Karl der Sechste
Die französischen Operncomponisten haben in jüngster Zeit manches Misgeschick gehabt, indem sie entweder an sich oder am Texte erlahmt sind.
Begierig greifen die deutschen Bühnen nach diesen neuen flitter- und flatterhaft glänzenden Erscheinungen, aber selbst die Deutschen haben die letzten Opern von Adam, Auber und Halévy nicht mit dem andauernden Beifall aufgenommen, wie ihre früheren. Möglich, daß dieser Fall immer bei Componisten eintreten muß, die mehr nach pikanten Effekten haschen, als die nachhaltige Wirkung des klassischen Geschmacks erstreben. Selbst die neuern Operntexte, worin die Franzosen im Allgemeinen so ausgezeichnet sind, kommen an Interesse den früheren nicht gleich. Dies muß man auch von der Oper Karl VI. sagen, von der man so große Dinge erwartete. Eine fünfaktige Oper! Ja, man läßt sich fünf Akte gefallen, wenn der Text von so steigendem Interesse, wie der zur Stummen von Portici und die Musik von so hinreißender Gewalt ist, wie die zur letztgenannten Oper. An wen haben die Herren Delavigne wol gedacht, als sie ihren Text zu fünf Akten ausdehnten? Gewiß an die pariser Banquiers, Seidenfabrikanten, Strumpfwirker und Gewürzkrämer, welche Muße haben, für ihr Eintrittsgeld möglichst viel sehen wollen und die Quantität der Qualität vorziehen. Doch blicken wir dieser Oper näher ins Auge! Die Hauptperson ist, wie auch der Titel anzeigt, Karl VI., dieser so unglückliche König des unter ihm so unglücklichen Frankreichs. Die Engländer herrschen zu Paris und in einem großen Theile des Reiches; der Herzog von Bedfort commandirt die französische Armee, gebietet im Namen Heinrich’s VI., und nur wenige Franzosen haben noch Muth, zu hoffen. Einer von ihnen ist der alte Raymond, der einen Meierhof bewohnt, früher Soldat war und lieber spricht, als handelt. Ja, er singt sogar, und der Schluß eines seiner Lieder lautet:
Und schlägt die Stunde der Befreiung,
Stimmt Alles in den Schlachtruf ein:
Krieg den Tyrannen! denn in Frankreich
Soll nie der Britte Herrscher sein!
Seine Tochter Odette, die ihn oft ermuthigt, zu handeln statt zu raisonniren, liebt einen Unbekannten, der oft um den Meierhof herumstreicht, ihr seine Liebe gestanden, ja sogar von Heirath gesprochen hat. Letzteres ist merkwürdig genug, da wir später erfahren, dieser Unbekannte sei kein Anderer, als der Dauphin, der spätere Karl VII. Odette wird in die Nähe des Königs gerufen, und jetzt singt Karl von der Ehrfurcht, in die sich seine Liebe verwandelt [29] habe; Odette solle ja rein bleiben und der Engel der Herrscher und des Vaterlandes sein u. s. w.
Im zweiten Akte erblicken wir die Königin Isabeau und den Herzog von Bedfort, welche unter festlichem Pomp
den Act vorbereiten, wodurch Frankreich für immer zu Englands Sklaven gemacht, und die Krone Karl’s VI. auf Heinrich’s VI. Stirn verpflanzt werden soll. Hierbei findet ein Concert, dann ein Ball, endlich ein Abendschmaus statt. Drei Pforten öffnen sich im Hintergrunde, ein Ceremonienmeister nähert sich, die Königin erhebt sich, reicht dem Herzog von Bedfort die Hand und singt:
Mylords und Herrn! die Tafel wartet unser!
Alle gehen hinaus, der Saal ist leer, da nähert sich ein Mann wankenden, langsamen Schrittes, sein Antlitz bleich. Vor der Pforte des Zimmers, wo das Banquet stattfindet, steht er still und ruft aus: Ich habe Hunger! Dieser Mann, welcher mit seinem Magen wie mit seinem Kopfe in Zwiespalt ist, ist der König von Frankreich selbst! Odette läßt ihn nicht lange allein; sie sucht ihn durch das Spiel zu zerstreuen, welches für diesen wahnsinnigen König erfunden ist, durch das Kartenspiel, spricht dabei mit ihm von seinem Sohne und erweckt dadurch nach und nach in ihm den Wunsch, seinen Sohn wiederzusehen. Dies hat sie allerdings dem Dauphin versprochen; aber sie schadet ihm, statt, wie sie glaubt, ihm zu nützen. Bald treten die Königin und Bedfort wieder ein. Karl zittert vor ihr und wird bleich. Die Königin begehrt, er solle den zwischen ihr und Bedford geschlossenen Vertrag unterzeichnen, vermöge dessen Heinrich VI. zum einzigen Erben des Königs von Frankreich erklärt wird. Er weigert sich, obgleich er von dem, was man von ihm fordert, nicht viel weiß; aber die Königin veranlaßt, daß Odette das Zimmer verläßt, und bemächtigt sich der Karten, die sie auf dem Tische bemerkt. Da verzweifelt das greise Kind, fängt an, von Freiheit zu singen und unterzeichnet, als Isabeau ihm sagt, er werde Odette und sein Spielzeug wieder erhalten. Dann setzt er sich, mit stumpfem Lächeln, wieder zum Spiel, während Bedfort ihm zur Seite mit lauter Stimme die Acte liest, wodurch der Dauphin enterbt wird.
Am folgenden Morgen wird Karl zu dem alten Raymond gebracht, sieht seinen Sohn wieder und erkennt ihn kaum. Ein Abgesandter der Königin ruft ihn aber eiligst zu einer feierlichen Ceremonie zurück. Angesichts von Paris, welches sich im Hintergrunde ausbreitet, wird für Karl und Isabeau ein Thron errichtet, zu dessen Füßen das Volk mürrisch, düster, unwillig sich drängt. Heute sollen die angemaßten Rechte Heinrich’s VI. proclamirt werden. Ein glänzender Zug nähert sich, Bedfort an der Spitze, der junge Heinrich vom Gefolge umgeben. „Wie schön ist doch das Kind!“ ruft Isabeau. „Aber ein Engländer,“ erwidert der König, der trotz seiner Verrücktheit doch manchmal ganz gute Einfälle hat. Isabeau verlangt weiter, er solle ihm, dem er schon das Diadem aufgedrückt, auch den Friedenskuß geben. „Ich? ich?“ ruft Karl. Er sei der Erbe, fällt ihm Bedfort ins Wort, welcher einst regieren soll. „Niemals!“ schreit der König. Das kommt freilich unerwartet. Isabeau kann nun nichts weiter thun, als den König in einen ganz Tollen verwandeln.
Der König ist allein und erwartet seinen Sohn, welcher sich in Paris eingeschlichen und Karl’s Befreiung vorbereitet hat, indem er auf ein gegebenes Zeichen durch ein Fenster in das Hotel Saint-Paul eindringen und den alten König entführen will. Plötzlich vernimmt er dumpfe, traurige, schreckhafte Töne! Er schaudert, er entsetzt sich. Ein halbnackter Mann, furchtbaren Ansehens, erscheint, derselbe, dessen Anblick im Walde von Mons seine Vernunft verwirrte. Auf dessen Wink erscheinen drei Gespenster, welche Clisson, Ludwig, des Königs Onkel, und Johann ohne Furcht darstellen sollen. Beiläufig bemerkt war aber Ludwig nicht, wie es im Texte heißt, sein Oheim, sondern sein Bruder; doch das thut nichts, der König ist zu erschüttert, um auf diesen historischen Irrthum zu merken, oder gar ihn zu widerlegen. Sie singen einen schrecklichen Rundgesang und rufen zuletzt aus, daß er wie sie durch Meuchelmord fallen werde und zwar von der Hand seines Sohnes. Nun ist der alte König vollständig wahnsinnig, und in einem Anfalle von Wuth liefert er seinen Sohn seinen Feinden aus. Doch um kurz zu sein! In dem entscheidenden Augenblicke, als, im Angesichte des Hofes, der Engländer und des Volkes, Karl VI. verlangt, daß sein Sohn verzichten solle, dringen Geharnischte aus der unterirdischen Kirche von Saint-Denis, befreien den Dauphin, und verschaffen dem alten Karl das Vergnügen, nicht blos als König, sondern auch als Troubadour zu sterben, indem er den schon citirten Refrain singt:
Der König lebe! denn in Frankreich
Soll nie der Britte Herrscher sein!
Diese von französischem Standpunkte aus patriotische Oper hat, wie man aus unserer Skizze sieht, einzelne pikante Situationen und sinnreiche Wendungen, ist aber dünn und unbefriedigend in der Intrigue, die einen zu schwachen Pfeiler abgibt, um das mächtige Dachwerk von fünf Akten stützen und tragen zu können. Der Musik von Halévy wirft man Einförmigkeit und Mangel an Melodien vor. Dagegen waren Costüme und Decorationen überaus pracht- und geschmackvoll. Besonders ist der große Zug im dritten Akte hervorzuheben, indem es dabei weder an Reiterei, noch Fußvolk und Artillerie fehlte. Die goldenen oder stählernen Rüstungen, auch der Pferde, verblendeten fast die Augen. Eine Ansicht von Paris und eine andere, welche das Innere der Kathedrale von Saint-Denis darstellt und von uns oben mitgetheilt wird, können beinahe als Kunstwerke gelten.
[30] Weniger als die Costüme und Decorationen, die nichts zu wünschen übrig ließen, befriedigte die Musik; man fand dieselben Mittel zu oft angewendet, die Rhythmen zu einförmig, die Melodie zu häufig der Declamation geopfert. Gesang und Recitativ ähneln einander zu sehr, so daß man, so viele einzelne Piècen Karl VI. auch enthält, fast nur eine einzige Pièce zu hören glaubt. Diesen Fehler konnte man schon der „Jüdin“ desselben Componisten vorwerfen, in Karl VI. aber tritt er viel störender hervor, und zwar bis zur Ermüdung und Abspannung, so daß die einzelnen trefflich ausgedrückten Empfindungen, zierlichen Melodien und sinnreichen Anwendungen der Instrumente im Allgemeinen keine Wirkung machen. Halévy versammelt seine Gäste um eine immer sehr reich ausgestatte Tafel, aber auf jeder Schüssel befindet sich dasselbe Gericht, und nicht immer hat der Koch sich auch nur die Mühe genommen, die Würze daran zu ändern.
Zu den anziehendsten Piècen der Oper gehört unter andern das Duett zwischen der Königin und Odette, welches freilich auch bald erlahmt, um sich erst am Schlusse wieder zu steigern; ferner das Duett zwischen Odette und dem Dauphin, welches neu und pikant und eins der gelungensten Stücke in der Oper ist; dann das Duett beim Kartenspiel, welches jedoch seine Wirkung vielleicht mehr der Sängerin, Mad. Stoltz, und der Scene selbst, als der Composition verdankt. Im dritten Akt zeichnet sich fast nur das Quatuor:
Dieu puissant! favorise
Notre sainte entreprise u. s. w.
durch Harmonie und Neuheit aus. Es ist ohne Orchesterbegleitung. Im vierten Akte ist vorzüglich die Arie der Odette zu nennen. Die Worte der drei Spukerscheinungen:
Ils tombirent tous trois assassinés jadis;
Tu périras de mème.
machen durch ihre treffliche contrapunktistische Behandlung eine gute Wirkung. Die originellste Pièce der Oper ist wol die kriegerische Arie Poultiers im Anfange des fünften Akts, die durch ihre pikante Lebhaftigkeit ungemein ansprach. Dagegen ist die Nationalhymne: „In Frankreich wird nie der Brite Herscher sein“, trivial und fast ohne Melodie. Nur der Chor, der die letzten Worte wiederholt, macht Wirkung durch die Masse der Stimmen, die den Refrain wenigstens zu einem gewissermaßen materiellen Leben steigern.