Die Noth an der Ostsee und die Hülfe
Wir sind abermals in den Stand gesetzt, für reichliche Gaben quittiren zu können, die aus den verschiedensten Gegenden und Lebenskreisen uns zugekommen sind. Für all diese Opferfreudigkeit sprechen wir recht von Herzen unsere Freude und unsern Dank aus. Es ist die Hülfe aus dem Volk; sie kommt größtentheils aus den Geldbeuteln, die nur durch Arbeit gefüllt werden.
Um so lauter ist es zu beklagen, daß trotz alledem die Hülfe Deutschlands, des großen, mächtigen Reichs, in welchem gegenwärtig fast alle Industrien glänzende Früchte tragen, eine so geringe ist, daß wir beschämt vor dem kleinen, von gleichem Unglück betroffenen Dänemark dastehen müssen. Das ganze Deutschland mit allen seinen Kronen- und Geldfürsten hat die Unterstützungssumme noch kaum erreicht, welche das Dänenvolk allein aufzubringen vermochte.
Wo liegt die Ursache? Sie ist die Schuld derjenigen, welche in Deutschland über die großen Summen verfügen und deren Gebahren längst den Verdacht erregt, daß der Mammon kein Vaterland kenne. So unerhört das Unglück, so unerhört müßte die Hülfe sein, – und sie ist’s auch: sie ist noch heute, wo wir dieses schreiben, noch am 12. Januar, unerhört gering!
Uns liegt ein hoher Stoß Briefe und Berichte über die Noth und die Hülfe namentlich aus Schleswig-Holstein vor, das allein drei Viertel des ganzen Ostseeunglücks zu tragen hat. Dort besteht seit dem 17. November ein in Neumünster begründetes „Schleswig-Holsteinisches Centralcomité für die Nothleidenden an der Ostsee“, dessen unermüdlicher Cassirer Kaufmann Richard Behne in Altona ist. Von diesem Comité gingen die ersten Aufrufe in die Welt hinaus; es unternahm mit Blick und Hand praktischer Geschäftsmänner die erste dringendste Hülfe in der Noth und faßte zugleich mit tüchtigem Organisationsgeschick die Rettungsmaßregeln für die Zukunft in’s Auge. Durch das freundliche Engegenkommen der Militärbehörden im Bezirke des neunten Armeecorps erwarb das Comité eine Anzahl überzähliger, aber gut erhaltener Militärmäntel und Wollhemden, theilweise zu sehr billigen Preisen, theilweise auch unentgeltlich; diese mußten vielen Armen den nächtlichen Schutz ersetzen, den ihnen früher ihre Betten gewährten, denn an diesen ist der größte und empfindlichste Mangel – namentlich für Alte, Kranke, Frauen und Kinder an der rauhen Küste und gegenüber dem nahenden Winter. Dringend bittet das Comité besonders um Strümpfe, derbes Fußzeug, Betten, Mobilien, Naturalien (besonders fehlt es an Kartoffeln, Korn und Brennmaterial!), hauptsächlich Kaffee, um verheerenden Krankheiten unter der Masse der Armen vorzubeugen.
Eine Veröffentlichung vom 18. December setzt als Norm bei Schadenanmeldung und Vertheilung fest, daß kein Unterschied der Politik und Religion gelte, daß es für das Comité nur nothleidende Menschen gebe. Als eine Hauptsorge wird aufgestellt, Denen, bei welchen es möglich, wieder zum Selbsterwerb ihres Brodes zu verhelfen. So wurde einem jungen Mädchen, das ihre alte Mutter durch Clavierunterrichtgeben ernährt hatte, ihr zertrümmertes Instrument wieder ersetzt, – natürlich ohne daß deshalb die zahlreichere arme Einwohnerschaft, welche zwar viele, aber nicht große Posten erfordert, verkürzt worden wäre.
Ein Brief aus Burg auf Fehmarn klagt bitterlich über die großen Transportkosten über Land für die Naturaliensendungen. Sollte für solche Frachtstücke noch keine Erleichterung namentlich auf Eisenbahnen gegeben sein? – Wo die Mildthätigkeit selbst die Kinderherzen ergreift, müßten die Alten doch in jeder Beziehung mit gutem Beispiele vorangehen. In Osterburg haben die Kinder eine Pfennigsammlung in den Schulen veranstaltet, um den durch die Sturmfluth ihrer Eltern beraubten Waisen eine Weihnachtsfreude zu bereiten, und es gelang ihnen. Diese Bescheerung kam auch dem armen Knaben Fritz Kruse zu Gute, dessen wunderbare Rettung wir in Nr. 49 der Gartenlaube erwähnt haben. Der Pastor K. Trede in dem arg verwüsteten Großenbrode am Fehmarnsunde, wo vierzig arme Taglöhner- und Fischerfamilien obdach- und brodlos geworden [72] und große Strecken Ackerlandes mit der Wintersaat vernichtet sind, beschreibt uns den furchtbaren Anblick, als er von seiner hochgelegenen Wohnung aus das Häuschen des Lootsen Kruse mit der jammernden Familie in’s Meer hinaustreiben sah. Der gerettete Knabe ist jetzt einstweilen beim Lehrer und Organist Rufer in Burg untergebracht. Der wackere Junge will trotz seiner furchtbaren Meerfahrt Matrose werden. Hoffentlich fehlt es ihm nicht an helfenden Händen.
Die wahrhaft großartige Thätigkeit des schleswig-holsteinischen Centralcomité’s verdient möglichst bekannt und die Unterstützung desselben möglichst allgemein zu werden. Denn trotz alles Opferns und Mühens sah das Centralcomité sich noch am 6. Januar dieses Jahres genöthigt, in einem directen Schreiben an die Redaction der „Gartenlaube“ Klagen zu erheben, die wir nicht verschweigen wollen. Da heißt es u. A.:
„Wenn in Nr. 52 der ‚Gartenlaube‘ darauf hingedeutet wird, daß Schleswig-Holstein wieder als Stiefkind behandelt werde, so ist diese Behauptung leider nur zu bestätigen. Amtlich ist festgestellt, daß von dem Gesammtschaden, welcher die Ostseeküsten betroffen hat, über Dreiviertel auf Schleswig-Holstein fällt; dagegen ist aber zur Deckung dieses Schadens von Deutschen außerhalb Schleswig-Holsteins sehr wenig, von der Regierung fast nichts geschehen. Es ist regierungsseitig nur eine Hauscollecte in Schleswig-Holstein angeordnet worden, deren Ertrag in die Regierungscasse abgeliefert werden mußte; darauf ist mit der Vertheilung ein sogenanntes Provinzialcomité betraut worden; dasselbe hat jedoch bis jetzt sehr wenig Thätigkeit entwickelt, vermuthlich, weil ihm ein Material und eine Vertretung, wie es das Centralcomité durch seine Bezirks- und Ortsdelegirten besitzt, fehlt. (Als eine Probe, wie das Provinzialcomité verfährt, wird aus Hisselgaard am 20. December geschrieben: ‚Von der officiellen Hauscollecte war nur so viel disponibel, daß an die Bedürftigsten vier Procent ihres Schadens ausbezahlt werden konnte, also keine Hülfe, ja kaum ein Handschilling.‘ Erst das Centralcomité half durch Sendung von fünfhundert Thalern und hinreichenden Bekleidungsstücken und Naturalien dort aus der äußersten Noth.) Daß die dem Provinzialcomité zugeflossenen Gelder in der Casse desselben so fest liegen, ist um so mehr zu beklagen, als diesem Comité auch die für Schleswig-Holstein bestimmten Gelder vom ‚Deutschen Hülfsverein‘ zugewendet werden. Letzterer hat sogar eine vom ‚Leipziger Comité‘ an das Centralcomité avisiere Summe von viertausend Thalern dahin dirigiert. Auch diese Sendungen sind bis jetzt nicht zur Verwendung gekommen.“ Dieses Schreiben ist, wir wiederholen es, vom 6. Januar datirt.
Alle diese Klagen finden wir ausführlich dargelegt in einem Artikel der „Altonaer Nachrichten“ vom 10. Januar, welcher die Frage beantwortet: „Welche Maßregeln hat die Regierung zur Unterstützung der Ueberschwemmten ergriffen?“ Wir verweisen aus Raummangel auf diese offene Darlegung, welche die Presse ohne Zweifel weiter verbreiten wird.
Uns aber wird man sicherlich nicht tadelnswerthe Absichten unterschieben, wenn wir, Angesichts dieser Kunde aus Schleswig-Holstein und in der Ueberzeugung, daß unsere sämmtlichen Geber mit uns eine möglichst rasche Wirkung ihrer Gaben wünschen, einen Theil unserer Eingänge dem Schleswig-holsteinischen Centalcomité direct zuwenden. Wir machen gleich heute den Anfang mit einer so eben flüssig gewordenen Summe von Eintausend Thalern.
Wir zweifeln keinen Augenblick daran, daß Deutschland seine Schuldigkeit in dieser Noth seiner Ostseebewohner thun wird. Freilich geht es langsam, weil – wir wiederholen es – die Summen der großen Geldhäuser fehlen. Desto eifriger wird Alles, was sich mit Stolz zum deutscher Volke zählt, dafür schaffen und sorgen, daß die bis jetzt leider gerechte Klage Schleswig-Holsteins in warme Anerkennung des redlichen Vaterlandsgefühls umschlage, das jetzt stärker ist, denn je.