Eine Studie (Die Gartenlaube 1885/36)
[596] Eine Studie. (Mit Illustration S. 593.) In der That, wie glücklich ist solch ein Maler dran! Ein armer Gelehrter, der zu seinem nächsten Werke Studien zu machen hat, läuft unter erschwerenden Umständen staubige Bibliotheken ab, wälzt Leder-, Papp- und andere Bände, deren einer ihn zum nächsten schickt, bis endlich die „Excerpte“ beisammen sind. Würdige Forscher hantiren zum Schaden ihrer Nase, wenn nicht ihrer Gesundheit, ja ihres Lebens, zwischen allerlei Laboratorienkram herum; es ist möglich, daß sie diese ihre Studien für die alleramüsantesten von der Welt halten. Allein die Männer der Wissenschaft hegen im Allgemeinen einen gewissen verrätherischen Groll gegen die Künstler, und ich möchte glauben, sie neiden ihnen ein wenig ihre Art, Studien zu machen unter „des Lebens goldenem Baume“! Es ist doch wohl ein reizvolles Ding, mit schönheitsdurstiger Seele und schönheitsempfindlichem Auge zu suchen, was die kurzlebige Welt Gefälliges bietet, um die Gestaltungskraft damit zu sättigen und das Flüchtige für die Dauer künstlerisch zu fesseln. Studien machen – für den Maler ist es ein Streifen durch die Natur, ein prüfendes Blickschweifen über Menschengesichter, ein bewußtes Sichverlieren in die geheimsten Toilettengeheimnisse von Naturreizen, um sie für das Gedächtniß zu notiren, es sei mehr oder weniger ausführlich. In ein Gesichtchen wie das, welches unser Bild wiedergiebt, sich zu vertiefen, ist nur zwei Menschen vergönnt: dem Geliebten und dem Maler. Dieses Gesichtchen, dessen Reiz die klassische Toilette des venetianischen Cinquecento hebt, wird eines Tages in Wirklichkeit Runzeln und Falten haben, und seine Zauber sind doch der Vergänglichkeit entrückt – im Bilde. Und im Bilde dürfen alle schönheitsempfänglichen Augen auf ihnen ruhen und sich bezaubern lassen. Der Maler erobert die Schönheit für die Menschheit: das macht den Werth seiner Kunst, das macht auch den Werth dieser „Studie“ aus. B. B.