedient, die Wohlhabenden hielten offene Tafel etc.
- ↑ Dies muß unter allen Umständen auf einem Schreibfehler oder auf einem Irrthum über das wirkliche Alter seiner Mutter beruhen, denn Heine’s Mutter, Betty Heine, ist geboren am 27. November 1771; sie war also erst im Jahre 1858 87 Jahre alt, während Heine schon 1856 gestorben. Die lange Trennung vom mütterlichen Hause – er war zuletzt im Jahre 1844 in Hamburg gewesen – erklärt seine Unkenntniß des richtigen Alters seiner Mutter. Gestorben ist diese 1859, nach dem Tode ihres großen Sohnes.
- ↑ Rousseau hatte in seinem „Emile“ (oder „Ueber die Erziehung“) das Säugen der Kinder durch die Mütter auf’s Dringendste empfohlen, und seinem Einflusse ist es zuzuschreiben, daß diese Erfüllung einer selbstverständlichen Mutterpflicht auch in den höheren Ständen zur Gewohnheit wurde.
- ↑ In diesen Aufzeichnungen giebt Heine insofern der Wahrheit die Ehre, als er seinen mütterlichen Ahnen kein „von“, sondern nur ein deutbares und dehnbares „de“ verleiht; dagegen hat er in der Ueberschrift eines schönen Gedichtes an seine Mutter diese „geborene von Geldern“ genannt.
- ↑ Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz, der Begründer der Malerakademie in Düsseldorf.
- ↑ Nach einer brieflichen Mittheilung an August Lewald hatte Heine sie 1837 begonnen.
- ↑ Vergiftung, Trunkenheit.
- ↑ Im Jahre 1822.
Dschapei.
Solange die Beiden aßen, sprachen sie kein Wort mehr. Wenn immer Nannei mit dem Löffel in die Pfanne fuhr, stocherte sie eine Weile darin umher, als suche sie sich einen recht schönen Bissen aus; doch that sie das nur, um bei diesem Manöver unvermerkt die besseren, röschen Bröckchen auf Festei’s Seite hinüber zu schieben. Dieser aber rührte fast vor jedem neuen Bissen den Schmarren durch einander, um dieselben guten Bröckchen wieder in Nannei’s Pfannenhälfte zu bringen.
So kam es, daß schließlich alle Beide satt waren, während das Beste noch in der Pfanne lag. Nun – da konnte jetzt der Teckel seine Freude daran haben; der schlapperte und schmatzte die ihm gereichten Schmarrenreste in sich hinein – das war nur so ein Hui!
Festei zog jetzt sein Pfeifchen hervor, und Nannei reichte ihm einen Spahn, den sie an den glühenden Herdkohlen entzündet hatte; dann steckte sie, um die Stube dürftig zu erleuchten, eine an der Wand befestigte Kienfackel in Brand und machte sich über die Säuberung des Geschirres.
Dazu plauderte sie, allermeist von den mannigfachen Sorgen ihres Almhaushaltes, und kam hiebei natürlicher Weise wieder auf die Angst zu sprechen, die sie am verwichenen Abende um ihr Dschapei ausgestanden hatte.
„Ja – weißt –“ sagte sie, „ganz g’wiß hab’ ich schon g’meint, es is mir g’stohlen worden. Da is gestern z’ Mittag einer da g’wesen, so a saubrer Herr, aus Saalfelden is er her – aber kaum daß er da war, is a Grenzer[1] ’kommen, der meine Küh’ hat aufschreiben wollen – und da hat er sich nachher ’druckt, der ander’, g’rad als ob er kein guts G’wissen net g’habt hätt’. Und weißt, wie er ’kommen is, da hat er sein’ Joppen so umg’hängt g’habt über d’ Achseln, und die hat er da über’s Bankl g’legt, solang’ er g’sessen is. Ja – und wie er nachher fort war, hab’ ich amal so zufällig hin g’schaut am Boden – ich sag’ Dir’s – da is alles verstreut g’wesen mit Salz, das blos aus demselbigen seiner Joppen hat g’fallen sein können. Und weßwegen hätt’ der a Salz bei ihm, wann er net d’ Schaf’ damit locken möcht’ – weißt – zum Stehlen, der schlechte Kerl!“
„Kann schon sein! Kennst ihn Du ’leicht?“
„Kennen? Ja – und na! Weißt, ich hab’ ihn halt zweimal g’sehen jetzt! ’s erste Mal, da hat er mich ang’sprochen, wie wir auf’trieben haben –“
„Gelt – drunten im Wimbachthal beim Futterstadl?“ unterbrach Festei das Mädchen mit hastigem Worte. „So, so – der is! Der!“
„Ja Festei – woher weißt denn Du das?“ frug Nannei verwundert.
„No – weil ich’s halt g’sehen hab’. Ich bin drin in die Buschen g’standen, und da bist nachher mit ihm vorbei’gangen an mir. Und weißt, wie ich Dich da so g’sehen hab’ – und den Andern – weißt – da hab’ ich mich fein recht g’ärgert.“
„Ja was D’ sagst! G’ärgert hast Dich! Ja weßwegen denn? Han? Warum denn?“
„No – weißt – ich hab’ – mir is – no, der Mensch halt –“
„Gelt, Festei – hast es ’leicht g’sehen oder g’hört, was das für a kecker, unverschämter Mensch g’wesen is!“
„Ja, ja! Wie schon weiter weg g’wesen bist – da – da hab’ ich schon g’merkt, daß er Dir z’wider is. Aber im Anfang, wie ich ihn so reden hab’ hören – da – weißt, so viel gern wär’ ich ’naus’gangen am Weg – aber – aber ich hab’ g’meint, ich könnt’ Dir selber ung’legen kommen – weißt – weil er gar so scharmierlich g’wesen is zu Dir, hat’s halt g’rad ausg’schaut, als – als ob er Dein Schatz wär’.“
„Aber Festei!“ fuhr Nannei auf, und die Thränen schossen ihr in die Augen. „Wie kannst denn so ’was sagen! Geh – das is net schön von Dir!“
[135] „Jesses na – Deandl –“ stammelte Festei, „schau – es war net so g’meint – na – g’wiß net –“
„Um Gotteswillen – so einer mein Schatz – na, na – da hätt’ ich mir –“ Nannei unterbrach sich und strich die beiden Hände seufzend über ihre Wangen, während sie mit leiser Stimme weiter sprach: „Und – und – ich hab’ überhaupt kein’ Schatz net – weißt! Was thät’ denn ich schon mit ei’m Schatz – ich – ich bin ja noch viel z’ jung – viel z’ jung –“
Mit einem scheu verlegenen Blicke schaute sie bei diesem letzten Worte in Festei’s Antlitz, sah zwei blaue Augen den ihren entgegenleuchten – und die Blicke der Beiden hielten sich gefesselt, lange, lange, sowie zwei Hände sich verschlungen halten zu herzinnigem Gruße.
Da ward es der Nannei so heiß im Gesichte, und unter ihrem Mieder begann ein gar seltsames Pochen sich zu rühren.
„Ich weiß net –“ sagte sie endlich unter einem tiefen, stockenden Athemzuge, den Aermel langsam über die Stirn wischend, „daherin hat’s schon a fürchtige Hitz’.“
„Ja, Deandl – mir is selber so – so –“ gab Festei kleinlaut entgegen. „Aber wart’ – ich mach’ a bißl auf!“
Damit erhob er sich und öffnete die Hüttenthür, sodaß die frische Nachtluft mit kräftigem Hauche in die Stube strich und die Flamme der Kienfackel hell auflodern machte.
„Ah – das is a Lüfterl – a guts!“ betheuerte Nannei und sog die erquickende Luft mit hörbarem Zuge zwischen die weißen Zähne. Dann lud sie die gesäuberten Geschirre auf ihren Arm, trug sie nach der Rahme und stellte sie an den gehörigen Platz.
Festei saß wieder auf der Herdbank und kaute an seiner Pfeifenspitze.
„Han, Nannei, sag’,“ fuhr er nach einer Weile plötzlich auf, „is er heut’ wieder so keck g’wesen – der? Han?“
„Ah na, ah na –“ eiferte das Mädchen. „Weißt, heut’ hat er gar keine Zeit net g’habt dazu. Kaum, daß er a bißl g’sess’n is, hat er durch’s Fensterl schon den Grenzer daher kommen sehen – und da hat er sich nachher g’schwind verzogen. Aber er käm’ schon bald wieder – hat er g’sagt – bald wieder – ja!“
„So – hat er g’sagt – so!“ stieß Festei über die Lippen, die geballte Faust erhebend. „Dem will ich’s Wiederkommen schon verlegen – dem schon!“
„Jesses na – Festei – ich bitte Dich –“ rief Nannei erblassend. „Wirst doch net mit Dem anbinden – weißt – das is gar a wilder Kerl – der!“
„Mir is er net z’wild – mir net – na!“
„Mein – mein,“ stammelte das Mädchen, „schau – ganz d’Red’ hat’s mir jetzt verschlagen. Heilige Mutter Gottes – ich mag gar net denken – schau – wenn’s da ’was absetzen thät’ –“
„So, Deandl, so? So meinst es?“ sprudelte es in herben Worten von dem Munde des Jägers. „Hast am End’ Angst für ihn – han?“
„Für Den? Angst? Ah na – aber weißt, es könnte ja – es – es – wann Du –“ dem Mädchen versagten die Worte, und erröthend dem Herde sich zuwendend, gewahrte Nannei nicht mehr, wie auf Festei’s Antlitz die Miene des Groll’s in ein glückliches Lächeln sich wandelte. „Geh – schau –“ sagte sie, indem sie vor dem Schmerzenslager des Dschapei auf einen kleinen Schemel sich niederließ und dem geduldsamen Thiere die Ohren kraute, was der Teckel gar eifersüchtig vermerkte, „schau – was reden wir denn jetzt allweil von solchene Sachen und von so ei’m Menschen da! Geh – verzähl’ mir lieber von Dei’m Mutterl! An was is’ denn g’storben – han?“
„Mein – a richtige Krankheit kann ich Dir gar net angeben – weißt – sie is halt g’storben – so nach und nach! Sie war halt schon a recht an alts Leut’ – und mein – viel Prast und Kümmerniß hat’s auch derleiden müssen im Leben. Da is ihr ’s Sterben g’rad a Wohlthat g’wesen – aber mir, weißt, mir is schon recht hart an’kommen. In der ersten Zeit hab’ ich schier net g’meint, daß ich’s verwinden könnt’. ’s einzige Kind bin ich gewesen – und no, da weißt es schon, wie’s is – hast ja selber a Mutterl, wo Dich gern hat, und wo dran hängst mit der ganzen Seel’. So hat’s halt auch für mich nix anders ’geben, als wie mein Mütterl und mein Mutterl und wieder mein Mutterl – und g’rad, so war’s bei ihr – weißt – ich bin halt ihr Alles g’wesen!“
„Ja, ja, ich kann mir’s denken,“ flüsterte Nannei feuchten Auges vor sich hin.
„Wie ich noch a kleiner Bub war und hab’s oft so sitzen und weinen sehen – weißt, der Vater is halt net g’wesen, wie er hätt’ sein sollen – d’Mutter, ja, die hat ihn gar arg gern g’habt – er is zwar in der ersten Zeit auch ganz gut zu ihr g’wesen, aber eigentlich hat er’s doch blos g’nommen, weil’s a bißl a Sach’[2] g’habt hat. Aber was hat’s ihm g’holfen? ’s Wirthschaften hat er net verstanden – und wie ’s allweil abwärts und abwärts ’gangen is mit seiner Hauserei, da hat er’s Trinken ang’fangt, hat Streit und Hader heim’bracht vom Wirthshaus, bis er amal – no, g’rad vor vier Wochen sind’s sieben Jahr’ her g’wesen – da is er wieder amal heim, in der Nacht – so – so mit a bißl z’viel – und wie er da am Steg über d’Achen is, da is er halt ’neben ’naus ’treten – no – und da war’s halt gar nachher – unser Herrgott hab’ ihn selig – ich hab’ ihn halt doch gern g’habt –“
„O mein, o mein!“ glitt es leise von Nannei’s Lippen; die lichten Thränen rannen ihr über die Wangen und tropften nieder auf ihre Schürze.
„Aber wann ich hundert Jahr’ alt’ werd’ – denselbigen Morgen vergiß ich nimmer! D’Mutter – weißt – das is gar net zum sagen – g’rad mit alle zwei Händ’ hab’ ich’s halten müssen, damit’s net selber a Sünd’ an ihr ’than hat – und ganze Wochen darnach hab’ ich ihr net von der Seiten dürfen. Da is nachher noch dazukommen, daß unser Anwesen nimmer zum Halten war – vielleicht kennst es: drunten in Taubensee steht’s, man heißt’s ‚beim Bannholzer‘ – der Flodermüller von Schwarzeck hat’s selbigsmal eing’steigert. No – es is uns über’m Vater seine Schulden ’naus noch ganz a nett’s Geldl ’blieben – aber was heißt das – wann kein Glück net hast und kein’ Fried’ und kein’ Heimath! Da bin ich nachher a Jaager ’worden – ’s einzige Gute bei der ganzen traurigen G’schicht’ – und bin mit mei’m Mutterl nach Ramsau in d’Loschie ’zogen. Und von dem Tage an hat mein Mutterl ’s Sterben ang’fangt – no – und im letzten Fruhjahr hab’ ich’s eingraben müssen.“
Festei schwieg und starrte mit trüben Augen in die verglimmenden Kohlen.
„Und so bist jetzt ganz allein in der Welt?“
„Ja – ganz allein – und kannst mir’s glauben, Nannei, das is gar a bitters Wörtl – allein! Weißt – wann ich so draußen bin in meine Berg’, da merk’ ich’s wohl net so – aber in der Nacht, in der Jagdhütten, wann ich da so lieg’ – da – da – ich kann Dir’s gar net sagen! Kein’ Heimath hab’ ich, wo ich sagen könnt’, da g’hör’ ich her – und hab’ kein’ Menschen net, der zu mir denkt und der sich sorget um mein Glück und mein Leben und der mir gut is, so recht von Herzen gut, so wie ich’s brauchet! – Ja – mein Hund – mein Hund habe ich – der is mir noch gut! Gelt, Bella, gelt – komm’ – da komm’ her zu mir!“
Grinsend und schweifwedelnd kam der Teckel herbeigeeilt und sprang auf Festei’s Kniee, der ihm die Arme um den Hals schlang und unter langen, lauten Athemzügen das Gesicht an die Schnauze des treuen Thieres drückte.
Nannei saß auf ihrem Schemel, so bleich, daß selbst der rothe Lichtschein der dem Erlöschen nahen Kienfackel diese Blässe nicht zu verschleiern vermochte. Die Hände, die in ihrem Schooße lagen, zitterten. Mehrmals rührten sich ihre Lippen, als wollte sie sprechen.
„Fe –“
So klang es auch einmal hauchend von ihrem Munde.
Hastig hatte Festei bei diesem Laute den Kopf erhoben.
„Hast Du ’was gesagt, Nannei?“ frug er, und seine Stimme bebte.
Das Mädchen schüttelte stumm den Kopf, und vor sich niederblickend, schürfte sie mit der Sohlenkante des einen Schuhes den Lehmboden auf.
Da ließ der Jäger seinen Hund zur Erde springen und erhob sich.
„Es is Zeit, Nannei, zum Schlafengehen,“ sagte er, „mußt ja morgen bei der ersten Tagslichten wieder ’raus. Ich hab’ Dich so wie so schon viel z’lang aufg’halten. No – ich komm’ [136] nachher schon in der Fruh und schau nach Dei’m Kranken da – wie’s d’Nacht überdauert hat – hoffentlich gut.“
„Ja, hoffentlich gut.“
„Und – und – ja – somit gut’ Nacht!“
„Gut’ Nacht!“ sagte Nannei und legte ihre Rechte in die dargebotene Hand des Jägers.
Winselnd bohrte der Teckel seine Schnauze zwischen die angelehnte Thür und den Pfosten, und als diese dem Drucke nachgab und leise knarrend sich öffnete, sprang er mit lautem Bellen über die Schwelle.
„Schau – der macht mir gar die Thür auf!“ sagte Festei und versuchte zu lächeln. „Somit b’hüt Dich Gott – und gelt – schlaf’ recht gut!“
Noch einmal schüttelte er die Hand des Mädchens und verließ dann raschen Ganges die Hütte.
Nannei folgte dem Jäger bis auf die Schwelle – nachschauen konnte sie ihm nicht, die Nacht war zu dunkel – aber sie lauschte seinen Schritten, die nun verklangen, da Festei eine Mulde durchschreiten mußte – nun wurden sie wieder hörbar, und mit hallender Stimme rief das Mädchen durch die Finsterniß:
„Gut’ Nacht, Festei! Gut’ Nacht!“
Und von der Höhe rief es entgegen: „Gut Nacht! Und – wann – und – gut’ Nacht!“
Noch eine Weile waren die Schritte da oben zu hören, dann polterte am Jägerhäuschen die Thür – und Alles war still.
Tage und Tage vergingen.
An jedem Morgen, ehe Festei seinen Rundgang in den Bergen antrat, kam er in Nannei’s Hütte, um zu erkunden, wie das Dschapei die Nacht verbracht hätte; und an jeglichem Abende, wenn er heimkehrte von seinen mühsamen Wegen, kam er, um nachzusehen, wieweit die Besserung tagsüber vorgeschritten wäre.
Und in all diesen Stunden vom Erwachen bis zum Scheiden der Sonne empfand das Mädchen immer und immer wieder jene „g’spassige Angst“, welche jählings verschwand, wenn Festei den Fuß auf die Schwelle setzte. Zu ihrem eigenen Verwundern verblieb ihr auch dieses seltsame Gefühl, als das Dschapei nach Tagen und Tagen schon so weit in der Besserung war, daß Nannei um den Zustand ihres Lieblings auch ganz gewiß keine Angst mehr zu haben brauchte.
Wie am Abende nach Dschapei’s Rettung, so hatte die junge Sennerin auch am nächsten Abende ihren Imbiß mit dem Jäger getheilt. Für die Folge aber hatte Festei das nicht mehr zugegeben.
„Weißt, Nannei,“ hatte er gesagt. „Das geht halt doch net, daß ich Abend für Abend von Dei’m Mehl iß. Und Dein Almbauer, der machet a schön’s G’sicht, wann er erfahret, daß ich mitzehr’ an sei’m Butter und Schmalz. Aber weißt – wann Dir’s schon recht is, daß ich so am Abend da bin und a bißl plausch’ mit Dir – und wann schon so gut sein willst und diemal kochen für mich –“
„Diemal g’rad? Ah na – jeden Abend – so oft Du magst!“ hatte ihn Nannei mit raschem Worte unterbrochen.
„No also – schau –“ hatte Festei mit freudigem Lächeln erwidert, „schau – da stell’ ich Dir mein Mehlsackl ’runter und mein Salz und d’ Schachtel mit mei’m Schmalz – und da kochst nachher davon – und ich kann mit gutem G’wissen bei Dir essen.“
So war es auch geschehen – und wenn dann immer Nannei des Abends am Herd stand und zum Schmarren oder zu den Nocken den Teig anrührte, gab Festei sorglich Acht, daß sie auch wirklich ganz zu gleichen Theilen von seinem wie von ihrem Vorrath nahm und nicht etwa sich selbst zu Schaden brächte.
War die Pfanne geleert, so saßen sie plauderud Seite an Seite, oder wenn Nannei noch zu schaffen hatte, schaute ihr Festei zu, sein Pfeifchen rauchend, meist schweigend – den Beiden war’s ja schon genug, wenn Eines das Andere in seiner Nähe wußte – und mehr als ihre Lippen sprachen in solchen Stunden ihre Augen, die dann auch bei weitem mehr zu sagen wagten, als der Mund zu sprechen sich getraute.
Eines Tages – es war der fünfundzwanzigste Juli – hörte Nannei lange vor der Zeit der Dämmerung ihrer Hütte Festei’s wohlbekannten Schritt entgegeneilen – und als sie hurtig auf die Schwelle spraug, da stand der Jäger schon vor ihr, mit hochgerötheten Wangen, mit zitternden Lippen, mit naß in die Stirn hängenden Haaren und mit Augen, die vor Erregung blitzten.
Die Freisprechungen im russischen Schwurgerichte.
Vor nun bald zwanzig Jahren, bei der Einführung des öffentlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens in Rußland, gehörte ich zu den Geschwornen der ersten Assisen in St. Petersburg. Abgesehen von verschiedenen, theilweise lächerlichen Zwischenfällen, die während der Dauer dieser ersten öffentlichen Gerichtssitzungen vorfielen und die durch die Neuheit der Sache entschuldigt werden konnten, machte folgende Episode einen peinlichen Eindruck auf mich. Ein Angeklagter, beschuldigt die Decke eines Schlittens gestohlen zu haben, wurde, trotz der glänzenden Vertheidigungsrede eines der berühmtesten Advocaten der Residenz, schuldig erklärt und zu einer Gefängnißhaft von einigen Monaten verurtheilt. Als ich mit anderen Geschwornen, während einer Pause, in der Gallerie des Justizpalastes auf- und abging, trat ein mir nur sehr oberflächlich bekannter Berichterstatter einer Zeitung mit den Worten auf mich zu:
„Gehörten Sie nicht auch zu den Geschwornen, die soeben den armen X. schuldig sprachen?“
Als ich dies bejahte, fuhr er fort:
„Wie konnten Sie nur diesen Menschen verurtheilen? Es war ja eine physische Unmöglichkeit, daß er den Diebstahl verübte; er ist so schwach auf den Beinen, daß er gar nicht im Stande gewesen wäre, bis dorthin, wo man ihn festnahm, zu laufen!“
Ich erwiderte, daß von einem solchen Schwächezustande des Angeklagten der Vertheidiger doch wohl Kenntniß gehabt haben müsse; da er aber davon nichts erwähnt habe, so konnten die Geschwornen diese angebliche Thatsache auch nicht in Betracht ziehen.
„Euch selbst müßte man aufhängen!“ war die Antwort des Journalisten, mit der er mir den Rücken wandte.
Nur durch die Annahme, daß ein großer Theil des russischen Publicums die Pflichten des Geschwornen in der ausnahmslosen Freisprechung der Angeklagten, ob unschuldig oder schuldig, sieht, läßt sich dies Vorkommniß und hundert ähnliche in der Praxis des russischen Geschwornengerichts erklären. Wer längere Zeit in Rußland gelebt und sich mit den Anschauungen und Empfindungen des Volkes vertraut gemacht hat, weiß, daß der Russe, namentlich wenn er von der europäischen Cultur noch unbeleckt ist, eine fast unerschöpfliche Dosis von Gutmüthigkeit und Barmherzigkeit besitzt. Insbesondere aber sind es die Gefangenen, denen er seine volle Theilnahme schenkt. Diese Gemüthsanlage findet sich aber auch nicht selten bei den höheren, gebildeten Classen, und sie kann, wenn auch die Attentate und Morde der Terroristen das Gegentheil zu beweisen scheinen, als ein nationaler Charakterzug gelten.
Auch die Friedensrichter hielten es, besonders in der ersten Zeit nach Inkrafttretung der neuen Gerichtsverfassung , fast ausnahmslos für ihre Pflicht, die Angeklagten, namentlich wenn sie zur niedern Volksclasse gehören und von Höherstehenden, ihren Vorgesetzten, ihrer Dienstherrschaft etc. verklagt wurden, freizusprechen. Eine Bestätigung für diese Eigenthümlichkeit des russischen Volkscharakters finden wir auch bei dem berühmten russischen Romanschriftsteller Dostojewsky, diesem classischen Kenner der russischen Volksseele, welcher in seinen „Memoiren aus dem todten Hause“ die Verbrecher, seine Genossen im sibirischen Zuchthause, mit unendlicher christlicher Liebe und Nachsicht schildert und den Leser unwillkürlich zwingt, diese „Unglücklichen“ zu bemitleiden, anstatt sie zu verabscheuen. In der ganzen literarischen Thatigkeit Dostojewsky’s finden wir dieses Mitgefühl für die „Armen Leute“, „Erniedrigten und Beleidigten“[3], für die Schwachen, Unterdrückten, Elenden, insbesondre aber für die unglücklichen Kinder. Er theilt vollständig die Gefühle seiner einfachen, ungebildeten Landsleute, die den Gefangenen ausnahmslos einen „Unglücklichen“ nennen und die es nie versäumen, ihm einige Kopeken in die Hand zu drücken, wenn sie ihm begegnen.
Abgesehen von der angebornen Weichherzigkeit des russischen Charakters, ist dieses Mitleid mit den „Unglücklichen“ auch noch durch die Brutalität zu erklären, unter der das Volk Jahrhunderte lang in der Leibeigenschaft schmachtete. Der stete Anblick von Willkür, Despotismus und Ungerechtigkeit, verbunden mit der Indolenz, die es solche Zustände ertragen ließ, mußten das Volk wohl schließlich dazu bringen, Jeden, der in die Hände der strafenden Obrigkeit gefallen war, als einen unschuldig Leidenden, einen Unglücklichen, anzusehen. Auch die Verfolgungen, denen noch bis vor Kurzem die Sectirer ausgesetzt waren, Leute, die lhres Glaubens, ihrer religiösen Ueberzeugungen wegen litten, die nichts verbrochen, sondern die in sittlicher Beziehung meist unendlich höher standen als ihre Quälgeister,
[137][138] machen es erklärlich, daß jeder Angeklagte, jeder Gefangene, als ein leidender Bruder betrachtet wird, dessen Loos heute oder morgen einen Andern treffen kann. Es läßt sich folglich die Auffassung, daß jeder Gefangene, Angeklagte, Verbrecher ein Unglücklicher sei, der Mitleid, Nachsicht, Verzeihung verdiene, auch historisch erklären, fast rechtfertigen.
Dies vorausgeschickt, werden wir die Erscheinungen, welche auch in den letzten Wochen den unbefangenen Leser wieder in Erstaunen versetzten, leichter begreifen.
Die Freisprechungen in den russischen Geschwornengerichten haben seit Jahren schon die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. So lange es sich um politische Verbrecher handelte, war man geneigt, derartige Vorkommnisse durch die Annahme zu erklären, die russische Gesellschaft sympathisire mit den Revolutionären. Namentlich war es der Proceß gegen Wära Sassulitsch, welcher seiner Zeit so großes Aufsehen machte. Der Vertheidiger der Angeklagten war zum Ankläger des Opfers der Verbrecherin geworden, und die Freisprechung der Attentäterin fand nicht nur bei dem im Gerichte anwesenden Publicum, sondern auch in der ganzen russischen Presse fast einmüthigen Beifall.
Wenn bei solchen Freisprechungen unstreitig auch die Opposition gegen das herrschende System eine hervorragende Rolle spielt, so kann dieses Motiv doch bei Freisprechungen von Dieben und Cassendefraudanten nicht füglich geltend gemacht werden.
In diesen Fällen wird das angeborne und anerzogene Mitgefühl für die „Unglücklichen“ meist noch dadurch beeinflußt, daß Verbrechen und Strafe häufig nicht in demjenigen Verhältniß zu einander stehen, welches den Anschauungen der Geschwornen entsprechen würde. Der russische Geschworne wird nie den Grundsatz fiat justitia, pereat mundus (um der Gerechtigkeit willen möge die Welt zu Grunde gehen) zu seiner Devise nehmen, er zieht es sogar vor, den geständigen Verbrecher frei zu sprechen, als ihn einer Strafe zu unterwerfen, die ihm zu hart dünkt. Der lebende Mensch steht ihm immer höher als das todte Gesetz.
Es ist ferner eine bekannte Thatsache, daß man gegen Ereignisse, die häufig vorkommen, möge jedes einzelne an und für sich noch so sensationell sein, schließlich abgestumpft wird. Die von jeher in Rußland vorkommenden Diebstähle an öffentlichen Cassen (man hat dafür sogar ein eigenes Wort – Kasnokrádstwo – erfunden) gehören ja bekanntlich zu den „berechtigten Eigenthümlichkeiten“ dieses Landes.
Unterschlagungen von Hunderttausenden und Millionen erregen kaum noch ein außergewöhnliches Aufsehen, man ist daran gewöhnt. Oeffentliche, sogenannte Krongelder sind von jeher und werden auch jetzt noch von Vielen als herrenloses Gut angesehen, und diejenigen, welche in gewissen Stellungen Gelegenheit haben, sich zu bereichern und es nicht thun, betrachtet man als unpraktische, ungeschickte Menschen.
Bei dieser allgemeinen Corruption kann sich ein ehrlicher Mann unter lauter Spitzbuben nicht lange behaupten; er ist ein fortwährender Stein des Anstoßes und wird daher in der Regel möglichst schnell beseitigt. Wie sehr die Anschauung, daß es selbstverständlich sei, sich an öffentlichen oder anvertrauten Geldern zu bereichern, in Fleisch und Blut der russischen Gesellschaft übergegangen ist, beweist unter Anderem auch die Thatsache, daß noch Kaiser Nikolaus seinen Günstlingen Regimenter verlieh, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Finanzen zu verbessern.
Ein russischer Obrist kannte damals keine größere Strafe, als die Beförderung zum Generalmajor – er war dann gezwungen, sich mit seinem Gehalte zu begnügen, die großen Einkünfte aus der Regimentscasse hörten auf.
Mußten nicht solche Zustände mit absoluter Nothwendigkeit dahin führen, die Begriffe von Recht und Unrecht zu verwirren, und mußte sich nicht der Mann aus dem Volke, der als Geschworener über Verbrechen urtheilen sollte, schließlich sagen: „Weshalb soll gerade dieser verurtheilt werden? Er that nur, was Alle an seiner Stelle gethan haben, was wir vorkommendenfalls selbst thun würden.“
Zur Illustrirung des Obengesagten führen wir jetzt noch einige der eclatantesten Fälle an, die uns zu diesen Betrachtungen Veranlassung gegeben haben; wir entnehmen dieselben ausschließlich der jüngsten Vergangenheit; – wollten wir weiter zurückgreifen, so fänden wir kein Ende.
Die Kronstädter Bank mußte ihre Zahlungen einstellen, weil sie sich in Speculationen eingelassen hatte, die außerhalb ihres Wirkungskreises lagen. Die Leiter der Bank, welche an diesen Ungesetzlichkeiten betheiligt waren, wurden theils verurtheilt, theils freigesprochen. Es stellte sich unter Anderem heraus, daß diese Bank für viele Hunderttausende von Rubeln fictive Depositenscheine über angeblich in die Bank eingezahlte Summen ausgestellt hatte. Diese Quittungen wurden wie baares Geld in Umlauf gesetzt und konnten schließlich nicht mehr eingelöst werden – der Krach war unvermeidlich.
Ein Fürst Obolensky, dessen Speculationen hauptsächlich den Ruin der Bank herbeigeführt hatten und der den größten Gebrauch von diesen Depositenscheinen, wissend, daß sie falsch sind, gemacht hatte, wurde freigesprochen. Das Urtheil ist übrigens vom Senate cassirt worden, und diese Angelegenheit kommt noch einmal vor das Kreisgericht.
In Moskau holte der Rentmeister einer Wohlthätigkeitsbehörde, Melnitzky, im vorigen Jahre die Summe von 307,000 Rubeln aus der Bank. Er behauptete, auf dem Rückwege unwohl geworden zu sein und das Bewußtsein verloren zu haben. Nachdem er wieder zu sich gekommen, sei das Geld verschwunden gewesen. Trotzdem er bei diesen Angaben blieb, wurde er doch zur Deportation nach Sibirien verurtheilt – das Geld aber war verschwunden.
Endlich nach Monaten kam es heraus, daß die angeblich verloren gegangene Summe sich in den Händen der Kinder und sonstigen Verwandten des Verurtheilten befände, und der größte Theil derselben (81,512 Rubel fehlten) konnte bei ihnen beschlagnahmt werden. Diese Verwandten nun wurden als Theilnehmer und Hehler des Diebstahls angeklagt. Ihre Schuld war klar bewiesen und konnte auch nicht geleugnet werden. Trotzdem aber erfolgte ihre Freisprechung unter langandauerndem Beifalle des bei der Gerichtsverhandlung anwesenden Publicums. Die Geschwornen hatten unter Anderem angenommen, daß der mitangeklagte Sohn Melnitzky’s, ein Hauptbetheiligter an dem Verbrechen des Vaters, „ohne eigennützigen Zweck“ gehandelt habe.
Der Cassirer der Kijewschen Communalbank Swiridow bestahl während eines Zeitraums von zehn Jahren die ihm anvertraute Casse um 264,000 Rubel und gestand sein Verbrechen ein. Trotzdem wurde er freigesprochen. Die Fragen, welche bei dieser Gelegenheit den Geschwornen vorgelegt worden waren, lauteten:
1) Ist es erwiesen, daß Swiridow aus den ihm anvertrauten Geldern sich eine Summe von mehr als 300 Rubeln angeeignet und zu seinem eigenen Nutzen verwandte? Antwort: Ja!
2) Ist Swiridow schuldig, genanntes Verbrechen begangen zu haben? Antwort: Nein!
Der Beifall des Publicums bei der Freisprechung war endlos. Für jeden Unbefangenen ist die Stellung der zweiten Frage unverständlich – als ob nicht bereits in der Beantwortung der ersten die Schuld des Angeklagten bejaht gewesen wäre! Interessant sind in diesem Falle noch die vom Vertheidiger vorgebrachten Entschuldigungsgründe: 1) Die Aufsicht war ungenügend, folglich sei es entschuldbar, wenn Swiridow das Geld nahm, 2) Bestechlichkeit, Trinken und Cassenbestehlen liege gleichsam in der russischen Natur („wird im russischen Ofen gebacken“), der ein Mensch nur schwer widerstehen könne.
Der Berichterstatter fügt hinzu: Erklärbar ist ein solches Urtheil nur durch die monatelang zu Gunsten des Angeklagten betriebene Beeinflussung eines großen Theils des Publicums durch die mit dem gestohlenen Gelde ermöglichten vielfachen Schenkungen an Kirchen und Klöster und vor Allem durch die Feindschaft der Parteien, von denen die eine durch die Freisprechung Swiridow’s der Verwaltung der Bank und der eng mit ihr verbundenen Stadtverwaltung schaden wollte. Das Gericht verfügte übrigens, daß von Swiridow das defraudirte Geld eingetrieben werden solle.
Die Geschworenen in Kijew haben sich vor Kurzem noch durch die Freisprechung des Procuristen im Hause Walkow, der vermittelst Fälschung der Handlungsbücher 25,000 Rubel gestohlen und durchgebracht hatte, ausgezeichnet.
In Kasan fälschte der Kellner eines Hôtels die Rechnung eines Gastes um 12 Rubel und cassirte den Betrag ein. Der Schuldige wurde vom Einzelrichter zu anderthalb Monat Gefängniß verurtheilt. Er appellirte an das Friedensrichterplenum, welches ihn freisprach, weil angeblich nicht erwiesen sei und auch nicht erwiesen werden könne, daß der Angeklagte das Geld zu seinem eigenen Vortheile zu verwenden gedachte.
In Odessa wurde ein Defraudationsproceß aus dem Jahre 1874 gegen den früheren Cassirer des geistlichen Consistoriums, Lewitzky – der Cassendefect betrug 3000 Rubel – durch Freisprechung des Angeklagten beendet. Das geistliche Consistorium wurde außer in die Kosten auch noch verurtheilt, dem seit neun Jahren entlassenen Lewitzky die Hälfte des ihm während dieser Zeit vorenthaltenen Gehalts als Entschädigung auszuzahlen.
Am Bezirksgerichte von Wjatka gelangte unter Zuziehung von Geschwornen der Proceß wider den Major Palizyn, welcher der Bigamie und Fälschung angeklagt war, zur Verhandlung. Die Geschwornen sprachen den Angeklagten frei. Dieses Verdict kam so unerwartet, daß der Major Palizyn bei Verkündung desselben die Besinnung verlor.
Es ist eine bekannte Thatsache, daß in früheren Zeiten bei den verschiedenen Völkern die Begriffe von Gut und Schlecht, von Recht und Unrecht verschiedenartige waren. Erst nach und nach klärten sich die Ansichten darüber, und heute finden wir bei allen civilisirten Völkern so ziemlich die gleiche, jetzt allgemein gültige Deutung dieser Begriffe. Wenn wir daher bei einem Volke Anschauungen wie die oben geschilderten treffen, so kommen wir nothgedrungen zu dem Schlusse, daß dort die Civilisation noch auf einer niedrigeren Stufe stehen müsse. Wir können uns ebenso wenig vorstellen, daß schwarz – weiß sei, als daß ein Dieb, ein Cassendefraudant unschuldig sei – mildernde Umstände selbstverständlich vorbehalten.
Mildernde Umstände wollen wir auch bei Beurtheilung der abnormen Zustände in Rußland gelten lassen. Ein Volk, welches erst weit später als wir in die Reihe der civilisirten Nationen eingetreten ist, waches Jahrhunderte lang das Tatarenjoch, die Despotie seiner Herrscher, die Leibeigenschaft ertrug, darf nicht mit dem gleichen Maß gemessen werden, wie andere Völler, welche unter günstigeren Bedingungen herangereift sind. Es ist ein schwerer Irrthum, wenn man Rußland nach Petersburg, Moskau, nach seiner auf der Höhe der Cultur stehenden Minderheit beurtheilt. Die große Masse des Volkes, namentlich diejenige, welche nicht in den großen Centren und an vielfrequentrirten Straßen wohnt, hat noch die gleichen Begriffe, steht noch auf der gleichen geistigen und physischen Stufe, wie vor funfhundert Jahren. Dies erklärt Vieles, was uns sonst unbegreiflich wäre. Es unterliegt keinem Zweifel, daß bereits viel gethan ist, um das geistige und materielle Niveau des Volkes zu heben. Namentlich hat Kaiser Alexander II. sich ein unsterbliches Verdienst durch seine reformatorische Thätigkeit erworben. Wir wünschen nur, daß in seinem Geiste fortgearbeitet werden möchte, unbekümmert um Reactionäre und Revolutionäre, die jetzt das arme Land weder zur Ruhe noch zur normalen Entwickelung kommen lassen. Nur stete unverdrossene Arbeit und ein erreichbares Ziel vor Augen, das ist’s, was Rußland Noth thut. Dann werden sich mit der Zeit auch seine heute noch verworrenen Begriffe von Recht und Unrecht klären.
[139]
Der Zimmer- und Fenstergarten.
Nur wenige von den fremden Blumen, die in unseren Gärten und Treibhäusern eine neue Heimath fanden, haben ein so allgemeines Interesse erweckt, wie die Azaleen, deren einzelne Arten, unter der Hand kundiger Gärtner in Massen gezüchtet, den ganzen Winter hindurch den prächtigsten Blumenschmuck liefern. Nur bei wenigen Pflanzen ist es auch dem Menschen gelungen, durch richtige Pflege einen so überraschenden Blüthenreichthum, einen solchen Glanz von Blumenfarben zu erzielen, wie dies bei diesen Sträuchern der Fall. Darum werden auch die Azaleen als stets dankbare Marktpftanzen in allen Ländern im größten Umfang gezogen und bilden sogar in den Gärtnereien von Gent in Belgien einen nicht unbedeutenden Exportartikel, indem sie von dort nach den verschiedensten Ländern verschickt werden. Als Winterblumen werden sie sehr gern zum Schmuck unserer Zimmergärten verwandt, oder als einfacher Blumenschmuck in unsern Wohnzimmern aufgestellt. Sie gehören der natürlichen Familie
der Rhodoraceen an und stehen den Alpenrosen (Rhododendron L.) sehr nahe. Die prachtvollsten Arten stammen aus China und Japan, von denen die sogenannte Indische Azalee (Azalea indica L. oder Rhododendron indicum Sweet) die Stammmutter der meisten Spielarten unserer Kalthäuser ist und unter allen Arten lange Zeit den ersten Rang eingenommen hat; ihren Namen werden sie wahrscheinlich deshalb erhalten haben, weil sie, obwohl in China und Japan einheimisch, über Ostindien nach Europa gekommen sind; schon im 17. Jahrhunderte waren sie in den Gärten der Niederlande; erst später dürften sie nach England, Deutschland etc. gelangt sein.
Die indischen Azaleen nennt man die immergrünen, zum Unterschied von den laubabwerfenden Arten; sie sind in Kleinasien, China, Cochinchina und Nordamerika einheimisch, und von ihnen ist der pontische Felsenstrauch (Azalea pontica L.) in den Gärten schon seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts bekannt. Er schwitzt wie auch unsere gewöhnliche Alpenrose (Rhododendron ponticum L.) einen narkotischen Honig aus, dessen Genuß bei den aus Asien heimkehrenden 10,000 Griechen des Xenophon, die ihn bei Trapezunt gegessen hatten, Erbrechen und Durchfall bewirkte, sodaß sie 3 bis 4 Tage gleichsam berauscht und ihrer Kräfte beraubt waren.
Da wir in diesen Artikeln die Aufgabe verfolgen, den Blumenfreunden unter unseren Lesern praktische Rathschläge zu ertheilen, so wollen wir im Nachstehenden in aller Kürze das Wichtigste über die Zucht und Pflege der beliebtesten indischen Azaleen mittheilen. Den reifen Samen derselben säet man, am besten im Februar oder März, oben auf in flache Näpfe mit gutem Wasserabzuge und sandiger Haide-Erde, drückt ihn fest, aber ohne ihn unter die Erde zu bringen, und spritzt ihn mit lauwarmem Regenwasser an, bedeckt ihn dann mit einer Glasscheibe und läßt ihn im temperirten Gewächshause oder auch am Fenster des warmen Wohnzimmers keimen, was aber nur geschehen kann, wenn er niemals trocken, sondern immer feucht (nicht naß) liegt. Wenn die Pflänzchen stark genug geworden, pflanzt man sie auseinander, man „pikirt“ sie in eine andere Samenschale mit derselben Erde, hält sie durch Bedecken mit einer Glasscheibe einige Tage abgeschlossen von der Luft, an welche sie nach und nach gewöhnt werden müssen, denn von ihr und von Licht oder Sonne können sie kaum jemals genug bekommen; außerdem sorge man für stets gleichmäßige Feuchtigkeit, gieße aber stets mit „überschlagenem“ Wasser.
Während des ersten Jahres hält man die Sämlinge verhältnißmäßig warm, aber immerhin ziemlich luftig, und pflanzt sie im zweiten Jahre, wenn möglich, in ein halbwarmes Mistbeet mit Haide-Erde, gewöhnt sie nach und nach an Luft und Sonne, läßt sie zur Bildung des Stammes gerade in die Höhe wachsen und entspitzt sie dort, wo man wünscht, daß die Krone sich entwickeln soll. Ende August sollte man die Pflanzen wieder in Töpfe setzen, sie zum schnelleren Anwachsen noch einige Zeit in geschlossener Luft halten, sie dann allmählich abhärten und dann wie ältere Exemplare im Kalthause oder kühlen, aber stets frostfreien Zimmer überwintern. – Während des Sommers thut ihnen ein häufiges Ueberspritzen mit überschlagenem Wasser sehr gut, wenn es nicht während des heißen Sonnenscheins geschieht.
Aeltere Pflanzen der indischen Azalee hält man über Winter im Kalthause oder im Wohnzimmer nahe dem Fenster, schützt sie im Sommer vor der Mittagssonne und hält sie vermittelst überschlagenen Regenwassers gleichmäßig feucht. Beinahe jährlich müssen sie verpflanzt werden, am besten gleich nach der Blüthe, bei neu beginnendem Wachsthume, und giebt man ihnen eine Mischung von 1/4 grober Haide-Erde, 1/4 Torfmoor, 1/4 Lauberde, am besten von Buchen, und 1/4 Fluß- oder ausgewaschenen Grubensand, wozu man noch kleine Torfstücke und Ofenruß mischt. Da der Liebhaber schwerlich mit einem Erdmagazin versehen sein dürfte, thut er am besten, sich diese Erdmischung von einem intelligenten Gärtner zu verschaffen.
Vor dem Verpflanzen muß der etwa trockene Wurzelballen angefeuchtet werden, weil er nach dem Versetzen das Wasser nur schwer annimmt; gleichzeitig schneide man alle überflüssigen, zu dicht stehenden Zweige aus und gebe der Krone durch Verkürzen allzulanger Triebe eine hübsche Form. Gesunde Pflanzen vertragen, ja fordern sogar kräftige Nahrung, die man ihnen in der Form von aufgelöstem Rindsdung, vergohrenen Hornspähnen u. dergl. reichen sollte.
Um die indischen Azaleen früher als gewöhnlich in Blüthe zu haben, stellt man geeignete Sorten mit weitvorgeschrittenen Blüthenknospen vom November ab in einen wärmeren Raum, den man in der Nacht um einige Grade kühler halten muß als am Tage, und gießt mit 20° R. warmem Regenwasser.
Einen Uebergang von den Felsensträuchern oder Azaleen zu den Alpenrosen bildet der Balsaminen-Felsenstrauch (Azalea balsaminaeflora. W. Bull. hort.), eine herrliche Abart aus Japan, wohl auch vom Berge Ophir auf Malakka, auf die wir die Blumenliebhaber besonders aufmerksam machen möchten. Die Blüthen sind glänzend lachsroth und dicht gefüllt; sie erinnern in ihrer Größe und Form an die bekannte Camelien-Balsamine und sind besonders werthvoll für Blumensträuße, wie überhaupt die reichblühenden Pflanzen für jede Decoration brauchbar sind. Von dieser Varietät hat man auch Sorten mit weißen, rothen und gelben Blumen. Die Pflanzen überwintert man am besten zwischen den Doppelfenstern des Wohnzimmers oder im temperirten Gewächshause; nach dem Abschluß des Triebes bringt man sie in’s Freie, wo sie sonnig, aber gegen die Mittagssonne geschützt, aufgestellt werden sollten.
Blätter und Blüthen.
Der Elektriseur in der Dorfschenke. (Illustration S. 137.) Selbst in unserem elektrischen Zeitalter dürfte der Mann, der mit der Elektrisirmaschine und der Leydener Flasche unter Bauern sein Glück sucht, eine recht seltene Erscheinung bilden. Seinen Zunftgenossen, welche Bären, Affen, Marionetten u. dergl. auf der Wanderschaft mitführen, strömen die Dorfbewohner in hellen Haufen zu, er aber, der früher vielleicht Mechaniker war und aus des Lebens Stürmen nur ein paar physikalische Apparate gerettet, muß sein Publicum nicht auf der Straße, sondern an ruhigeren Orten aufsuchen. Die Dorfschenken sind in den stilleren Stunden das ergiebigste Feld für seine Operationen. Der wenig zahlreichen, beim
Frühschoppen versammelten Gesellschaft kann er in gemüthlicher Ruhe die wunderbaren Wirkungen der geheimnißvollen Elektricität vortragen und an dem schwächsten der Gäste einige Curversuche ausführen Die Zuhörer begreifen niemals den verworrenen Vortrag des Alten, aber Jeder von ihnen spürt den zuckenden Schlag, der von der Leydener Flasche ausgeht und die stärksten Sehnen bewältigt. Das imponirt den urwüchsigen Leuten mehr als tausend schönklingende Worte, und der Elektriseur gelangt bald in den Ruf eines arg gescheidten Mannes, bei dem man sich in schweren Krankheitsfällen und anderen Fahrnissen des Lebens sicher einen guten Rath holen kann. Daß der gute alte Mann von den neuesten Erfindungen und Entdeckungen auf dem Gebiete der Elektrotechnik, welche die ganze Welt in Staunen versetzen, keine Ahnung hat, das merken die einfachen Leute nicht. Im Gegentheil, die alte Elektrisirmaschine halten sie für eine der neuesten Erfindungen. So wird der Wohnort des „Elektriseurs“ bald bekannt, und sein Publicum strömt dann ihm entgegen, sodaß er die mühselige Wanderschaft aufgeben kann. Tritt aber eine Geschäftsstockung ein, so greift er wieder zum Wanderstabe, oder vielmehr zu seinem gewaltigen Regenschirme und zieht mit dem Kasten auf dem Rücken und mit dem altmodischen Cylinderhute in die Umgebung. Seine Kunstreisen werden dann zu Eroberungszügen, auf welchen das kümmerliche Flickwerk der Wissenschaft, das ihm zu Gebote steht, über den Aberglauben gar leichte Siege davonträgt. J.
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Ein spanisches Urtheil über das Duell. Das Duell ist neuerdings wieder eine der brennendsten Tagesfragen geworden. Interessant dürfte es daher sein, daran zu erinnern, daß im vorigen Jahrhundert die Frage nach der Berechtigung des Duells eine geradezu wissenschaftliche Bearbeitung gefunden hat und zwar in dem seiner Ritterlichkeit wegen stets hochgerühmten Spanien. Jüngst fand ich einen Vortrag über diese Frage, welcher im November 1788 in einer der spanischen Rechtsakademien gehalten und im Jahre 1789 unter dem Titel „Discurso sobre los duelos“ abgedruckt wurde.
Der Zweikampf, so meint Don Antonio Coma, der Verfasser jener Rede, stammt von den barbarischen Nationen her. Dem spanischen Volke ursprünglich fremd, ist er nur durch die Invasion der Barbaren in Aufnahme gekommen. Die älteren Gesetze hatten dem Zeitgeiste nicht zu widerstreben vermocht, sie hätten sich daher damit begnügt, durch Festsetzung von Formalitäten den Zweikampf einzuschränken. Das Duell widerstrebt den ausdrücklichsten Satzungen der christlichen Religion, welche Mord, Rache, sogar bloße Zornesgedanken verabscheut und den Satz kennt: Wer nicht vergiebt, dem soll nicht vergeben werden. Nach Grundsätzen der Vernunft ferner kann man den Zweikampf nur als eine Art unvernünftiger Wuth oder zum Mindesten als einen hohen Grad von Verrücktheit bezeichnen. Wenn die Vertheidiger des Duells darauf hinweisen, daß sie ihre Ehre vertheidigten, so müsse er fragen, was denn eigentlich Ehre sei. Wäre denn dadurch, daß man Jemanden besiegt habe, die Unwahrheit des von Diesem Behaupteten erwiesen? Der Grund der Duelle ist meistentheils ein durchaus leichtfertiger: Ein hingeworfenes Wort oder der Streit um eine Dame. Was kümmert es aber die Ehre Jemandes, ob er von einer Frau geliebt oder verabscheut wird? Die Laune des weibllchen und eine falsche Ritterlichkeit des männlichen Geschlechts hatten es zuwege gebracht, daß die spanischen Helenen mehr Blutvergießen veranlaßt hatten, als die Tochter der Leda in den trojanischen Kämpfen.
Das Duell steht im Widerspruche mit den einfachsten juristischen Grundsätzen und fast alle Gesetzgebungen hatten daher gegen das Duell geeifert: das canonische Recht bis auf Benedict XIV., von weltlichen Gesetzgebungen namentlich die französische unter Ludwig XIII., und die spanische Gesetzgebung hatte mit den härtesten Strafen, wie ewige Infamie und Todesstrafe, gedroht.
Doch glaubt der spanische Rechtsgelehrte nicht an die Wirkung dieser Gesetze; denn wer kennt nicht die Macht eingewurzelter Vorurtheile? Es muß daher vor Allem der heranwachsenden Jugend dieses Vorurtheil genommen werden, und das sei eine Aufgabe der Erzieher. Sie müßten der Jugend unter denjenigen Lastern, welche sie verabscheuen solle, namentlich die falsche Ehre, die „Duellistenehre“, vorführen. Die Jugend soll lernen, daß die wahre Ehre darin besteht, daß man seine Handlungen mit den Grundsätzen der Vernunft und mit unseren natürlichen Gefühlen, welche uns Menschenblut zu achten heißen, in Uebereinstimmung bringe, und darin, daß man gelehrig sei für jene innere Stimme, welche uns Recht und Unrecht erkennen läßt. Auch die Literatur und vor Allem die Bühne müßten in dieser Hinsicht auf eine Hebung der allgemeinen sittlichen Anschauungen einwirken. Dr. E. S.
Allerlei Kurzweil.
Quadraträthsel.
Die mit einem Stern bezeichneten Felder der nebenstehenden Figur sind mit je einem Buchstaben so auszufüllen, daß die fünf wagerechten Reihen, ebenso die erste und die letzte senkrechte Reihe bekannte Wörter ergeben. Diese Wörter, jedoch in anderer Reihenfolge, sind:
1. ein Dichter; 2. ein Fluß; 3. ein Name, bekannt aus der ältesten Geschichte Roms; 4. eine Oper; 5. ein Schiff; 6. ein Name, bekannt aus der Geschichte der Israellten; 7. eine große Stadt.
Dechiffrir-Aufgabe.
Hahegite, velatitehetihe Gahetiteluvi, valeve giguguti Velativuhevati,
Teluvi hahetëlu vitile Gutihitilule havuguvi ’lutihe Higitehu.
Auflösung der Scataufgabe in Nr. 7:
Gesetzt Mittelhand hätte: Treff-Zehn, Treff-König, Treff-Neun, Treff-Acht, Pique-Aß, Pique-Zehn, Pique-Sieben, Coeur-Neun, Coeur-Acht, Coeur-Sieben.
Hinterhand: Treff-Dame, Treff-Sieben, Pique-Dame, Pique-Neun, Pique-Acht, Coeur-König, Coeur-Dame, Carreau-Aß, Carreau-Zehn, Carreau-Dame.
Erster Stich: Vorderhand Treff-Bube, Mittelhand Coeur-Sieben, Hinterhand Treff-Sieben.
Zweiter Stich: V. Carreau-Sieben, M. Pique-Aß, H. Carreau-Dame.
Dritter Stich: H. Pique-Dame, V. Carreau-Bube, M. Pique-Sieben.
Vierter Stich: V. Carreau-Acht, M. Pique-Zehn, H. Carreau-Aß.
Fünfter Stich: H. Pique-Neun, V. Coeur-Bube, M. Coeur-Acht.
Sechster Stich: V. Carreau-Neun, M. Treff-Zehn, H. Carreau-Zehn.
Siebenter Stich: H. Pique-Acht, V. Carreau-König, M. Treff-König.
Die Gegner haben nun 63 Points. Wenn Sie im 3. oder 5. Stich abwerfen, ist das Spiel ebenfalls verloren. Spielen Sie im 2., 3. und 4. Stich Coeur-Aß, Coeur-Zehn, Treff-Aß, so folgt:
Fünfter Stich: V. Carreau-Sieben, M. Pique-Aß, H. Carreau-Dame.
Sechster Stich: H. Pique-Dame, V. Carreau-Acht, M. Pique-Sieben.
Siebenter Stich: H. Carreau-Aß, V. Carreau-Neun, M. Pique-Zehn.
Achter Stich: H. Carreau-Zehn, V. Carreau-König, M. Treff-Zehn.
Kleiner Briefkasten.
A. Z. in G. „Warum bringt man berühmten Todten auf Festen, die zu ihrem Andenken gefeiert werden, nicht ein lautes Hoch aus, und weiht ihnen nur ein stilles Glas?“ Hoch kann man Jemanden nur leben lassen. Darum läßt man dennoch auch Todte leben, wenn sie – unsterblich sind.
Alfred M. in Chemnitz. Für anonyme Fragen haben wir keine Antwort, und wenn sie zehnmal wiederholt werden.
Inhalt: Ein armes Mädchen. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 125. – Ein Denkmal der „Völkerschlacht bei Leipzig“. S. 128. Mit Illustrationen S. 128 und 129. – Mummenschanz in alter und neuer Zeit. Eine Carnevals-Plauderei. Von Hugo Klein. S. 131. Mit Illustration S. 132. – Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit. Herausgegeben von Eduard Engel. II. S. 133. – Dschapei. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 134. – Die Freisprechungen im russischen Schwurgerichte. Von Wilhelm Henckel. S. 136. – Der Zimmer- und Fenstergarten: Der Felsenstrauch (Azalea). Von O. Hüttig. S. 139. Mit Abbildung S. 139. – Blätter und Blüthen: Der Elektriseur in der Dorfschenke. S. 139. Mit Illustration S. 137. – Ein spanisches Urtheil über das Duell. Von Dr. E. S. – Gute Freunde. Illustration von H. Speier. S. 140. – Allerlei Kurzweil: Quadraträthsel. – Dechiffrir-Aufgabe. – Auflösung der Scataufgabe in Nr. 7. – Kleiner Briefkasten. S. 140.